Du bist 1938 nach Uruguay emigriert. Unter welchen Umständen bist Du damals in Dein Exilland gekommen?
Als ich nach Uruguay kam, war ich ja nicht aus Deutschland gekommen, sondern aus Jugoslawien. Ich war im Januar 1937 aus dem KZ Lichtenburg unter der Bedingung entlassen worden, daß ich innerhalb von 10 Tagen das Deutsche Reich verlasse und nie mehr wiederkehre. Meine Eltern hatten mir ein Visum für Jugoslawien besorgt. Ich ging dorthin und arbeitete auf einem landwirtschaftlichen Gut, auf dem jüdische Jugendliche für die Auswanderung nach Palästina vorbereitet wurden. Für mich war das ein Notausgang, denn ich dachte nicht daran, nach Palästina zu gehen, aber ich mußte irgendwie aus Deutschland raus. Als Ende 1938 Österreich annektiert wurde, reichte das Deutsche Reich bis an die Grenze Jugoslawiens. Damals war meine Aufenthaltserlaubnis gerade abgelaufen, und ich konnte es mir nicht leisten, von der jugoslawischen Polizei an die Grenze gestellt zu werden. Mit einigen Freunden kauften wir uns vom paraguayischen Konsul in Zagreb Visa für Paraguay. Das war ein Privatgeschäft dieses Konsuls, der sich zunutze machte, daß viele deutsche Antifaschisten und Emigranten in Jugoslawien waren und einen Ausweg aus dem Lande suchten. Mit den Visa konnten nach Frankreich ausreisen und in Marseille ein Schiff besteigen, das uns über den Ozean brachte. In Uruguay stellte sich dann heraus, daß die Visa falsch waren. Wir kamen gar nicht mehr auf das paraguayische Schiff nach Asunción, sondern wurden in der uruguayischen Stadt Colonia in einem Hotel interniert. Nach einer Woche kam der Polzeipräsident und sagte, wer sein Hotel bezahlen könne und die Omnibusgesellscahft, der könne nach Montevideo fahren und in Uruguay bleiben. Damals fragte man nicht viel nach Dokumenten, wenn man einmal im Land drin war, war das nicht so problematisch. In Montevideo hatte ich wieder großes Glück, ich bekam schon zwei Tage nach unserer Ankunft eine Arbeit bei der uruguayischen Eisenbahn.
Gab es hier in Uruguay viele deutsche bzw. deutschjüdische Flüchtlinge und auch entsprechende Organisationen?
Es gibt hier eine deutsch-jüdische Kolonie, die zur Zeit des Krieges auf ungefähr 6000 Personen geschätzt wurde, und ungefähr noch mal so viele Deutsche, die wahrscheinlich größtenteils in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg eingewandert sind. Letztere nannte man die alte deutsche Kolonie, und das andere war eben die deutsch-jüdische Kolonie, d.h. die jüdischen Emigranten, die hier Zuflucht gesucht hatten. Und es gab auch einige wenige politisch Verfolgte, wie ich. In den Kriegsjahren gab es hier ein antifaschistisches deutsches Komitee, in dem größtenteils deutsche Juden arbeiteten, aber auch einige aus der alten deutschen Kolonie, vor allem Arbeiter. Aber der Großteil der alten Kolonie stand unter dem Einfluß der deutschen Botschaft und war zumindest nationalistisch, aber zum großen Teil wohl auch nazistisch eingestellt. Ich arbeitete von Anfang an im deutschen antifaschistischen Komitee mit. Das Komitee sammelte vor allem Geld, Medikamente und Verbandszeug und schickte es an die Alliierten, die gegen Nazideutschland kämpften. Das konnte dann je nach dem Willen des Spenders für die amerikanische, die französische, die englische oder die sowjetische Armee sein, oder die jugoslawischen Partisanen, es gab da alle Möglichkeiten. Das Komitee war dem „Bund Freies Deutschland“ in Mexico angeschlossen, einer zentralen Organisation für Lateinamerika, die stark kommunistisch beeinflußt war. Es gab darin auch andere Persönlichkeiten, aber sie stand schon sehr unter dem Einfluß von Kommunisten. Es gab dann noch eine andere Gruppe, „Das Andere Deutschland“, die sozialdemokratisch bzw. sozialistisch orientiert war und ihr Zentrum in Buenos Aires hatte. In Montevideo selbst gab es zu jener Zeit auch eine Zweigstelle des „Anderen Deutschland“.
Du bist nach 1945 in Uruguay geblieben. Hattest du nicht überlegt, nach Deutschland zurückzugehen?
Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes wollte ich zunächst nach Deutschland zurück. Ich dachte, wenn ich mich schon unter den schwierigen Bedingungen des Dritten Reiches für ein anderes Deutschland eingesetzt habe und dafür ins Gefängnis und ins KZ gekommen bin, dann muß ich jetzt, wo es die Gelegenheit gibt, ein anderes Deuschland aufzubauen, wieder zurück. Ich hatte inzwischen eine Uruguayerin geheiratet, wir hatten auch schon Kinder, aber meine Frau wäre damals bereit gewesen, mit in das Trümmerfeld Deutschland zu ziehen. Wir stellten einen Antrag beim russischen Konsulat in Montevideo, denn wir wollten in die sowjetisch besetzte Zone. Ich dachte, da bestehe noch am ehesten die Möglichkeit, ein anderes Deutschland aufzubauen, obwohl ich Stalin schon seit langem sehr skeptisch gegenüberstand. Aber es kam nie eine Antwort, die waren mißtrauisch gegen alles, was aus dem Westen kam, daß man ohne Beziehungen kaum eine Chance hatte, ein Visum zu bekommen. Und ich war nicht einmal in der offiziellen KPD gewesen, ich war in der KJO, der Jugendorganisation der KPO (Kommunistische Partei Deutschlands Opposition – antistalinistische Abspaltung der KPD, die Red.), und wäre wahrscheinlich früher oder später sowieso angeeckt. Jedenfalls kam keine Antwort, unsere Kinder wurden größer, und ich betrachtete Uruguay zunehmend als meine Heimat.
Du kommst aus einer jüdischen Familie, hast Du damals nicht auch in Erwägung gezogen, nach Israel zu gehen?
Ich bin Anfang der dreißiger Jahre über den deutsch-jüdischen Wanderbund „Kameraden“ zur KJO gekommen. Unsere Gruppe fühlte sich damals von der Arbeiterjugendbewegung angezogen, andere Teile der „Kameraden“ hatten sich den Zionisten angeschlossen, weil sie nur in der Auswanderung nach Israel einen Ausweg vor dem drohenden Nazismus sahen. Ich hatte keine stark jüdische Erziehung, mein Elternhaus war sehr liberal. Dann kommt ohne Zweifel noch dazu, daß ich 1934 aus politischen und nicht aus religiösen oder rassischen – wie man nun will – Gründen verhaftet wurde. Das sind ohne Zweifel die Faktoren gewesen, die mich gegen den jüdischen Nationalismus, den Zionismus, immun gemacht haben. Ich hätte in Jugoslawien sogar die Möglichkeit gehabt, ein Zertifikat für das Politechnikum in Haifa zu bekommen, aber ich sah damals schon voraus, daß es zu Konflikten zwischen Juden und Arabern kommen würde – das Land war ja nicht unbewohnt –, und ich wollte durchaus nicht in diesen nationalen Konflikt reingezogen werden. Also suchte ich das Weite und das war in diesem Fall eben Uruguay.
Du hast Dich dann hier in Uruguay integriert und warst bzw. bist auch politisch aktiv. Was waren die Schwerpunkte Deiner Aktivitäten?
Ich bin, glaube ich, 1946 in die Kommunistische Partei Uruguays eingetreten, obwohl ich starke Reserven hatte, nicht nur gegen die Führung in der Sowjetunion, sondern auch gegen den kleinen Stalin hierzulande, Eugenio Gómez, der dann aber im Jahre 1956 mit einer Mini-Perestroika abgesägt wurde. Ich widmete mich vor allem der konkreten sozialpolitischen Arbeit im Stadtteil. Ich habe lange Zeit im „Barrio Sur “ gelebt, einem Stadtteil, das sehr nah an der Stadtmitte gelegen ist, wo aber sehr arme Leute wohnen, in Häusern, die man hier „Conventillos“ nennt. Das ist schwer zu erklären, das ist ein großer Hof, rundherum ist eine Galerie von vielen Zimmern, und in jedem Zimmer wohnt eine ganze Familie. Es gab viele solcher „Conventillos“, und die BewohnerInnen lebten unter ganz menschenunwürdigen Bedingungen mit völlig unzureichenden sanitären Anlagen. Die Leute hatten wegen ihres niedrigen Einkommens keine Möglichkeit, die Miete für eine anständige Wohnung zu bezahlen. Außerdem arbeiteten sie meistens auch im „Barrio Sur“. Wenn sie wegen der billigeren Mieten in die Randzonen gezogen wären, häten sie ungeheure Ausgaben und Zeitverluste gehabt, um zur Arbeit zu kommen. Als wir zusammen mit anderen Genossen im Barrio die kommunistische Zeitung verkauften, kamen wir mit all den Leuten und ihren Problemen in Berührung. Damals gab es sehr viele Räumungen von Häusern, entweder weil sie baufällig waren oder aber weil Spekulanten auf die Grundstücke scharf waren. Die Leute wußten dann gar nicht, wohin sie gehen sollten. Wir haben versucht, die Betroffenen zu mobilisieren, um etwas gegen die Räumungen zu unternehmen bzw. die Forderung nach billigen Ersatzwohnungen durchzusetzen. Das war keine leichte Sache, denn diese Leute waren ausgesprochen individualistisch. Wo Leute eng beieinander wohnen, gibt es viel Krach unter den Nachbarn, da hat der eine am Abend sein Radio zu laut gestellt, der andere hat schlecht über die Tochter gesprochen und solche Dinge. Die Leute zusammenzubringen, das war regelrecht ein Kampf. Aber wir kriegten es fertig, und natürlich spielte dabei die Tatsache eine große Rolle, daß es eine Räumung nach der anderen gab und manchmal auch Häuser einstürzten, wobei es sogar Tote gab. Wichtige Unterstützung erhielten wir von den Studenten der Fakultät für Architektur, wahrscheinlich hätten wir das alleine gar nicht geschafft. Für mich war das eine sehr große Erfahrung, die über 10 Jahre ging. Wir erreichten zumindest den Bau eines Sozialwohnblocks an der Küstenstraße. Das war einmalig, daß ein Sozialwohnblock nicht in einem Randgebiet, sondern mitten in der Stadt gebaut wurde. Das „Comité Popular del Barrio Sur“, das heute noch besteht, war ein überparteiliches Volkskomitee, lange bevor es mit der „Frente Amplio“ eine linke Einheitsfront gab. In gewisser Weise halte ich das für die fruchtbarste Periode meiner politischen Arbeit in Uruguay.
Was bedeutete der Militärputsch von 1973 für Dich und Deine Familie?
Nach dem Putsch der Militärs arbeitete ich vom ersten Moment an im Untergrund, in der Herstellung von illegalen Zeitungen und Flugblättern, in der Herstellung von ganz einfachen Vervielfältigungsapparaten und später hauptsächlich im Betrieb für die verbotene Metallarbeitergewerkschaft. Am 6. Januar 1974 gab es eine Hausdurchsuchung in unserer Wohnung. Meine Tochter und ich wurden verhaftet. Ich, weil ich Vorstandsmitglied des Kulturinstituts Uruguay-DDR war, und meine Tochter, weil sie dort Deutschunterricht gab. Aber die Sache mußte dann wohl niedergeschlagen worden sein, nach drei Tagen kamen wir raus. Wahrscheinlich hatte die Diktatur Angst, daß sie sich die Wirtschaftsbeziehungen mit den sozialistischen Ländern, die damals viel Wolle in Uruguay kauften, verdirbt. Das Institut wurde geschlossen und erst nach dem Ende der Diktatur wieder zurückgegeben, allerdings war die gesamte Inneneinrichtung zerstört.
1981, kurz bevor das neue Gewerkschaftsgesetz der Diktatur in Kraft trat, gab es noch einmal eine Welle von Razzien in den Industriebetrieben. Bis zu diesem Gewerkschaftsgesetz hatte es überhaupt keine legalen Gewerkschaften gegeben, es gab nur die unterirdischen. Das Gesetz sah die Möglichkeit der Bildung von Betriebsgewerkschaften vor, die natürlich vollständig unter der Kontrolle der Polizei standen und deren Verantwortliche und Delegierte die Zustimmung des Innenministeriums brauchten. Die Militärs befürchteten dennoch, daß trotz aller Restriktionen Leute aus den illegalen Gewerkschaften in führende Stellungen der neuen Betriebsgewerkschaften kommen könnten. Und da machten sie noch einmal Jagd auf die Aktiven der illegalen Gewerkschaften, vor allem in der Metallindustrie. Als ich die Nachricht erhielt, daß die Genossin, mit der ich die Verbindung zum Finanzsekretariat der Gewerkschaft hatte, verhaftet war, und ich natürlich nicht wußte, was sie unter der Folter aussagen würde, beschlossen wir, über die brasilianische Grenze zu gehen und erst einmal abzuwarten. Und da der Bruder von Eva, meiner zweiten Frau, in São Paulo wohnte, kam ich bei ihm unter. Zwei oder drei Wochen später kam ein Arbeitskollege von mir aus derselben Fabrik, der auch im Untergrund gearbeitet hatte, mit seiner ganzen Familie in São Paulo an, weil er gemerkt hatte, daß sein Haus von Spitzeln beobachtet wurde. Da zog ich es vor, das Exil in der Heimat zu beginnen und ging nach Frankfurt.
Dein Sohn war zu dieser Zeit in Uruguay im Gefängnis?
Am 9. November 1975, demselben 9. November, an dem ich von der Gestapo verhaftet worden war, wurden er und seine Frau Nelly von der uruguayischen Gestapo verhaftet. Seinen kleinen Sohn – er war damals wohl drei oder vier Monate alt – brachte die Polizei zu uns. Mein Sohn Peter war über einen Monat in der Folterhölle in der Straße Maldonado, die seinerzeit der nordamerikanische Militärattaché Dan Mitrione – der 1972 von den Tupamaros entführt und getötet wurde – organisiert hatte. Ich war nach meiner Verhaftung auch in Maldonado gewesen, aber ich war ziemlich schnell und gut weggekommen. Mein Sohn und seine Frau sind da gefoltert worden. Nelly kam ein paar Wochen später raus, ihr konnte man scheinbar nichts nachweisen. Sie ging dann gleich nach Venezuela, wo ihre Schwestern wohnten, und das war gut so, denn einige Wochen später klopfte es nachts um drei an der Haustür, und da brachen schon die Militärs mit Maschinengewehren in unsere Wohnung ein und machten eine Hausdurchsuchung. Sie fragten nach Nelly, und als wir sagten, sie sei in Venezuela, zogen sie wieder ab. Es war offensichtlich, daß sie noch einmal gekommen waren, um sie zu verhaften, vielleicht hatten sie inzwischen irgendwelche belastenden Unterlagen gegen sie gefunden. Peter kam nach einiger Zeit in das Militärgefängnis „Libertad“ (dt. Freiheit!). Er wurde wegen Mitgliedschaft im kommunistischen Jugendverband von einem Militärgericht zu 6 Jahren Gefängnis verurteilt. Für uns war das natürlich eine starke Belastung. Wir konnten ihn zweimal im Monat da draußen besuchen. Seine Mutter starb während seiner Haftzeit, wir hatten ihm lange verschwiegen, daß sie an Krebs litt, so daß die Nachricht des Todes für ihn sehr überraschend kam. Besonders bedrückend war, daß ich ihm die Nachricht nur durch die Glasscheibe durchgeben konnte.
Hattest Du große Schwierigkeiten, Dich im bundesrepublikanischen Exil zurechtzufinden?
Schwierigkeiten schon, aber da ich Schwierigkeiten gewohnt war, würde ich sie nicht als groß bezeichnen. Nachdem ich einmal im KZ gewesen bin, hab ich solche Sachen immer ziemlich gelassen betrachtet. In der Beziehung bin ich ein bißchen Stoiker. Für mich ging es zunächst darum, Arbeit zu finden. Ich war mir ziemlich klar darüber, daß in meinem Beruf nichts zu machen war. Uruguayische Technologie in Dampfkesseltechnik ist in der Bundesrepublik nicht gefragt. Ich dachte mir, vielleicht als Übersetzer oder Dolmetscher etwas machen zu können. Ich besorgte mir einen Messeführer – der kostete mich 36 DM, was für mich sehr viel Geld war – und ging zu der Messe, um dort Arbeit zu suchen. Ich hatte überhaupt keine Ahnung über Arbeitsverhältnisse in der Bundesrepublik. Auf dem Arbeitsamt an der Messe bot ich mich als Dolmetscher an. Da teilte man mir mit, daß dafür nur junge Frauen beauftragt würden, denn die Kunden kämen ja nicht nur, um Aufträge einzuholen.
Nach derartigen Anfangserfahrungen kam ich mit der Zeit ziemlich gut zurecht. Ich habe später chilenischen Flüchtlingen Deutschunterricht gegeben, meine Frau arbeitete in einem psychosozialen Zentrum für ausländische Flüchtlinge in Frankfurt. Ich gab auch spanischen Gastarbeitern Unterricht. Außerdem schrieb ich Artikel für Zeitungen, aber das meist ehrenamtlich. Ich sah es als meine politische Aufgabe an, das deutsche Publikum über die Diktaturen in Lateinamerika und besonders in Uruguay aufzuklären. In Frankfurt gründeten wir auch einen Arbeitskreis, der Spenden für die politischen Gefangenen in Uruguay sammelte und über die Zustände in Uruguay informierte.
Du hattest in der BRD also durchaus Fuß gefaßt, hast Dich aber dann entschieden, nach Ende der Diktatur in Uruguay zurückzugehen. Warum?
Wir hätten weiter in Frankfurt bleiben können. Meine Rente ist zwar klein, aber da meine Frau arbeitete, konnten wir ganz gut leben. Wir haben auch sehr viele Freunde in der Bundesrepublik, viele gute Freunde, man kann fast sagen mehr als hier in Uruguay. Aber die Freunde sucht man sich aus, das ist eine selektive Sache. Das ist nicht gleichbedeutend mit dem allgemeinen Milieu, in dem man sich befindet, und das war doch nicht unseres. Ein alter Jugendfreund, der in Schweden wohnt, sagte mal, unsere Freunde in der Bundesrepublik, das seien die falschen Deutschen. Das ist natürlich Unsinn, sie sind auch Deutsche, aber sie gehören natürlich nicht nur politisch, sondern auch ihrer ganzen Einstellung zum Leben nach wohl eher zu einer Minderheit. In Uruguay ist das Milieu, das uns umgibt, eben doch ein anderes. Die Art der Uruguayer liegt uns näher als die der Deutschen. Auch wenn wir hier in Uruguay jeden Tag über die Unordnung klagen, die Unpünktlichkeit, die Nachlässigkeit, d.h. die Kehrseiten derselben Sache, die wir sonst an den Uruguayern schätzen, wie ihre Warmherzigkeit, ihre Formlosigkeit, Ungezwungenheit. Dabei weiß ich im Grunde genommen, daß ich dem Charakter nach genauso wie die alten Deutschen bin. Ich bin genauso pedantisch, es muß alles perfekt sein, es schockiert mich aber, wenn ich das an den anderen sehe. Und ich fühle mich wie gesagt wohler, wenn ich unter den Leuten hier bin, ganz einfach hier unter den Nachbarn, ganz gleich wie sie eingestellt sind.
Und Du fühlst Dich hier als Einheimischer oder aus Ausländer?
Im Stadtteil nennen sie uns bloß „Alemanes“, die Deutschen. Bei mir hört man am Akzent, daß ich nicht hier geboren bin. Bei meiner Frau, die als Kind hergekommen ist, hört man das bestimmt nicht, aber man merkt es an ihrer Art. Wir fühlen uns hier aber durchaus als zugehörig und haben nicht das Gefühl, Fremdkörper zu sein. Uruguay ist ja ein Land von Ausländern. Es gibt hier kaum Leute, die nicht zumindest einen Großvater haben, der Italiener, Spanier, Deutscher, Jugoslawe, Russe oder sonst etwas war. Und deshalb gibt es hier nicht so etwas wie in Deutschland, die Ausländerfeindlichkeit. Man sagt zwar manchmal „el gallego“ (der Galizier) oder „el judío“ (der Jude), aber das hat nicht diesen verächtlichen Unterton wie in Deutschland „der Kanake“ „der Ausländer“ oder „der Türke“.
Du bist seit Deiner Jugendzeit in der Linken aktiv und gehörst seit 45 Jahren der Kommunistischen Partei an. Was bedeutet für Dich der Niedergang des Sozialismus, der Zusammenbruch der DDR und ihre Annexion durch die BRD. Wie hast Du das wahrgenommen und was bedeutet das für Deine politischen Hoffnungen?
Um die letzte Frage nach meinen politischen Hoffnungen zu beantworten, gebe ich sie für Europa zunächst einmal auf. In den osteuropäischen Ländern wird es wohl in diesem Jahrhundert nichts mehr geben können, was an Sozialismus erinnert. Da hat der Kapitalismus einen vollen Sieg errungen. Meine Hoffnungen auf sozialistische Veränderungen liegen in der Dritten Welt, besonders in Lateinamerika, und, wenn ich etwas dafür tun kann, natürlich in Uruguay. Aber der Weg zum Sozialismus, überhaupt was man unter Sozialismus versteht, ist in Uruguay – und das gilt sicherlich auch für andere lateinamerikanische Länder – nicht derselbe, nicht derselbe Weg und nicht dieselbe Art von Sozialismus, wie man ihn in Osteuropa und in der Sowjetunion praktiziert hat. Alleine schon, daß die Kommunistische Partei Uruguays 1956 nicht nur ihren allmächtigen Generalsekretär abgesetzt hat, sondern zumindest in den nationalen Belangen und Richtlinien sich auf eine eigene Analyse der Realität des Landes gestellt hat und nicht mehr die Direktiven aus Moskau übernommen hat, hat es ermöglicht, daß sich zuerst die gespaltenen Gewerkschaften in einem gemeinsamen Gewerkschaftsbund zusammengeschlossen haben und später auch eine politische Einheitsfront aller linken Parteien zustande kam. Dabei hat die Kommunistische Partei ohne Zweifel eine Rolle gespielt, und das wäre nicht möglich gewesen ohne diese Mini-Perestroika. In internationalen Fragen hat sich die uruguayische KP allerdings genauso kritiklos wie allerorts an das gehalten, was aus Moskau kam. Das ist erst jetzt mit der Perestroika zusammengebrochen.
Ich selbst habe von früher her zwar geglaubt, daß in der Sowjetunion der Sozialismus existiert, daß er aber unter Stalin ungeheuer pervertiert worden ist. Ich habe aber immer die Hoffnung gehabt, daß er noch rechtzeitig demokratisch reformiert werden könnte. Die Sowjetunion habe ich nicht gekannt, ich bin nie dagewesen. In der DDR bin ich öfters gewesen, das erste Mal bei einer Europareise im Jahre 1963, und seit wir im Exil in Frankfurt waren, sind wir jedes Jahr einmal rübergefahren. Wenn man dort war, kam man mit vielen Leuten in Kontakt und bekam irgendwie einen Eindruck von dem, was da läuft. Das heißt viele Defekte, die der Sozialismus da hatte, wenn es überhaupt Sozialismus gewesen ist, habe ich aus eigener Erfahrung gekannt, aber immer noch die Hoffnung gehabt, daß es Kräfte innerhalb der Partei gäbe – so wie es Havemann und Bahro gegeben hat –, die einen Prozeß einleiten können, der zu einer Demokratisierung führt, ohne daß gleich ein Anschluß an die Bundesrepublik die Folge wäre. Natürlich habe ich jetzt erkannt, daß ich erstens gar nicht gewußt habe, wie weit der Sozialismus pervertiert gewesen ist, und zweitens nicht begriffen habe, daß er gar nicht mehr zu reformieren war, daß die Bürokratie derartig im Machtapparat verkrustet war, daß sich wahrscheinlich gar keine Kraft formieren konnte. Die Bürgerinitiativen, die von den Kirchen ausgegangen sind und den Mut hatten, im Oktober ’89 auf die Straße zu gehen, das waren so kleine Minderheiten und sie konnten noch nicht einmal ein eigenes Konzept ausarbeiten, das in den Massen Fuß gefaßt hätte, so daß tatsächlich die Überrumpelung durch den Westen gar nicht zu verhindern gewesen wäre. Das heißt, es mußte so kommen, es konnte nicht anders kommen.
Aber ich glaube, daß wir hier auf einem anderen Wege sind, und gerade die Tatsache, daß da, wo wir ein Stückchen Macht haben, d.h. in Montevideo, wo die Linke seit den letzten Wahlen den Bürgermeister stellt, der Kernpunkt unseres Programms die Dezentralisierung und die Mitbeteiligung der Nachbarschaften an den urbanen Projekten ist. Es ist ein Experiment, und man wird auch erst sehen, mit welchen Schwierigkeiten man da noch zu kämpfen hat. Nicht nur Schwierigkeiten mit der rechten Nationalregierung, sondern auch Schwierigkeiten mit der alten Bürokratie, die sich in der Intendencia (Rathaus) eingenistet hat und mit der man arbeiten muß. Und natürlich muß man auch damit rechnen, daß in den eigenen Reihen Widersprüche und Probleme auftreten. Aber ich sehe darin eine Perspektive und eine Möglichkeit mitzuarbeiten, und wir hoffen ja, wenn auch nicht viel materiell gemacht werden kann in Montevideo, daß das zumindest eine Schule der Basisdemokratie ist, die im Jahre ’94 bei den nächsten Wahlen die Kräfteverhältnisse im ganzen Land umstellen kann, so daß Uruguay einen anderen Weg gehen kann als die neoliberale Privatisierungspolitik, die ausschließlich auf die Gläubigerbanken und den Internationalen Währungsfonds ausgerichtet ist.
Natürlich wird man sagen, Uruguay sei ein kleines Land zwischen zwei Riesen, Argentinien und Brasilien, aber ich meine, ein ähnlicher Prozeß ist zumindestens in Brasilien bemerkbar, also da sehe ich Hoffnung, die ich im Moment in Europa nicht mehr sehe. Aber auf der anderen Seite weiß ich auch, daß der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Weltgeschichte ist, er kann nicht das letzte Wort sein, denn wenn er das letzte Wort wäre, glaube ich, dann wäre er das letzte Wort der Menschheit überhaupt – aus ökologischen Gründen und weil sich die Kluft zwischen der ersten und der Dritten Welt, zwischen Norden und Süden, ungeheuer vertiefen und wahrscheinlich die Konfliktszene der nächsten Jahrzehnte beherrschen wird. Und darin liegen ungeheure Gefahren, in der Golfkrise (das Interview fand noch vor dem Krieg statt – G.E.) bahnt sich das ja schon an, wenn auch in einer sehr ungünstigen Konstellation, was den Süden anbelangt.