Für eine weniger beschissene Welt

Liebeskummer und Verwüstungen toxischer Beziehungen in griffigen Reimen verarbeiten, darin ist die 48-jährige Musikerin ganz groß. Etwa in „Tomáte el palo“, Miss Bolivias wohl bekanntestem Song, einem Dancefloor-Smasher mit empowernden Zeilen wie dieser: „Hola, mejor que mal acompañada, sola/Afuera hay 20 pibes haciendo cola“ (Hallo, besser Single als schlecht begleitet, draußen haben sich 20 Jungs angestellt).

Was hat es mit ihrem Künstlerinnennamen auf sich? Eine Theorie besagt, dass Paz Ferreyra in Buenos Aires eine Zeit lang in der Calle Bolivia wohnte. In einem Interview mit dem Magazin Soy im Jahr 2009 hingegen erzählt die Sängerin, dass sie nach Bolivien gereist war, wo die bolivianischen Frauen mit ihrer starken Verbindung zur Pachamama sie nachhaltig beeindruckten. Als Miss Bolivia mit ihrer typischen Mischung aus Rap, Gesang, Cumbia und Reggaeton fing die diplomierte Psychologin in den nuller Jahren an. Vorher war sie Schlagzeugerin in Rockbands. „Miss Bolivia gibt es seit 17 Jahren. Heute habe ich meinen eigenen Stil.“ So mancher Rockmusik-Kollege missbilligte ihren musikalischen Wechsel, Cumbia und Reggaeton waren damals noch als trashig verrufen. „Meine musikalische Laufbahn war nie am Erfolg ausgerichtet“, stellt Paz klar.

Anfang der nuller Jahre lebte Paz zeitweise in Mexiko-Stadt, wo sie als Kellnerin in einem uruguayischen Restaurant das meiste Trinkgeld einheimste. Zurück in Buenos Aires machte sie 2004 eine prägende Erfahrung: Sie arbeitete als psychologische Begleitung für Mütter, die in einem Leichenschauhaus ihre Kinder identifizieren mussten, die bei dem verheerenden Brand im Club Cromañon (Dezember 2004) gestorben waren.

Das sind nur zwei Schlaglichter aus einem intensiven Leben als (Lebens)künstlerin und Psychologin. „Mein anderer, heiß geliebter Beruf ist die Psychoanalyse beziehungsweise Psychologie allgemein“, erzählt Paz im Interview mit der ila. Anfangs war das Leben als Musikerin sehr prekär, manchmal hatte sie nicht einmal genügend Geld für den Bus, bekam bei ihrer Mutter Mittagessen und hielt sich mit Yoga-Unterricht über Wasser. Heute ist sie feministisches Vorbild für viele. In „No nos maten“ (vom Album Pantera) klagt sie Feminizide an. Und 2018, als die Mobilisierungen für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen einen ersten Höhepunkt erlebten, gehörte sie zu den Persönlichkeiten, die im Senat eindringlich für die Reform plädierten. Paz sprach dabei öffentlich von ihrer eigenen Abtreibung, die sie als damals 20-Jährige nur deshalb hatte durchführen können, weil sie über die entsprechenden (Geld)mittel verfügte.

Mit ihren Fans verbinde sie „eine liebevolle Dynamik“, wie Paz es nennt. Bei Liveshows landen auf der Bühne: „BHs, Unterhosen und Tangas, Blumen, Reisepässe, Personalausweise, Liebesbriefe. Einmal sogar die Besitzurkunde eines Hauses.“

Sexpositive Romantikkritik

Bereits auf ihrem ersten Album („Alhaja“- Juwel, 2010) hatte Miss Bolivia eine Menge Kollaborationen mit Kolleg*innen, unter anderem mit der Mexikanerin (und ehemaligen Kumbia Queers Sängerin) Ali Gua Gua und der Rapperin Sara Hebe. Mit El Remolón, Beatmaker vom Zizek-Label, produzierte sie „Jálame la tanga“ (Zieh’ an meinem Tanga), einen electropoppigen Partysong, in dem sie besitzergreifenden Kerlen eine Ansage macht.

Auf Miss Bolivias aktuellem Album „Bestia“ sind erneut viele Kollaborationen zu finden. Von den insgesamt neun Songs stammen lediglich die herzerwärmende Cumbia „Pekadora“ und der sexpositive Reggaeton-Track „Pikante“ ausschließlich aus Miss Bolivias Feder. „Dieses Album ist ein Gemeinschaftswerk, die einzelnen Teile funktionieren nur zusammen, wie bei einer Maschine. Oder wie bei einem Halbgott. Ich bin ein Fan von Mythologie, da gibt es Gestalten wie den Zentaur oder andere, die obenrum Stier, untenrum menschlich sind. Deshalb ist das Album mehr als nur die Summe seiner Einzelteile. Das Ergebnis ist eine superpositive Bestie mit Superkräften.“

Ein Großteil des neuen Albums ist während der Pandemie entstanden. „Auch mein Leben wurde von der Pandemie durcheinandergewirbelt, aber diese Zeit hat Widerstandskraft geschaffen“, erzählt Miss Bolivia. Sie selbst trennte sich 2020 von ihrem damaligen Mann Emmanuel Taub: Er hatte sie geschlagen. Auf Social Media zeigte Miss Bolivia Blutergüsse und blaue Flecken, um andere Menschen zu sensibilisieren. „Alle haben während der Pandemie unter Einsamkeit und Rezession gelitten. Ich habe versucht, das Beste aus der Situation zu machen, und meiner Kreativität beim Songwriting Raum gegeben.“

Das ist ihr gelungen. Der erste Track auf dem Album, „Amor“, ist eine Kollaboration mit dem Sänger Muerdo aus Gran Canaria. Ein fluffiger Sonntagmorgensong, der darüber sinniert, ob die aktuelle Affäre einer Definition bedarf: „Wenn das keine Liebe ist, was ist es dann?“ singen die beiden himmlisch zweistimmig. Die darauf folgende poppige Cumbia „Ke ganas de no verte nunca más“, ist die Cover-Version eines Klassikers von Valeria Lynch. Miss Bolivia trägt dieses Trennungslied zusammen mit Romea (Keyboarderin Flor von den Kumbia Queers) vor. Im Video zelebrieren sie mit anderen Freundinnen den Umzug und Neuanfang nach einer beendeten Beziehung: „Yo buscaba el amor ahí afuera y estaba acá dentro de mí. El llanto llegó a su fin, hay flores en el jardín.“ (Die Liebe sucht’ ich draußen, hab sie in mir gefunden. Das Weinen ist gelaufen, im Garten blühen Blumen).

Mit den Songs „Pekadora“ und „Soltera“ (zusammen mit der 30-jährigen Rapperin Cazzu) stellt sie das vorherrschende Narrativ der romantischen Paarbeziehung in Frage: „Ich bin Single, tanze die ganze Nacht durch, mir ist egal, was andere von mir denken.“ Im Interview mit der Zeitung La Nación sagt Miss Bolivia: „Die Idee der romantischen Liebe ist Betrug und ein bisschen veraltet. Sie ist ein kapitalistisches Werkzeug. Wir sollten neu über die Liebe nachdenken, sie weniger heteronormativ und weniger patriarchalisch betrachten, denn das bringt ein großes Machtungleichgewicht mit sich. Eine Vorstellung von Liebe, die das Romantische aufbricht, ist befreiender. Ich frage mich, ob der monogame Anspruch ad eternum heutzutage gesund ist. Das Thema taucht häufig in der Sprechstunde mit meinen Patient*innen auf. Wie können die Strukturen der romantischen Liebe, die so viele Krankheiten und Symptome mit sich bringen, überprüft werden?“

Das Lied „Menos Mierda“ hat Miss Bolivia zusammen mit der Band Perotá Chinguó geschrieben. „Den Videoclip dazu nahmen wir während der Pandemie auf, an einem Ort namens Villa Epecuén.“ Villa Epecuén war ein beliebtes Ausflugsziel an einem Stausee, bis der Ort 1985 nach lang anhaltenden Regenfällen überflutet wurde und viele Jahre lang unter Wasser lag. Durch den Klimawandel ging der Wasserspiegel in den letzten Jahren zurück. Der einst überflutete Ort mit seinen Ruinen ist wieder trockengelegt. Die verrottenden Überreste sind in der Zeit stehen geblieben. „Dort zu drehen war absolut magisch, eine fast schon dystopische Erfahrung. Ein Ort, der einst voller Leben und dann unbewohnbar war. Dort von einer Welt zu singen, die ‚weniger beschissen ist‘, hat was.“

Rebellisches Multitalent

Miss Bolivias Lieder navigieren durch unterschiedliche Gewässer: „Mal sind sie autobiografisch, mal fiktiv, mal schaffen sie einen Kanal für diejenigen, die kein Gehör finden. Fiktion ist ein großartiges Werkzeug, um die eher biografischen Inhalte mit den Geschichten anderer zu verknüpfen“, antwortet sie auf die Frage, wie viele eigene Erfahrungen in ihren Songs stecken.

Nach wie vor kombiniert Paz ihre beiden Berufungen. „Von montags bis freitags empfange ich meine Patient*innen in meiner Praxis, am Wochenende widme ich mich der Musik. Neben Miss Bolivia mache ich Audio- und Videoproduktion sowie Songwriting für andere Künstler*innen.“ Außerdem schreibt sie. „Gerade sitze ich an meinem dritten Buch. Ein eingleisiges Berufsleben würde mich langweilen, es gibt so vieles, das mich umtreibt. Im Moment spezialisiere ich mich in Psychotherapie mit Hilfe von psychedelischen Substanzen. Ich bin überzeugt: Mit psychedelischen Substanzen gestützte Psychotherapie ist die Zukunft vieler Praktiken im Bereich mentale Gesundheit.“

Wie sieht sie die Zukunft Argentiniens? Schließlich ist die aktuelle Regierung von Javier Milei nicht nur marktradikal, sondern auch antifeministisch und LGBTI-feindlich. Dazu sagt Miss Bolivia im Interview mit der ila: „Wir bleiben rebellisch und verteidigen die Kultur und die Rechte, die von den Generationen vor uns erkämpft worden sind. Das System will uns zwar dazu bringen, dass wir untereinander konkurrieren, aber wir arbeiten zusammen. Vor uns liegen noch viele Schlachten, und die werden wir nicht alleine gewinnen, sondern nur zusammen mit allen anderen. Und auf der Straße. Wir müssen jetzt auf die Straße gehen.“