Für die sozialen Bewegungen in Honduras waren seit 1980 drei Phasen entscheidend: der demokratische Übergang und die Demilitarisierung, die Demokratie im neoliberalen Kontext seit den 90er-Jahren und der Demokratieabbau seit 2009.
Der Übergang zur Demokratie verlief in Honduras anders als in den zentralamerikanischen Nachbarländern. Das Militär übergab zwar nach Verhandlungen mit den lokalen Eliten und den USA die zivilen Institutionen an die Regierung. Dieser Übergang „von oben“ stabilisierte wieder das Zweiparteiensystem, die Militärs behielten die eigentliche Macht jedoch für sich und die US-Botschaft. Von nationaler Souveränität konnte keine Rede sein; die Geschicke des Landes bestimmten vielmehr das US-Militär, die Contras, die gegen die Sandinist*innen in Nicaragua kämpften, sowie die salvadorianische Armee, die gegen die Nationale Befreiungsfront– FMLN in El Salvador kämpfte. Mit Repressionen, außergerichtlichen Hinrichtungen und dem Verschwindenlassen von politisch Aktiven stellte die honduranische Regierung die geforderte Stabilität her. Revolutionäre Prozesse, wie sie in den Nachbarstaaten aufkamen, konnten sich unter anderem deswegen in Honduras nicht entwickeln. Erst 1984, mit dem Sturz des damaligen Militärchefs, fingen in Honduras Organisationen an, sich zusammenzuschließen und gemeinsame Forderungen zu artikulieren. Ab 1986 erstarkten die sozialen Bewegungen. Angestellte des öffentlichen und privaten Sektors, Studierende der Nationalen Universität UNAH, Bäuer*innen sowie Lehrer*innen forderten Zugang zu Land, zu Bildung und die Einhaltung der Menschenrechte. Streiks, Demonstrationen und Besetzungen von öffentlichen Gebäuden und Straßen wurden zu Widerstandsformen. In diesem Klima von Repression und Aufstandsbekämpfung spielten Menschenrechtsorganisationen eine zentrale Rolle. Zu der Zeit gründeten sich CODEH (Komitee für die Verteidigung von Menschenrechten in Honduras) und COFADEH (Komitee der Angehörigen von Verschwundenen und Verhafteten), die auch nach dem Putsch wieder eine entscheidende Rolle einnahmen. COFADEH erreichte zum Beispiel 1986 mit einer Mahnwache vor dem Kongress und wiederkehrenden Mobilisierungen die Befreiung der politischen Gefangenen, die zuvor in einen Hungerstreik getreten waren. Organisationen und soziale Bewegungen waren zu entscheidenden Verfechtern der Menschenrechte geworden. Sie setzten sich gegen das gewaltsame Verschwindenlassen ein und demaskierten die politische Repression. Sie waren es letztlich, die mit ihrer beständigen Anklage die Grenzen der autoritären Macht aufzeigten.
Die Kämpfe konzentrierten sich auf die Forderung nach nationaler Souveränität und richteten sich gegen die militärische US-Besatzung und andere ausländische Truppen. Im Jahr 1988 fanden diese Kämpfe ihren Höhepunkt in einem großen, antiimperialistischen Protest. Ende der 80er-Jahre schlossen sich vor allem Bauernverbände und Gewerkschaften zur „Plataforma de Lucha para la Democratización de Honduras“ (Plattform zum Kampf für die Demokratisierung von Honduras) zusammen, die laut dem honduranischen Soziologen Eugenio Sosa zur größten einheitlichen Kraft im 20. Jahrhundert wurde. Die Plattform entwickelte ein Konzept zur umfassenden nationalen und demokratischen Entwicklung des Landes. „In den 80er-Jahren haben wir viel gelernt, aber es ist auch Trauer geblieben. Wir glaubten an die Idee, dass wir als Bewegung mit bewaffneten Kämpfen die Macht ergreifen könnten. Aber wir dachten nicht darüber nach, wozu wir die Macht nutzen wollten – genau wie heute”, erinnert sich die Liedermacherin und Aktivistin Karla Lara.
Der Forderung nach Demilitarisierung wurde von den sozialen Bewegungen Anfang der 90er-Jahre Nachdruck verliehen. Unter der Regierung Callejas (1990-1994) gab es zwar Bemühungen um eine Demokratisierung und Modernisierung des Staates, doch das Militär blieb weiterhin ein entscheidender Machtfaktor. Die jahrelangen sozialen Kämpfe und die große Mobilisierung gegen die Straflosigkeit, die 1991 nach dem Mord an der Studentin Riccy Mabel Martínez entbrannten, trugen dazu bei, dass unter Callejas die zivile Kontrolle über Schlüsselinstitutionen wiederhergestellt wurde und die polizeiliche Ermittlungsbehörde vom Militär getrennt wurde. Zwei Jahre lang gingen Menschenrechtsverteidiger*innen, Frauenorganisationen, Studierende und andere dafür auf die Straße. Ein breites Bündnis von Organisationen erreichte 1995 unter Einsatz von Fasten- und Hungerstreiks und Unterschriftensammlungen die Abschaffung des Militärdienstes. Als wichtige Errungenschaften aus dieser Zeit führt die Journalistin und Aktivistin Dina Meza außerdem die Schaffung einer Erinnerungskultur, die soziale Rehabilitation der Opfer und eine politisch bewusste Zivilgesellschaft an.
Die neoliberale Politik mit ihren zerstörerischen Folgen für die Bevölkerung führte zu Konflikten in der ganzen Region. Bereits Anfang der 90er-Jahre kämpften soziale Bewegungen in Honduras gegen die Strukturanpassungsmaßnahmen von Weltbank und IWF. Als Anfang der 2000er-Jahre die USA Freihandelsverträge mit Zentralamerika aushandelten, wurde auf regionaler Ebene mobilisiert. Mehr als 30 Organisationen in Honduras, vor allem Gewerkschaften, schlossen sich zum „Bloque popular Hondureño contra el TLC“ (Block gegen den Freihandelsvertrag) zusammen. Trotz Straßenblockaden, Demos und mehr als 18 000 Protestbriefen an die Regierung konnten sie den Freihandelsvertrag nicht verhindern. Bis zum Putsch 2009 hatten die Gewerkschaften das größte Mobilisierungspotenzial und bildeten den Kern der sozialen Bewegungen.
In den 90er-Jahren traten neue Akteure auf, die in den letzten Jahren prägend für die Zivilgesellschaft geworden sind: die indigenen Bewegungen. Vor allem die Lenca-Organisation COPINH (Ziviler Rat der Basis- und Indigenen-Organisationen) konnte mit ihrer Besetzung des Parlaments durchsetzen, dass Honduras im Jahr 1995 die ILO-Konvention 169 ratifizierte. Bis heute ist die Konvention die wichtigste Rechtsgrundlage für die Einforderung von indigenen Landrechten. Die Organisation OFRANEH der afro-indigenen Garífuna verteidigt auf dieser Basis das Land der Gemeinden, unter anderem mit Klagen vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte und Landbesetzungen. „Die ersten indigenen Kundgebungen waren für uns total fremd“, erinnert sich Karla Lara. „Für uns waren sie lediglich Bewegungen, die genau wie wir von den revolutionären Prozessen in den Nachbarländern angesteckt worden waren. Den Weitblick ihrer politischen Forderungen sahen wir zunächst nicht“.
Das Jahr 2009 markierte eine Zäsur in der Geschichte, weil mit dem Putsch demokratische Grundregeln gebrochen wurden. Der Weg zur Diktatur war geebnet. Die Nationale Partei machte nach und nach die hart erkämpften Errungenschaften, vor allem die Machtbeschneidung des Militärs, wieder rückgängig. Heute sichert die Armee in fast allen gesellschaftlichen Bereichen wieder ihre Interessen. Durch die massive Vergabe von Konzessionen sind ländliche und vor allem indigene Gemeinden von Landraub, Abbau von Ressourcen und der darauf folgenden Umweltverschmutzung betroffen. „In den 80er-Jahren gab es einen Feind, heute haben wir viele einzelne Kämpfe“, sagt Dina Meza. „Die Kämpfe von heute sind komplexer als in den 80er-Jahren.“ Die vielen Territorialkonflikte haben landesweit zu einer Ausweitung der Proteste geführt. Sie finden zwar vereinzelt statt, die dahinterstehenden Bewegungen sind trotzdem vernetzt. In der Gemeinde Guapinol beispielsweise werden die kriminalisierten Umweltaktivist*innen von städtischen Anwälten verteidigt und von Journalist*innen wie Dina Meza begleitet.
Einer der bekanntesten Territorialkonflikte ist derjenige der Lenca-Gemeinde Río Blanco, in der sich die Bevölkerung seit 2013 gegen das Staudammprojekt Agua Zarca zu Wehr setzt. In Río Blanco zeigte sich die Solidarität der städtischen Organisationen, die erkannten, wie wichtig die Verteidigung des Landes ist. Dazu Karla Lara: „Die Präsenz der Indigenen in der Hauptstadt bei den Demonstrationen gegen den Putsch hat unseren Diskurs und unsere Hoffnung stark beeinflusst. Berta Cáceres und die COPINH wurden von den Leuten plötzlich stärker wahrgenommen. Wir formulierten unsere Forderungen nach einer Verfassunggebenden Versammlung antikapitalistisch, antirassistisch, antipatriarchal und integrativ um. Das war neu.“
Die Forderung nach einer Neugründung von Honduras mit einer partizipativ erarbeiteten Verfassung ist in den aktuellen Kämpfen in den Hintergrund gerückt. Denn neben den zahlreichen landesweiten Protesten für die Verteidigung der natürlichen Ressourcen sind die Kräfte der sozialen Bewegungen vor allem in den Städten mit den Kämpfen gegen die Politik und Korruption der Regierung gebunden. Beispiele sind die Bewegung der Indignados, der Empörten, infolge der massiven Veruntreuung von Geldern des Sozialversicherungsinstitutes für Wahlkampagnen der Nationalen Partei im Jahre 2015, die Studierenden- und Schüler*innenproteste oder die Demonstrationen nach der verfassungswidrigen Wiederwahl von Juan Orlando Hernández sowie gegen den Wahlbetrug von 2017. Eine Vorreiterrolle spielte die MADJ (Breite Bewegung für Würde und Gerechtigkeit), die aus dem Hungerstreik der Staatsanwält*innen im Jahr 2008 gegen die massive Korruption hervorging.
All diese Protestbewegungen und auch die seit April dieses Jahres anhaltenden Demonstrationen gegen die geplante Privatisierung im Gesundheits- und Bildungswesen zeigen deutlich, dass die verschiedenen Sektoren der Zivilgesellschaft zusammenhalten und ein sehr hohes Mobilisierungspotenzial haben. Die „Plattform zur Verteidigung von Gesundheit und Bildung“, die in diesem Jahr von Gewerkschaften, Berufsverbänden und anderen Organisationen gegründet wurde, fordert mehr als nur ein Korrektiv der Politik: Sie stellt die Regierung von Juan Orlando Hernández (JOH) selbst in Frage. Der Ruf „Fuera JOH!“ (Verschwinde, JOH!) steht über allen gegenwärtigen Protesten.
Laut Eugenio Sosa richteten die sozialen Bewegungen bis in die 80er-Jahre ihre Forderungen an den Staat, danach fingen sie an, den Staat und die Regierung an sich zu hinterfragen. Diese Politisierung der Bewegungen und die generelle Infragestellung der Machtverteilung sieht Sosa als wesentlichen Grund für das Erstarken der Repressionen. Die aktuelle Straflosigkeit von Polizei und Militär, das Wegsperren von politischen Gefangenen in Hochsicherheitsgefängnissen sowie die Kriminalisierung von Umweltaktivist*innen belegen dies offensichtlich. Das „Neue“ an den Protesten besteht laut Eugenio Sosa darin, dass die Kämpfe zusammen mit lokalen, regionalen und nationalen Kräften geführt werden. Doch wie können die Veränderungen aussehen? Angesichts der extremen Repression bleibt heute, genau wie in den 80er-Jahren, wenig Zeit, um sich Gedanken über ein gemeinsames Konzept zu machen.
Die indigenen Organisationen COPINH und OFRANEH zeigen neben dem Widerstand gegen das System eigene Visionen des Zusammenlebens auf. Sie setzen auf einen bewussten Umgang mit Ressourcen, auf alternative lokale beziehungsweise regionale Wirtschaftskonzepte und ein Leben in Gemeinschaft. „Berta Cáceres hat eine große Lücke hinterlassen“, so Dina Meza. „Es wäre wichtig, an ihre Visionen anzuknüpfen.“ Karla Lara meint dazu: „Wir müssen uns dekolonialisieren, das Patriarchat als älteste Unterdrückungsform beseitigen und unsere indigenen Wurzeln anerkennen.“ Und das ist das eigentlich Neue an den heutigen sozialen Bewegungen: Die Indigenen sind im Gegensatz zu den 80er- und 90er-Jahren die Vorreiter*innen. Berta vive