Als erfolgreichster Film aus Lateinamerika bei der diesjährigen Berlinale trat die Produktion La Demora (Uruguay/Mexiko/Frankreich 2012) von Rodrigo Plá hervor, der in der Sektion Forum gezeigt wurde. Der Film des Regisseurs, dessen Film La Zona 2007 bereits in den deutschen Kinos lief, wurde sowohl mit dem Forum-Preis der Ökumenischen Jury als auch mit dem Leserpreis des Tagesspiegel ausgezeichnet.
La Demora erzählt eine unglaubliche Geschichte: Als der alleinerziehenden Mutter María (grandios verkörpert von Roxana Blanco) Kinder, Arbeit und der demenzkranke Vater Agustín (ebenso hervorragend: Carlos Vallarino) über den Kopf wachsen, lässt sie an einem Nachmittag letzteren auf einer Parkbank sitzen und setzt ihn damit aus, damit er – so ihre Hoffnung – von der Polizei in ein staatliches Heim gebracht werde. „Eine tragische und alltägliche Geschichte wie diese würde es wohl nicht mal als Kurzmeldung auf die Lokalseite schaffen“, steht dazu im Programmheft zur Berlinale.
Der Film erzählt von nur zwei Tagen im Leben dieser Kleinfamilie, in deren Zentrum die Mutter steht. Der erste Tag allein genügt, um die Überforderung der frühzeitig gealterten Frau aufzuzeigen und ihr Verhalten – so unbegreiflich dieses auch sein mag – verstehbar zu machen: Mit ihren Näharbeiten verdient sie kaum genug Geld, um die fünfköpfige Familie zu versorgen und der Tochter auch noch einen Schulausflug zu ermöglichen. Für einen Platz im Altenheim reicht das Einkommen erst recht nicht, aber für die staatliche Unterstützung ist die Familie nicht arm genug. Marías müde Blicke und die im Gesicht festgeschriebene Resignation werden immer wieder in Großaufnahmen betont, die häusliche Stimmung durch eine konsequente Farbdramaturgie unterstrichen: Grau- und Brauntöne bestimmen den Film.
Meisterhaft hält Plá die Spannung, wenn er zwischen den von Gewissensbissen geplagten Handlungen der Mutter und dem verzweifelt hoffenden Beharren von Agustín hin und her schneidet. Während María sich schließlich auf die Suche nach dem ausgesetzten Vater macht und alle Obdachlosenheime der Stadt abfährt, bleibt dieser hartnäckig auf der Parkbank sitzen und erklärt immer wieder und wohl am meisten sich selbst: Seine Tochter werde ihn schon abholen, es sei bestimmt etwas passiert, es sei sicher etwas mit den Kindern; er aber müsse hier sitzen bleiben, damit sie sich ja nicht verpassten. Dadurch wird der innere Kampf der Protagonistin noch verdeutlicht und nachempfindbar gemacht. Ein durchweg bewegender Film.
Die beiden anderen Filme des Forums waren eher enttäuschend. Salsipuedes (Argentinien 2012) von Mariano Luque zeigt einen Ausschnitt aus dem Leben eines Ehepaars. Er deutet Probleme und Aggressionen an, bleibt insgesamt aber zu vage. Am Ende wird man die Frage nicht los: Worum ging’s eigentlich?
Auch beim Dokumentarfilm Escuela Normal (Argentinien 2012) von Celina Murga fragt man sich schnell, wie dieser es in die renommierte Sektion schaffen und noch dazu eine Lobende Erwähnung durch die Jury des Caligari-Filmpreises erhalten konnte. Der Film montiert verschiedene Sequenzen aus dem Schulalltag einer escuela normal, einer Oberschule in Paraná, zusammenhanglos aneinander. Sie möchte einfach nur, so betont die Regisseurin, das Leben dieser Schule einfangen. Dass während der Dreharbeiten gerade die Wahlen zur Schülervertretung abgehalten wurden, nahm Murga zum Anlass, einen Film über die politische Jugend Argentiniens zu machen – was im Vorfeld auch immer wieder als der Kern des Films bezeichnet wurde. Und so nimmt Escuela Normal zwar zunächst das vermeintlich politische Engagement von SchülerInnen in den Fokus, doch verliert sich die Dramaturgie des Films kurz nach der Auszählung der Stimmen im Wirrwarr anderer Alltagsszenen, und die Wahl verharrt im bedeutungslosen Nirgendwo.
Ein guter Dokumentarfilm braucht nicht unbedingt einen Kommentar, zumindest jedoch ein erkennbares Anliegen oder Ziel. Escuela Normal ist, so scheint es, vor allem deshalb entstanden, weil die Regisseurin selbst Schülerin an der im Film präsentierten Schule war. Der Film ist darüber hinaus weder besonders originell noch berichtet er viel vom argentinischen Heute. Er zeigt eine gewöhnliche Schule – weshalb der im Ausland leicht zweideutig anmutende Titel ganz passend ist –, dies jedoch auf äußerst unspektakuläre Weise.
Umso erfrischender fielen die Filme der Sektionen auf, die sich dem Thema „Generation“ widmeten und die aufgrund ihrer relativen Stärke die eigentlichen Gewinner unter den lateinamerikanischen Beiträgen auf der Berlinale darstellten. Generation Kplus zeigte den Film Pacha (Bolivien/Mexiko 2011) von Héctor Ferreiro; die Sektion Generation 14plus hatte gar vier (von insgesamt 15) Spielfilm-Produktionen und einen Kurzfilm aus Lateinamerika im Programm: Joven & Alocada (Chile 2011) von Marialy Rivas, Nosilatiaj. La Belleza (Argentinien 2011) von Daniela Seggiaro, Un Mundo Secreto (Mexiko 2012) von Gabriel Mariño, Una Noche (USA/Kuba/GB 2012) von Lucy Mulloy und der brasilianische Kurzfilm L (Brasilien 2011) von Thais Fujinaga.
Joven & Alocada dokumentiert das Leben der 17jährigen Daniela und zeigt mit seiner Energie am besten, was die junge Filmszene in Lateinamerika bewegt. Daniela wächst in einer streng gläubigen Familie auf und nennt ihre Gemeinde nur „meine evangelische Sekte“. Wer den Glauben an den in Predigt und Gebet vermittelten Gott nicht teilt, wird verbannt – so wie Danielas ältere Schwester. Als herauskommt, dass Daniela außerehelichen Sex mit einem Mitschüler hatte, fliegt sie von der Schule und muss fortan im gemeindenahen Fernsehsender arbeiten. Dort freundet sie sich mit Antonia und gleichzeitig mit Tomás an – und verliebt sich in beide. Sie küsst beide und sie schläft mit beiden. Und sie schreibt darüber in ihrem Blog Joven & Alocada und lässt die Blog-Gemeinde an ihrem sexuellen Doppelleben teilhaben.
Das Thema Sexualität scheint allgegenwärtig in Danielas Leben und ist damit nicht untypisch für einen Film aus Chile der Nuller Jahre. Nachdem sich der chilenische Film nach dem Ende des Pinochet-Regimes erst wieder neu konturieren musste, viel an Erinnerungsarbeit geleistet und sich über die Komödie auch an das Thema Sexualität herangewagt hat, geht die jüngste Generation der FilmemacherInnen frei damit um. Neben eindeutigen Sexsequenzen werden immer wieder gemalte Illustrationen präsentiert, die Danielas Blog bebildern und zeigen, wovon sie spricht. Und allein das freizügige Sprechen über Masturbation, gleichgeschlechtliche Liebe und sexuelle Unsicherheiten deuten auf einen selbstbewussten jungen Film.
Joven & Alocada, der im Januar auf dem Sundance Festival prämiert wurde, besticht durch ein raffiniertes Drehbuch, das die Handlung geschickt mit dem Blog-Tagebuch verwebt und dadurch an Tempo gewinnt. Das Schreiben des Blogs wiederum wird nicht nur vertont, sondern auch im Bild und zusätzlich in Schrift und Illustrationen gezeigt. Hier treffen die Neuen Medien auf den Film, werden kunstvoll übereinander gelegt und erschaffen eine innovative Leinwandnarration.
Un Mundo Secreto stellt ebenfalls ein junges Mädchen (faszinierend: Lucía Uribe) ins Zentrum. María hat den allerletzten Schultag hinter sich gebracht und will nur noch weg – von ihrer Mutter, ihrem Zuhause, der Stadt. Am Nachmittag packt sie ihren Rucksack, um sich bei Nacht davonzuschleichen. Erst am darauffolgenden Nachmittag ruft sie ihre Mutter an, um mit einer Lüge ihr Verschwinden zu erklären.
María hat viele Geheimnisse, die sie nur ihrem Tagebuch anvertraut. Erst als sie sich auf der Reise mit Juan anfreundet, kann sie sich ein wenig öffnen. Während sie sonst häufig zwei Tage mit niemandem ein Wort wechselt, erzählt sie dem fremden Jungen von ihren geheimsten Träumen. Es ist auch mit Juan das erste Mal, dass sie beim Geschlechtsverkehr lächelt und ihn nicht wie die anderen Männer über sich ergehen lässt, sondern die Nähe zu ihm genießt.
Nicht nur das Schreiben verbindet also die Protagonistinnen der beiden Filme, sondern auch das Thema Sexualität. Un Mundo Secreto kommt insgesamt – und charakteristisch für viele mexikanische Filme – mit wenigen Worten aus, Joven & Alocada dagegen ist ein verbales Feuerwerk. In Un Mundo Secreto überwiegen kunstvolle Bilder und lange Einstellungen, während der Film aus Chile durch schnelle Schnitte gekennzeichnet ist. Beide Filme erzählen vom Erwachsenwerden junger Mädchen in einer ihnen fremden Welt. Sie wählen unterschiedliche Zugangsarten, machen jedoch stets das Intime deutlich, offenbaren die Sorgen und Sehnsüchte der Jugendlichen und fügen sich wie selbstverständlich in das Schaffen der jeweiligen Filmnation ein.
Natürlich bringt es eine Sektion wie Generation 14plus mit sich, dass die Filme junge Menschen zu ihren Hauptfiguren machen. Dennoch scheint dies auch eine aktuelle Tendenz im lateinamerikanischen Filmschaffen zu sein. Es sind die Geschichten der Jungen, welche die FilmemacherInnen bewegen. Der Blick nach vorne, der Blick auf die jungen Generationen bestimmt viele Filme, wie ebenso das Kurzfilmprogramm deutlich macht. Dies mag auch daran liegen, dass es viele junge RegisseurInnen auf die Berlinale geschafft haben und etablierte RegisseurInnen wie Rodrigo Plá oder Claudia Llosa eher die Ausnahme sind.
Llosa, die Berlinale-Preisträgerin von 2009, war in diesem Jahr mit einem 20-minütigen Kurzfilm, Loxoro (Spanien/Peru/Argentinien/USA 2011), vertreten und erhielt auch wieder einen Preis: den Teddy Award, „der bedeutendste queere Filmpreis der Welt“, für den Besten Kurzfilm. Wieder hat sich Llosa eine spezielle Gruppe ausgesucht: die Transsexuellen in Peru, die eine eigene Sprache, das Loxoro, sprechen und die Llosa gekonnt portraitiert. Ebenfalls im Berlinale Shorts-Programm vertreten waren Licuri Surf (Brasilien 2011) von Guile Martins, der eine Lobende Erwähnung der Kurzfilmjury erhielt, Nostalgia (Venezuela 2012) von Gustavo Rondón Córdova und La Santa (Chile 2012) von Mauricio López Fernández.
Die Sektion Panorama zeigte insgesamt drei Filme aus Lateinamerika. Die Spielfilme Xingú (Brasilien 2011) von Cao Hamburger und Chocó (Kolumbien 2011) von Jhonny Hendrix Hinestroza erwiesen sich eher als „klassische“ Filme aus und über Lateinamerika, während die Untersektion Panorama Dokumente die eindrucksvolle Produktion Olhe Pra Mim de Novo (Brasilien 2011) im Programm präsentierte. Der Dokumentarfilm von Kiko Goifman und Cláudia Priscilla portraitiert den Transsexuellen Silvyo Luccio, der, so sagt er selbst, zuerst eine Frau war und den Namen Núcia trug, dann lesbisch und schlussendlich ein Mann wurde. Olhe Pra Mim de Novo überzeugt nicht nur durch seinen sympathischen Protagonisten, der dann auch zusammen mit dem Filmteam zur Berlinale angereist war und noch einmal über seine Erfahrungen als Frau und Mutter und die Umwandlung zum Mann sprach. Darüber hinaus gelingt dem Regie-Duo eine überzeugende Mischung aus Roadmovie und persönlicher Geschichte, die mit dem Blick auf Nebenfiguren, die ähnliches erlebt haben wie Silvyo, geschickt aufgefüllt wird. Intime Nachrichten auf dem Anrufbeantworter vervollständigen im Filmdas mehr als gelungene Portrait dieser außergewöhnlichen Person.
Mit Xingú lieferte Cao Hamburger einen Lateinamerika-Film, wie man ihn sich gerne in Europa anschaut. Der Film erzählt die Geschichte der drei Villas-Boas-Brüder, die in den 1940er Jahren das brasilianische Hinterland entlang des Flusses Xingú erschlossen und das erste indigene Schutzgebiet Südamerikas gegründet haben. Claudio, Orlando und Leonardo träumen ihr Leben lang davon, „Erde zu betreten, die niemand je zuvor betreten hat …[und] [d]orthin zu gehen, wohin niemand je gegangen ist“.
Dies ist auch der Anlass dafür, dass sie sich freiwillig für die Expedition „Roncador-Xingú“ melden und schließlich zu den Pionieren des Urwalds werden. Ein historisches Epos also, das einmal mehr einen Teil der kolonialen Geschichte des Kontinents in den Fokus nimmt, ohne jedoch einen allzu kolonialen Blick einzunehmen. Und einfach ein schön fotografierter und gut erzählter Film, der auch das Publikum für sich gewinnen konnte, das den Film für den Panorama-Publikumspreis auf den dritten Platz wählte.
Von anderer Art, aber ebenso – mit dem europäischen Auge – „typisch lateinamerikanisch“ ist Chocó. Titelheldin ist eine afro-kolumbianische Mutter in der Provinz, die sich für ihre Kinder zur Wehr setzt – gegen den eigenen Mann und die Ungerechtigkeiten einer patriarchalen Gesellschaft. Chocós Mann ist Musiker, verdient keinen Peso und gibt das wenige Einkommen, das sich Chocó in der Mine erarbeitet, für Schnaps aus. Als die siebenjährige Tochter Geburtstag hat und sich nichts sehnlicher als eine „richtige“ Torte wünscht, geht sogar ihr großer Bruder in die Mine und Chocó mit dem Betreiber des Dorfladens ins Bett, um dem Geburtstagskind den Wunsch zu erfüllen. Als Chocó dann entdeckt, dass ihr Mann das hart erworbene Schulgeld mitgenommen hat, hält sie es nicht mehr aus. Der Film lebt von seiner Protagonistin und einem bemerkenswerten Soundtrack, der von den Liedern der Dorffrauen bestimmt wird. Chocó führt das Leben auf dem Land und im dampfenden Dschungel vor und projiziert damit beeindruckende Bilder auf die Leinwand – ein Film, den man unbedingt auf der großen Leinwand sehen muss.
Insgesamt hat die Berlinale eine große Spannbreite des aktuellen lateinamerikanischen Filmschaffens in die Festivalkinos gebracht, so dass für jeden Geschmack etwas dabei war: Großstadterzählungen und Geschichten vom Land ebenso wie indigene Mythen (Nosilatiaj. La Belleza), Historisches, Politisches (Pacha) und vor allem Filme über die individuelle und intime Identität. Schade nur, dass es keiner der (zum Teil wirklich großartigen) Filme in den Wettbewerb geschafft hat.