Für Gesundheit und Gerechtigkeit

Der 1934 von den Nazis ermordete Schriftsteller und Anarchist Erich Mühsam hatte seiner 1949 posthum veröffentlichten Autobiographie „Namen und Menschen“ einst den Untertitel „Unpolitische Erinnerungen“ gegeben. Damit wollte er zum Ausdruck bringen, dass er seinen politischen Werdegang aus dem Manuskript weitgehend herausgehalten hatte, weil darüber schon genug geschrieben worden war und er in dem Buch vor allem von den Menschen erzählen wollte, die in seinem Leben wichtig gewesen waren. Während Mühsam also explizit „unpolitische Erinnerungen“ für die Veröffentlichung vorbereitet hatte, war es bei dem deutsch-jüdisch-chilenischen Arzt und Sozialisten Gunter Seelmann genau umgekehrt. Er gab seinem 2016 in Chile erschienenen Buch über sein Leben den Titel Memorias Políticas (Politische Erinnerungen). Seine private Geschichte hatte er schon 15 Jahre vorher aufgeschrieben, um sie seinen Kindern, Enkeln und anderen ihm nahe stehenden Menschen zugänglich zu machen.

Gunter Seelmann hatte von 1974 bis 1985 als politischer Flüchtling in Düsseldorf gelebt und im dortigen Chile-Komitee mitgearbeitet. Als seine Memorias Políticas in Santiago herauskamen, überlegten einige der Düsseldorfer Bekannten, die mit ihm zusammen im Komitee aktiv gewesen waren, Teile davon zu übersetzen, um sie einem hiesigen Publikum zugänglich zu machen. Ausgewählt haben sie dafür die Kapitel, die einen Bezug zu Deutschland hatten und „einige weitere, von denen wir denken, dass sie für die deutschen LeserInnen besonders wichtig sind“.

Gunter Seelmann wurde 1931 in Aachen geboren, die Familie, ursprünglich sefardische Juden, lebte schon seit vielen Generationen im Rheinland. Als kleines Kind erlebte er die antijüdische Hetze in seiner Heimatstadt. Als sein Vater nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wie viele jüdische Männer vorübergehend verhaftet und im KZ Buchenwald inhaftiert wurde, war den Seelmanns klar, dass sie nicht in Deutschland bleiben konnten. Zuerst flohen sie in die direkt an Aachen angrenzenden Niederlande. Nach zehn Monaten Aufenthalt dort hatten sie die notwendigen Papiere und Visa zusammen, um nach Chile zu emigrieren.

Dort lebten sie wie die meisten jüdischen Flüchtlinge zunächst in prekären Verhältnissen, konnten sich aber mit der Zeit eine Existenz aufbauen. Nach Abschluss der Schule studierte Gunter Medizin. Über eine linke zionistische Jugendgruppe kam er in Kontakt zur Sozialistischen Partei (PS) Chiles, der er als 21-Jähriger beitrat.

Nach dem Abschluss seines Studiums und seinem Praktischen Jahr in einer Tuberkuloseklinik begann er als Arzt zu arbeiten und übernahm erste Funktionen in der PS. Er hatte inzwischen geheiratet, auch seine Frau Hanni Grünpeter war politisch aktiv. Während der Regierungszeit Salvador Allendes und der Unidad Popular (UP) waren beide stark in deren politisches Projekt involviert, er als Arzt im öffentlichen Gesundheitswesen, Hanni Grünpeter als sozialistische Kommunalpolitikerin. Entsprechend gerieten sie nach dem Putsch gegen die UP-Regierung sofort ins Visier des Militärs. Gunter Seelmann wurde noch am 11. September 1973 verhaftet und für acht Monate auf der Insel Quiriquina inhaftiert.

Wiewohl er in den meisten Passagen des Buches von seinen eigenen Erlebnissen berichtet, tut er das in dem Kapitel über seine Haft in Quiriquina, er benutzt die Bezeichnung Konzentrationslager, ausdrücklich nicht, sondern spricht relativ abstrakt von den Demütigungen, der Folter und dem Leiden der Gefangenen. Offensichtlich war das persönlich Erlebte auch nach vier Jahrzehnten zu schmerzhaft, um direkt darüber zu schreiben.

Seine deutsche Herkunft half ihm, nach acht Monaten aus dem Lager Quiriquana herauszukommen. Nachdem sich die Bundesrepublik Deutschland bereit erklärt hatte, ihn aufzunehmen, wurde der „chilenische Staatsbürger Gunter Seelmann Erlenbach“ aus dem chilenischen Staatsgebiet ausgewiesen.

Wie für die meisten Flüchtlinge war das Einleben im Exilland und das Verarbeiten der vor der Flucht gemachten Erfahrungen auch für Seelmann nicht einfach. Er betont aber, dass es ihm und seiner Familie, die ihm einige Monate nach seine Abschiebung nachreisen konnte, ganz gut gelungen sei. Dabei half ihm, dass er zweisprachig war, was zudem seinen beruflichen Einstieg als Arzt enorm erleichterte. Sehr wichtig sei aber auch die bundesdeutsche Chilesolidarität gewesen, sowohl deren politische Arbeit als auch viele kleine Gesten, wie etwa der Kühlschrank, den ein befreundetes Paar aus der DKP seiner Familie geschenkt hatte.

1985 – die Diktatur sollte nach fünf Jahre dauern, bot sich ihm die Möglichkeit, nach Chile zurückzukehren. Sein Namen stand auf der Liste derer, die wieder einreisen durften, und die NRO PIDEE (Schutz für die durch Ausnahmezustände geschädigten Kinder) bot ihm eine Anstellung als Arzt an. Obwohl er persönlich, beruflich und politisch in Düsseldorf integriert war, zögerte er nur kurz, bevor er das Angebot annahm. Die ersten Jahren in Chile waren nicht einfach, weil PIDEE unter Beobachtung stand. Die Büros der Organisation wurden mehrfach durchsucht.

Nach dem Rückzug der Militärs und der Regierungsübernahme durch eine Zivilregierung im Jahr 1990 begann Gunter Seelmann wieder im Öffentlichen Gesundheitswesen zu arbeiten. Wie schon bei PIDEE stand dabei die Arbeit mit benachteiligten Kindern im Mittelpunkt. Zwischen 1994 und 1998 war er Berater der sozialistischen Senatorin María Elena Carrera in Gesundheits- und Umweltfragen.

Die deutschsprachigen „Auszüge aus den Politischen Memoiren“ von Gunter Seelmann bieten spannende persönlichen Einblicke in wichtige Kapitel der deutschen und chilenischen Geschichte. Das einzige, das ich bei der Lektüre bedauerte, war, das ich die jeweils vermerkten fehlenden Kapitel aus der spanischen Originalausgabe nicht lesen konnte. Ich hätte gerne noch mehr drüber gewusst, wie Gunter Seelmann die Allende-Zeit erlebt hat oder wie er die Niederlage der UP analysiert. Aber schon so war es sicherlich ein Kraftakt, die Auszüge aus dem Buch zu übersetzen, zu layouten und im Internet zugänglich zu machen. Dafür ein herzlicher Dank den daran Beteiligten.