In einem Interview von 2020 hast du gesagt, Ecuador sei auf dem Weg, zum neuen „Laboratorium des Neoliberalismus“ zu werden. In der Tat gibt es gerade eine Welle von Privatisierungen und Kürzungen. Was hat es damit auf sich?
In Lateinamerika gibt es gerade eine zweite Welle des Neoliberalismus. Chile war in den 1970ern das erste Land, in dem neoliberale Umstrukturierungen stattfanden, von dort aus breitete sich das Modell in den 1980ern und 1990ern in Lateinamerika aus. Das neoliberale Pauschalrezept bestand aus Strukturanpassungen, Verträgen mit dem Internationalen Währungsfonds, aggressiver Verschuldung, Sozialkürzungen, Abschaffung von Arbeitsrechten und Privatisierung. Das führte zu massenhafter Verarmung und wachsender Ungleichheit. In Ländern wie Chile, Peru, Kolumbien oder Mexiko wurden Gemeingüter privatisiert, während lokale, nationale und transnationale Eliten immer höhere Gewinne einstrichen. Gleichzeitig wurde die ganze Kultur und Mentalität neoliberalisiert. In Ecuador ist das nicht passiert und das haben wir vor allem der Stärke der indigenen Bewegung zu verdanken, die es in den 1990er-Jahren geschafft hat, große Teile der Bevölkerung politisch zu repräsentieren, die Schüler*innen- und Studierendenbewegung ebenso wie die Arbeiter*innenorganisationen. Mit ihrer enormen Mobilisierungsfähigkeit konnten sie einige Vorstöße für Strukturanpassungen stoppen. Auf der anderen Seite haben es die nationalen Eliten des Rohstoffexportsektors nicht geschafft, ein kohärentes nationales Projekt aufzubauen. Diese Kombination macht Ecuador zu einem für die Region ungewöhnlichen Land. Jetzt erleben wir aber eine zweite Welle des Neoliberalismus, die auch Ecuador trifft. Als Lenín Moreno Präsident wurde, befand sich das Land schon in der Krise. Zum Teil war sie durch die Politik der Vorgängerregierung ausgelöst worden, zum Teil ist sie aber auch typisch für eine Wirtschaft wie die ecuadorianische: dollarisiert, auf Rohstoffexport basierend und sehr wenig industrialisiert. Mit Moreno verschärfte sich die Situation. Das Krisengerede, es gebe kein Geld und alles sei ganz furchtbar, rechtfertigte Strukturanpassungen. Mit dem Dekret 883[fn]Das Dekret 883 war Teil eines Sparprogramms, das der IWF zur Bedingung für eine weitere Unterstützung des Landes gemacht hatte. Präsident Lenín Moreno wollte die seit vier Jahrzehnten bestehenden Subventionen für Treibstoffe streichen, als Teil eines milliardenschweren Sparprogramms.[/fn] im Oktober 2019 stieß diese Taktik an ihre Grenzen und es kam zu den zwölf Tagen des Aufstands und Nationalstreiks.
Aber die zweite Welle des Neoliberalismus zeigt sich auch in einer sehr repressiven Sicherheitspolitik, in Ecuador genauso wie in Chile oder Kolumbien. Anscheinend gibt es eine Sicherheitsstrategie für Lateinamerika, die einerseits auf neoliberalen Maßnahmen beruht, andererseits auf massiver Polizeipräsenz. Aber in Ecuador lassen sich solche Maßnahmen nicht einfach durchsetzen, denn die Bevölkerung setzt dem immer wieder Grenzen. Gerade sehen wir das an den Wahlergebnissen, die indigene Partei Pachakutik ist zweitstärkste Kraft geworden.
Das, woran die Eliten im Oktober 2019 noch gescheitert sind, hat dann aber die Pandemie geschafft. Während wir zu Hause saßen, konnten Strukturanpassungen umgesetzt werden, Sozialkürzungen, massenhafte Entlassungen, Änderungen des Arbeitsrechts. Dabei hatte der Privatsektor großen Einfluss auf die Entscheidungen der Handelskammern. Das ganze Land steckt in der Krise, aber der Agrarexportsektor verzeichnet 12 Prozent Wachstum. Das ist eine ganz klassische neoliberale Entwicklung.
Die Oktoberproteste, von denen du gesprochen hast, haben die Stärke der Frauen und der feministischen Bewegung auf Ecuadors Straßen gezeigt. Welche Rolle spielte in dem Kontext kollektive Fürsorge?
Ecuadors feministische Bewegung der letzten Jahre müssen wir uns im Zusammenhang mit der gesamten lateinamerikanischen Bewegung angucken. Wir bewegen uns nicht mehr nur in unseren kleinen Kreisen, unser Feminismus überflutet die Straßen! Wir reden nicht mehr von erster, zweiter, dritter Welle, sondern von einem Tsunami. Unser Feminismus überflutet, und zwar nicht nur zahlenmäßig, sondern in seiner emanzipatorischen, transformativen und kritischen Kraft. In Ecuador ist die feministische Bewegung seit 2015 massiv auf den Straßen sichtbar. Bei den Oktoberprotesten war sie jedoch gar nicht so präsent. Einige Feminist*innen schlossen sich dem Aufstand an, andere nicht. Natürlich haben Frauen den Widerstand mitgetragen, aber nicht die feministischen Organisationen als geschlossene Einheit. Was aber an den Oktoberprotesten deutlich wird, ist, dass wir Politik feministisch denken können. Im Aufstand haben wir gezeigt, dass wir als Frauen eine starke politische Kraft auf der Straße sind, in der Kinderbetreuung und den Gemeinschaftsküchen, aber eben auch in den ersten Reihen und in der politischen Diskussion. Am 12. Oktober haben die Frauen nach einem Aufruf der indigenen Verbände Ecuarunari und CONAIE ihre eigene Demonstration organisiert. Sie haben deutlich gesagt: Wir müssen weiter auf den Straßen bleiben, aber angesichts der Repression und der vielen Toten und Verletzten brauchen wir eine andere Logik.
„Wir verteidigen das Leben“ ist die indigene und feministische Formel von Care und feministischer Ökonomie. Wenn wir sagen, dass wir das Leben in den Mittelpunkt unserer Politik stellen, können wir jetzt nicht die nächste gewaltvolle Konfrontation mit der Polizei suchen, denn dann wird es noch mehr Verletzte und Tote geben. Wir Frauen haben stattdessen andere Stadtteile aufgesucht, um die kriegerische Logik der vorigen Tage, die ja auch wichtig ist, zu verändern und eine Art rebellische Pädagogik zu schaffen: Lasst uns dem Rest der Stadt erzählen, was wir gerade erleben und warum wir Widerstand leisten! Wir fordern ja nicht, dass Moreno gestürzt wird, sondern wir fordern, dass man aufhört, uns umzubringen. Wir fordern, dass das Dekret 883 zurückgenommen wird, und letztlich fordern wir unsere Würde. Das war ein Schlüsselmoment, denn hier haben wir der Fürsorge eine politische Dimension gegeben. Care bedeutet nicht mehr nur die materielle Reproduktion, sondern wird in einem umfassenden Sinne politisch. Wir sorgen füreinander, um unbequem und widerständig zu bleiben, um dauerhaft den Streik aufrechterhalten zu können. Dazu kommt, dass die Demo am 12. Oktober stattfand, am Tag der Eroberung Amerikas. Wir sagen: An einem der größten Genozide der Weltgeschichte gibt es nichts zu feiern. Dass die Frauen nun genau an diesem Tag ihre Demo machen, und zwar als Teil eines indigenen Aufstands, ist sehr symbolisch. Sie sagen damit: Wir wollen nicht mehr kolonisiert sein und wir wollen nicht mehr ausgebeutet werden. Insgesamt würde ich also sagen, es gab im Oktober 2019 eine Spaltung der feministischen Bewegung. Nicht alle gingen auf die Straße. Aber die, die sich am Aufstand beteiligten, stellten fest, dass nicht nur ihr Frausein sie vereint, sondern vielmehr ihre gemeinsame Position in der Weltgeschichte, der gemeinsame Platz in der Klassengesellschaft, die geteilte körperliche Rassismuserfahrung.
Im Oktober 2019 ging es also um mehr als Benzinpreise. Grundlegende Veränderungen wurden gefordert: die Logiken unseres Handelns zu verändern, die für den Aufstand notwendige gegenseitige Fürsorge in den Mittelpunkt zu rücken und Fürsorge zu etwas Politischem zu machen. Wie schafft man es aber, diesen Geist vom Oktober 2019 wachzuhalten? Welche Prozesse gibt es im Moment?
Tja, da liegt das Problem. Im Oktober schien eine feministische oder zumindest nicht-männliche Politik greifbar, aber dann hat uns die Pandemie zurückgeworfen in die Prekarität. Der Lockdown hat zwar auch dazu geführt, dass Fürsorge und Reproduktion in den Mittelpunkt gerückt sind, aber gleichzeitig hat er uns die politische Handlungsfähigkeit genommen. Es war ein Kraftakt, trotzdem irgendwie zusammenzubleiben. Unabhängig von der Person Yaku Pérez zeigt das Ergebnis der aktuellen Präsidentschaftswahlen, dass der Geist vom Oktober 2019 trotzdem präsent ist. Es ist beachtlich, dass ein Indigener das Gesicht der Unzufriedenheit sein kann, das Gesicht einer Alternative, die weder correista noch neoliberal ist, wobei die Oktoberproteste und der aktuelle Wahlausgang natürlich auch das Ergebnis von 30 Jahren unermüdlicher Mobilisierung sind. Das sind langjährige Prozesse, Bewegungsgedächtnis, Erfahrungen. Trotzdem, den Geist vom Oktober aufrechtzuerhalten, ist enorm schwer für uns. Im Plurinationalen Parlament der Frauen und Feministischen Organisationen, das sich im Dezember 2019 gegründet hat und bis vor einigen Monaten aktiv war, haben wir darüber auch gesprochen. Einerseits, wie erhalten wir den Geist vom Oktoberaufstand aufrecht? Andererseits, wie drehen wir ihn um? Bewegungen können nicht die ganze Zeit auf den Straßen kämpfen. Das ist eine männliche Perspektive auf Politik, die sehr kräftezehrend ist. Zur politischen Aktivität gehört auch die emotionale und materielle Fürsorge. Ja, wir müssen raus auf die Straße, wir müssen kämpfen, Forderungen stellen und Machtverhältnisse ins Wanken bringen. Aber das braucht viele Ressourcen und kann kein Dauerzustand sein. Deshalb müssen wir immer wieder zusammenkommen und darüber reflektieren, wie wir unsere Kämpfe zusammenbringen. Diese Momente müssen wir auch als Teil des Aufstands verstehen. Ohne die Pandemie wäre es sicher leichter gewesen, über diese kollektiven Strategien zu sprechen und Alternativen zu entwickeln. Einige Ansätze gab es. „Mujeres de Frente“ haben es geschafft, Fürsorgenetzwerke mit kriminalisierten und prekarisierten Frauen aufzubauen. Wir alle waren aktiv, haben viel gearbeitet, den Ausnahmezustand gemanagt, wir haben geschrieben und demonstriert. Aber wir hatten keinen Raum, um uns auszutauschen. Wir haben es nicht geschafft, die unterschiedlichen Widerstandsformen, von Gemeinschaftsküchen über Versammlungen, zusammenzubringen, um uns gemeinsam klar zu werden, wofür wir eigentlich kämpfen. Wir wissen, was wir nicht wollen, und zwar den autoritären, populistischen Extraktivismus der letzten Jahre. Aber was wollen wir, welches Land, welche Organisationen, welches Leben? Uns fehlt es an dieser Vision.
Würdest du sagen, dass es durch die Pandemie zu einer Art Rückzug ins Private gekommen ist, weil die Räume für Austausch und gemeinsame Alternativen fehlten?
Ich würde nicht unbedingt von einem Rückzug ins Private sprechen, aber es gab eine Fragmentierung. Ich denke, dass wir in einer Krise der Zivilgesellschaft stecken, und auch Glanzmomente wie die Oktoberaufstände lösen die generellen Probleme und Konflikte innerhalb der sozialen Bewegungen nicht. Ich rede zum Beispiel von einer für die feministische Bewegung charakteristischen Krise der Politik der Repräsentation. Wenn wir ehrlich sind, haben die feministischen Organisationen in Quito ein Klassenproblem. Andrea Aguirre von Mujeres de Frente sagt, dass es eine wachsende Kluft gibt zwischen denen, die sich um die materielle Reproduktion des Lebens kümmern, und denen, die die politische Debatte führen. Der Diskurs der feministischen Organisationen hat wenig zu tun mit den konkreten Lebensrealitäten von Frauen, andererseits werden die konkreten Reproduktionsbedingungen nicht zum politischen Gegenstand. Die Lebenswirklichkeiten und die aktuelle feministische Debatte passen nicht zusammen und das ist ein Klassenproblem.
Insgesamt geht es also darum, den Fokus mehr auf die Momente des Rückzugs, auf die interne Debatte, auf kollektive Fürsorge und Reflexion zu legen?
Ja. Ich denke, wir befinden uns gerade an einem Wendepunkt, an dem die klassischen Organisierungsformen an ihre Grenzen geraten sind. Wir sind gut im Analysieren und Organisieren, aber ungeübt in Selbstreflexion. Es fällt uns schwer, das Kollektiv über unsere Eigeninteressen zu stellen. Wir sind nicht gut darin, unsere interne Diversität und unsere Differenzen wertzuschätzen und daraus kollektive Stärke zu entwickeln. Stattdessen bauen wir interne Hierarchien auf: Was kommt zuerst, was als zweites? Was ist wichtig, was nicht? Wer ist eine Frau, wer nicht? Was ist Politik, was nicht? Was ist Feminismus, was nicht? Das ist eigentlich eine sehr patriarchale Logik. Die Politik der Repräsentation und unsere internen Klassenunterschiede sind wie eine Zwangsjacke, die uns unfähig macht, ein gemeinsames politisches Projekt zu entwickeln, in dem wir mit all unseren Unterschiedenen für gemeinsame Ziele kämpfen. Wir müssen nicht alle gleich sein, um gemeinsam für die Legalisierung von Abtreibungen kämpfen zu können. Die feministische Bewegung der letzten Jahre hat gezeigt, dass uns nur eine Sache vereinen sollte, der Wunsch, alles zu verändern.