Wenn in literarischen Diskussionsrunden gefragt wird, ob Literatur politisch wirken könne, wird das meist verneint. Mitunter wird konstatiert, bestimmte belletristische Texte könnten einer allgemeinen Stimmung Ausdruck verleihen und würden deshalb als politisch einflussreich wahrgenommen. In den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sah man das anders. Insbesondere die Kommunistischen Parteien beauftragten ihnen nahestehende Autor*innen regelrecht, mit literarischen Texten in politische Debatten einzugreifen, weil sie sich davon eine mobilisierende Wirkung erhofften.
Eine dieser Arbeiten, die tatsächlich einen enormen politischen Widerhall fand, war das Theaterstück „Cyankali“ des Schriftstellers, Arztes und Kommunisten Friedrich Wolf. Es hatte am 6. September 1929 im Berliner Lessingtheater Premiere und wurde in den folgenden Jahren in vielen deutschen Städten sowie in Österreich, der Schweiz, der Tschechoslowakei, Polen, Dänemark, Schweden, Frankreich, Bulgarien und der Sowjetunion aufgeführt.
Das Stück beschreibt die Konflikte von Hete, einer jungen Arbeiterin, die ungewollt schwanger wird. Als ihr Partner Paul wegen der Beteiligung an einem Streik seine Arbeit verliert, weiß sie nicht, wie sie ein Kind ernähren soll. Dann wird sie von ihrer Mutter auch noch aus der Wohnung geworfen. In ihrer Verzweiflung entscheidet sie sich für einen Abbruch. Doch ihr Hausarzt weigert sich, ihr zu helfen. Eine Frau, die im Verborgenen Abtreibungen durchführt, verlangt dafür mehr, als Hete bezahlen kann. Ein Versuch, mit Pauls Hilfe selbst abzutreiben, misslingt. Schließlich nimmt sie Cyankali in niedriger Dosierung und führt dadurch einen Abort herbei. Doch sie wird denunziert. Zudem hat sie sich bei dem Versuch, selbst den Abbruch vorzunehmen, eine Infektion zugezogen. Als sie bereits nicht mehr zu retten ist, erscheint ein Polizist, um sie festzunehmen. Der macht ihr ebenso wie der herbeigerufene Hausarzt Vorhaltungen. Zur Verhaftung kommt es nicht mehr, weil Hete während der Befragung stirbt.
Friedrich Wolfs Theaterstück traf 1929/30 offensichtlich den Nerv der Zeit. Die Menschen strömten in Scharen zu den Vorstellungen. Immer wieder verhängte Verbote lokaler Behörden taten dem keinen Abbruch. Mehrfach kam es nach Aufführungen zu spontanen oder von der KPD organisierten Demonstrationen. Es war die Zeit der Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und großer wirtschaftlicher Not. Eine Schwangerschaft bedeutete für viele Frauen eine Katastrophe. Doch ein Abbruch war in den meisten Fällen illegal – eine Entscheidung des Reichgerichts erlaubte seit 1926 Abtreibungen einzig, wenn der Fötus nicht lebensfähig oder das Leben der Mutter gefährdet war. Die große Mehrheit der Mediziner*innen weigerte sich zudem, die Eingriffe vorzunehmen, selbst wenn die medizinische Indikation gegeben war. So waren die ungewollt Schwangeren auf die ungeschulten Menschen angewiesen, die illegal Abtreibungen vornahmen.
Kam es bei einem solchen Abbruch zu Komplikationen, blieb den betroffenen Frauen nur die Wahl, Ärzt*innen aufzusuchen, was eine Anzeige und eine Haftstrafe bedeuten konnte, oder zu versuchen, sich mit Hilfe ihres Umfelds selbst zu therapieren, was bei schweren Infektionen aufgrund fehlender Medikamente und Erfahrung häufig zum Tod führte. Alice Rühle-Gerstel zitiert 1932 in ihrem Buch „Das Frauenproblem der Gegenwart“ Schätzungen, wonach es in den zwanziger Jahren in Deutschland jährlich etwa eine Million Abtreibungen gab. In etwa 50 000 Fällen kam es dabei zu Komplikationen, die ärztlich behandelt werden mussten. 10000 Frauen seien jedes Jahr nach Abbrüchen gestorben. 2000-3000 Frauen wurden wegen des Verstoßes gegen den § 218 verurteilt. (S. 350)
Nur ganz wenige Ärzt*innen unterstützten Frauen, die einen Abbruch wünschten. Dazu gehörten der erwähnte Friedrich Wolf sowie Else Kienle, die wie Wolf Anfang der dreißiger Jahre in Stuttgart praktizierte. Wenn Wolf Frauen eine sozial-medizinische Indikation bescheinigte, schickte er sie zu Else Kienle, die in ihrer kleinen Klinik den Eingriff vornahm. Im Februar 1931 wurden beide wegen des Verstoßes gegen den § 218 verhaftet.
Die Festnahmen waren eindeutig politisch motiviert, denn es gab auch – wenige – andere Ärzt*innen, die Indikationen bescheinigten und Abtreibungen vornahmen, aber Friedrich Wolf und Else Kienle waren auf Veranstaltungen immer wieder gegen den § 218 aufgetreten.
Wenn die rechten Kräfte jedoch geglaubt hatten, mit den Verhaftungen die wachsende Zahl der Gegner*innen des § 218 einzuschüchtern, lagen sie völlig falsch. Das Gegenteil war der Fall. Unmittelbar nach den Festnahmen initiierte die KPD, der Wolf, nicht aber Kienle angehörte, den „Kampfausschuß gegen § 218 und für die Verteidigung Dr. Wolfs und Dr. Kienles“, der binnen kurzer Zeit 800 Zweigkomitees in ganz Deutschland hatte. In allen größeren Städten gab es Solidaritätsveranstaltungen. An der größten dieser Kundgebungen im Berliner Sportpalast nahmen am 15. April 1931 fast fünfzehntausend Menschen teil.
Sehr aktiv in dieser Kampagne war Doris Dauber, die in der von Else Kienle geleiteten Stuttgarter Beratungsstelle des „Reichsverbandes für Sexualhygiene und Geburtenregelung“ arbeitete. Die 1897 in Würzburg geborene Journalistin hatte nach einem Studium der Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie und einer Dissertation über den Autor und Pazifisten Alfred Hermann Fried für das Feuilleton verschiedener Zeitungen und Zeitschriften geschrieben. Sie war bereits als junge Frau an Tuberkulose erkrankt, was damals noch nicht mit Antibiotika behandelt werden konnte. So musste sie immer wieder längere Zeit in Krankenhäusern und Sanatorien verbringen. Das führte zwar zu temporären Verbesserungen ihres Zustands, aber nicht zu einer Heilung, sodass sie zeitlebens gesundheitlich stark eingeschränkt war. Dennoch nahm sie ihre bereits während der Novemberrevolution 1918 begonnenen Aktivitäten in linken Zusammenhängen immer wieder auf. In ihrem erstmals 1945 in Buenos Aires erschienenen autobiografischen Buch „Eine Nacht, ein Leben“ schreibt sie dazu rückblickend: „Eigenes Leid kann man nur überwinden, indem man gegen fremdes Leid kämpft. Ich will mich einreihen in den großen Kampf der Masse gegen ihre Ausbeutung und Unterdrückung. Nur so, wenn ich für stärkere Gerechtigkeit in der Welt kämpfe, kann ich mich selbst überwinden, kann ich verhindern, daß das körperliche Leiden mich beherrscht, kann ich Sieger im Kampf gegen mein Schicksal werden.“ (S. 102)
Weiter schreibt Dauber, sie habe sich einer „kleinen politischen Gruppe“ angeschlossen und dann vielen „Organisationen mit Spezialaufgaben“. Letztere waren vor allem Gruppen, die gegen den § 218 aktiv waren. So war ihre Arbeit mit Else Kienle in der Sexualberatungsstelle weit mehr als ein Broterwerb, sie war vielmehr Teil ihrer politischen Tätigkeit. In ihrem Buch berichtet sie, dass sie häufig auf größeren Veranstaltungen zu dem Thema sprach und einmal nur mit Hilfe beherzter männlicher Genossen, die sie durch einen Hintereingang aus dem Saal bugsierten, einer Verhaftung entgehen konnte.[fn]Da es über das Leben und Engagement Doris Daubers bis zu ihrer Ankunft in Argentinien 1935 kaum Zeugnisse und zugängliche Dokumente gibt, beziehe ich mich, wie die wenigen anderen bisher veröffentlichten Skizzen über Dauber (Renate Wall: 1988; Beate Hock: 2016), im Wesentlichen auf ihre eigenen Aussagen im Buch „Eine Nacht, ein Leben“ (2. Aufl. 1950).[/fn]
Die Kienle-Biographin Verena Steinecke weist in ihrem Buch „Ich mußte zuerst Rebellin werden“, darauf hin, dass Friedrich Wolf und Else Kienle zwar eng zusammenarbeiteten, aber den § 218 doch unterschiedlich bewerteten. Für Wolf und die KPD war er vor allem ein „Klassenparagraph“, weil er in der Praxis arme und proletarische Frauen kriminalisierte. Dagegen habe Kienle darin eher „ein Instrument des Patriarchats zur Unterdrückung von Frauen, mit denen sie zur Mutterschaft und damit in ihre Rolle als Frau und Mutter gezwungen werden sollten“ gesehen. (S. 56) Wobei auch Kienle bei ihrer Verteidigung, etwa in einem Artikel in der Weltbühne vom 14. April 1931, die schwierige soziale Lage der Frauen, die einen Abbruch wünschten, in den Vordergrund stellte. Eine ähnliche Sicht dürfte auch Doris Dauber gehabt haben, sie bezeichnete ihr Engagement als „frauenrechtliche, soziale Frage, für deren Lösung ich mich einsetzte.“ (S. 108) „Frauenrechtlich“ und „sozial“ waren für sie gleichgewichtig und untrennbar verbunden.
Doch auch 1931 wurde der Kampf gegen den § 218 von vielen Frauen keineswegs nur als soziale Frage gesehen. Obwohl die Kampagne gegen den „Klassenparagraph“ im wesentlichen von der KPD und einigen kleineren Gruppen getragen wurde, erreichte sie auch bürgerliche Frauen, die nicht zum Umfeld der KPD gehörten. Ein Spitzelbericht der politischen Polizei bemerkte etwa, dass man an der Großveranstaltung im Berliner Sportpalast „nicht nur besser, sondern auch elegant gekleidete Frauen und Mädchen beobachten“ konnte.[fn]zit. nach: Friedrich Wolf. Die Jahre in Stuttgart, Ausstellungskatalog, Stuttgart 1981, Faksimile des Spitzelberichts auf S. 237[/fn]
Dass der § 218 keineswegs nur ein Problem ärmerer Frauen war, bestätigte auch die vielleicht radikalste feministische Denkerin der Weimarer Republik, die bereits erwähnte Psychologin und Schriftstellerin Alice Rühle-Gerstel. In ihrem Standardwerk „Das Frauenproblem der Gegenwart“ schreibt sie: „Es ist irrig zu glauben, daß vorzugsweise die ledigen Mütter oder Angehörigen proletarischer Schichten das Kontingent der Abtreibungen stellen.“ (S. 350)
Die breite Mobilisierung gegen ihre Verhaftungen erreichte, dass Friedrich Wolf und Else Kienle relativ schnell freikamen. Wolf wurde am 28. Februar 1931, nach neun Tagen Untersuchungshaft, gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt, Else Kienle blieb zunächst weiter inhaftiert. Am 20. März trat sie in den Hungerstreik. Nach acht Tagen Nahrungsverweigerung war sie körperlich so geschwächt, dass der Gefängnisarzt ihr Haftunfähigkeit bescheinigte und auch sie frei kam. Die Verfahren liefen allerdings weiter.
Allerdings bewirkte die Freilassung von Wolf und Kienle relativ bald eine Demobilisierung der Bewegung gegen den § 218. Zwar gab es zunächst noch zahlreiche Veranstaltungen. So fand die erwähnte Großkundgebung im Berliner Sportpalast statt, als Wolf und Kienle bereits nicht mehr in Haft waren, sodass beide dort sprechen konnten. Aber mit ihrer Freilassung war das erste Ziel der Kampagne erreicht, eine Abschaffung oder grundlegende Reform des § 218 erschien angesichts der 1931/32 immer stärkeren Rechtstendenzen wenig realistisch.
Schon 1931 war die NSDAP die stärkste Kraft im Spektrum der Gegner*innen jeglicher Reform des § 218. In ihren Presseorganen und auf ihren Veranstaltungen wurde eine regelrechte Hetzkampagne gegen Wolf, Kienle und deren Unterstützer*innen geführt. So war es kaum verwunderlich, dass diese nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten im Januar 1933 extrem gefährdet waren. Friedrich Wolf floh über Österreich, die Schweiz und Frankreich in die Sowjetunion. Else Kienle war bereits im Herbst 1932 nach Frankreich emigriert, weil wegen eines Todesfalls nach einem in ihrer Klinik durchgeführten Abbruch in Deutschland wieder nach ihr gefahndet wurde. Durch eine Ehe mit dem US-amerikanischen Geschäftsmann George LaRoe konnte sie in die USA weiterreisen.
Als die Nazis an die Macht kamen, lag Doris Dauber wieder einmal wegen ihrer Tuberkulose im Krankenhaus. Obwohl es ihr sehr schlecht ging, wurde sie nach einigen Wochen aus der Klinik verwiesen. In ihrer Autobiographie schreibt sie, ein Assistenzarzt habe ihr erklärt, „für Untermenschen wie sie“ sei „kein Platz in städtischen Anstalten.“ Am selben Tag erhielt sie „Besuch“ von SA-Leuten, die ihre Wohnung durchsuchten. Sie wusste, was ihr blühte, und nahm am nächsten Tag den Zug in die Schweiz. Von dort floh sie weiter nach Paris, wo sie sich in den folgenden 13 Monaten, immer wieder von ihrer Krankheit geplagt, als Haushaltshilfe durchschlug.
Da die NS-Justiz keine Chance hatte, an die inzwischen in den USA lebende Else Kienle heranzukommen, verlangte sie von Frankreich die Auslieferung Daubers, der sie nun die von Kienle durchgeführten Abtreibungen anlastete. Da es auch nach 1933 mit Frankreich ein für kriminelle Delikte gültiges Auslieferungsabkommen gab, drohte ihr zumindest die Verhaftung, auch wenn eine Auslieferung wegen des politischen Hintergrundes unwahrscheinlich war. Um dem zu entgehen, floh sie nach England. Dort wurde sie nach fünf Monaten ausgewiesen, weil sie zwischenzeitlich in Deutschland zum Tode verurteilt worden war. Eine „Kindsmörderin“ wollte man in Großbritannien nicht haben. Mit Hilfe der protestantischen Religionsgemeinschaft der Quäker, die sich damals wie heute für Flüchtlinge engagieren, konnte sie nach Irland fliehen. Doch auch dort war sie gefährdet, denn in dem katholischen Land, das zudem gute Beziehungen mit Nazideutschland unterhielt, war sie vor einer Ausweisung keineswegs sicher. Wieder waren es die Netzwerke der Quäker, die sie retteten und ihr 1935 die Überfahrt nach Buenos Aires ermöglichten.[fn]Die Angaben zu dem Auslieferungsbegehren, ihrer Ausweisung aus Großbritannien, ihrer Lage in Irland und der bevorstehenden Emigration nach Argentinien machte Doris Dauber im Februar 1935 aus Irland in einem Brief an den „Deutschen PEN-Club im Exil“ in London.[/fn]
Wie alle in Argentinien eintreffenden Flüchtlinge aus Nazideutschland musste sie zunächst sehen, wie sie ökonomisch überleben kannte. Soweit es ihre Gesundheit zuließ, machte sie verschiedene Bürojobs, arbeitete als Haushaltshilfe und als Toilettenfrau in einem Nachtlokal. Gleichzeitig begann sie wieder politisch tätig zu werden, schloss sich dem deutschsprachigen Arbeiterverein „Vorwärts“ an, engagierte sich in der Organisation „Das Andere Deutschland“ und schrieb gelegentlich für deren gleichnamige Zeitschrift. Diese Vereinigung linker Antifaschist*innen wurde von dem linkssozialistischen Pädagogen und Historiker August Siemsen geleitet. Siemsen war in Deutschland Reichstagsabgeordneter der SPD gewesen und hatte 1929 zu den Mitgründern von deren linker Abspaltung SAP (Sozialistischen Arbeiterpartei) gehört.
Als Doris Dauber 1947 in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) Deutschlands zurückkehrte, verabschiedete „Das Andere Deutschland“ sie in der Ausgabe vom 1. Juni 1947 (Nr. 143) mit folgenden Worten: „Von Anfang an bis heute gehörte sie zu den treuesten Freunden und Helfern des ‚Anderen Deutschland’. Im letzten halben Jahr gehörte sie auch dem Arbeitsausschuß an. Unsere besten Wünsche begleiten sie in die alte Heimat.“
In ihren DAD-Beiträgen schrieb Doris Dauber über sehr unterschiedliche Themen, etwa über die Lage der polnischen Arbeiter unter der NS-Besatzung oder nach ihrer Rückkehr über die Schulreform in der Sowjetzone. Als eine der wenigen DAD-Autor*innen griff sie auch Genderfragen auf. In der Ausgabe vom 1. Januar 1946 (Nr. 109) begrüßte sie in einem Artikel die längst überfällige Einführung des Frauenwahlrechts in verschiedenen europäischen Ländern und Japan und setzte sich dann mit der Argumentation mancher konservativer Autoren auseinander, die das kritisierten und zunächst eine staatsbürgerliche Erziehung der Frauen verlangten. „Erst nach einer solchen Vorbereitung“ schrieb sie sarkastisch „könnten die Frauen zeigen, ob sie in dem betreffenden Lande reif seien, das ‚Geschenk’ ihrer Befreiung zu erhalten.“ Die Kritiker des Frauenwahlrechts argumentierten unter anderem, in Deutschland, wo die Frauen seit 1919 wählen konnten, hätten vor 1933 weit mehr Frauen als Männer für die NSDAP gestimmt. (Das Männerwahlrecht wird heute, wo deutlich mehr Männer als Frauen für rechtsextreme Parteien stimmen, von Konservativen nicht in Frage gestellt…). Ihnen hält Dauber entgegen, dass viele Frauen in der Russischen Revolution auch ohne staatsbürgerliche Erziehung gewusst hätten, auf welcher Seite sie zu stehen hatten.
In Buenos Aires erschien 1945 ihr Buch „Eine Nacht, ein Leben“ im Exilverlag „Editorial Cosmopolita“. Es reiht sich ein in die vielen Texte, die Flüchtlinge in ihren Exilländern schrieben, um die Erfahrungen von Vertreibung, Flucht und (Über)Leben in der Fremde festzuhalten und zu verarbeiten. Manche taten das in belletristisch-verfremdeter Form, andere beschrieben ihre Geschichte, so wie sie sie erlebt oder vielmehr in Erinnerung hatten. Zu letzteren gehört Doris Dauber. Außer, dass sie die Namen verschiedener Personen, die ihren Lebensweg kreuzten, veränderte, scheinen die beschriebenen Erlebnisse authentisch zu sein, wofür auch spricht, dass August Siemsen, ein profunder Kenner der Zeitgeschichte und des antifaschistischen Exils, in seinem Vorwort ihren Schilderungen den Charakter von Tatsachen zuweist. Er hebt zudem die Bedeutung des Buches als Geschichte einer um ihre Emanzipation kämpfenden Frau hervor, die einerseits Erfahrungen beschriebe, die ein großer Teil ihrer Geschlechtsgenossinnen machte, und gleichzeitig eine singuläre, von Krankheit und frühkindlichen Traumata geprägte Selbstbiographie vorlege.
Wie bereits erwähnt, kehrte Doris Dauber 1947 nach Deutschland zurück und ging nach Leipzig. Dort begann sie als Journalistin, Lektorin und Übersetzerin zu arbeiten. Außerdem nahm sie wieder das Engagement auf, das für sie schon vor 1933 zentral war. In einem Brief an die Redaktion von „Das Andere Deutschland“ schrieb sie unmittelbar nach ihrer Rückkehr: „Ich bin vom Rat der Stadt (Leipzig – G.E.) in die Kommission ernannt worden, die alle Fälle von Schwangerschaftsunterbrechung zu entscheiden hat. Der berüchtigte Paragraph 218 ist hier ja abgeändert worden. In der Kommission sitzen ausser mir noch eine fortschrittliche Sozialfürsorgerin und ein reaktionärer Arzt, so dass meine Stimme im Sinne des Fortschritts entscheidend sein wird. Eine schöne Aufgabe.“ (Nr. 147, 1. Juni 1947)
1949 veröffentlichte Doris Dauber das Buch „Als ich drei Berufe hatte. Argentinien, wie es wirklich ist“. An verschiedenen Beispielen von der Wohnungssituation, über das Gesundheitswesen, die Kontrolle der Medien bis zur Situation der Frauen zeigte sie mit viel Humor, was in Argentinien im Argen lag. Dabei führt sie die meisten Probleme auf die „faschistische Diktatur“ Peróns zurück. Viele Flüchtlinge aus Europa sahen die Regierung Peróns sehr kritisch. Zum einen weil sie bestimmte Erscheinungsformen, wie der Führerkult und die Massenaufmärsche an die Nazis und andere europäische Faschisten erinnerten, zum anderen weil ihnen die Descamisados (Hemdlosen), die plebejischen peronistischen Anhänger*innen missfielen. Bei Dauber mag dazu gekommen sein, dass sie die Charakterisierung der argentinischen Kommunist*innen übernahm, die in Perón einen Faschisten mit sozialer Rhetorik sahen, der von Kirche, Kapital und Großgrundbesitz unterstützt würde.
Für mich deutet einiges darauf hin, dass dieses Buch Daubers ein Auftragswerk war. 1949 war die ökonomische Lage in West- und Ostdeutschland noch sehr schwierig. Es gab eine große Auswanderungswelle vor allem junger Menschen. Nach den USA gehörte Argentinien zu den beliebten Zielen der deutschen Wirtschaftsflüchtlinge. Vor allem in Ostdeutschland war man bestrebt, den Exodus junger Leute aufzuhalten. Da war ein locker und witzig geschriebenes Buch, das die Schattenseiten des begehrten Ziels Argentinien aufzeigte, sehr nützlich.
Außer Doris Dauber gingen aus dem engeren Mitarbeiter*innenkreis von „Das Andere Deutschland“ nur August und Pieter Siemsen bei ihrer Rückkehr nach Deutschland in die DDR. Beide wurden dort nicht glücklich. Vor allem August Siemsen war sehr enttäuscht, dass seine im Exil entstandenen Bücher in der DDR nicht wieder aufgelegt wurden, was angesichts der darin auch geäußerten fundierten Kritik an der Politik der KPD in den dreißiger Jahren nicht wirklich verwunderlich war. Doris Dauber scheint sich dagegen in der DDR wohl gefühlt zu haben, wie Briefe und auch ihr Nachwort in der Neuauflage von „Eine Nacht, ein Leben“ bezeugen. Dazu mag sicher beigetragen haben, dass sie zum ersten Mal seit ihrer Kindheit ökonomisch halbwegs abgesichert war und ihre Fähigkeiten gefragt waren.
Über ihre gesundheitliche Situation in der Zeit in der DDR konnte ich wenig finden. Lediglich in einem Brief von 1949 erwähnt sie, dass es in der Behandlung ihrer Tuberkulose noch keine Fortschritte gegeben habe. Offensichtlich hat sich ihr Zustand Anfang der fünfziger Jahre noch einmal verschlechtert. Doris Dauber starb 56-jährig am 3. Februar 1953 in Leipzig. In einer von ihrer Mutter und ihrer Schwester unterzeichneten Todesanzeige heißt es: „Heute wurde meine liebe Tochter, meine gute Schwester von ihrem schweren Leiden erlöst.“