Panama, Jamaica, New York, Puerto Rico und die Dominikanische Republik – das alles sind Schlüsselorte für die Herausbildung und Entwicklung des Genres, das als Reggaetón erfolgreich werden sollte. Edgardo Franco aus Panama, bekannt geworden als „El General“ (siehe Interview in ila 369), und Fernando Orlando Brown a.k.a Nando Boom gehören zu den Pionieren des Reggae en Español in Panama. Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre gehörten sie zu einer Szene von afropanamaischen Reggae-Fans, die bald selber Musik machten, Platten aus Jamaica auflegten und dazu auf Spanisch rappten. Panama war ein Schmelztiegel diverser Musikstile, aufgrund der verschiedenen, häufig zirkulären Migrationsbewegungen in der Karibik (nach Panama waren viele Gastarbeiter, Stichwort: Bau des Panamakanals, von den karibischen Inseln, etwa Jamaica und Haiti, gekommen). El General ging selbst 1985 nach New York, wo ihn sein Freund und Musikerkollege Nando Boom bei einem Besuch dazu drängte, wieder Musik zu machen. Der Rest ist Geschichte: Der General veröffentlichte Tu Pum Pum, das es bis auf Platz 5 der US-amerikanischen Radiocharts schaffte. Nando Boom wiederum legte mit Ellos benia einen weiteren Grundstein für Reggaetón. Mit diesem Song griff er den Riddim, den Instrumentalpart des kurz zuvor (1990) vom Jamaicaner Shabba Ranks veröffentlichten Dancehall-Hits Dem Bow auf und rappte auf Spanisch dazu. In späteren Versionen von Dem Bow kam es zu einer inhaltlichen Verschiebung: Während das jamaicanische Dembow ein offen homophober Track ist und auch Nando Booms Ellos benia eine ähnliche Macho-Sexualität an den Tag legt, ist zum Beispiel Wisin und Yandels Dem Bow (von 2003) ein Song, der sich schlicht auf das Tanzen zu diesem charakteristischen Beat bezieht.

Auf der musikalischen Ebene wurde mit diesem Song ein rhythmisches Muster vorgegeben, das bis heute das Kernelement und Markenzeichen von Reggaetón ist. Der Musikethnologe Wayne Marshall umschreibt den Beat lautmalerisch als: Boom-ch-Boom-chick-Boom-ch-Boom-chick. Das ist sozusagen der rhythmische Prototyp für Reggaetón.

New York war ein weiterer pankaribischer, panlateinamerikanischer Hotspot für Reggaetón, wo Musiker*innen aus Panama und Jamaica auf andere aus Puerto Rico, Cuba, der Dominikanischen Republik sowie auf schwarze US-Rapper*innen trafen. Hier wurden die ersten Tracks des Reggae en Español auf Platte gepresst. Und hier gab es auch ein großes Publikum für die ersten Songs des „Proto-Reggaetón“.

Auf Puerto Rico begann die Geschichte des Proto-Reggaetón, als der begnadete Rapper Vico C. und der DJ und Producer DJ Negro aufeinanderstießen. Beide standen auf die Sounds der Afro-diaspora: Hiphop aus den USA, Dancehall aus Jamaica, Reggae en Español aus Panama. Die zwei gelten als Gründungsväter des Reggaetón in Puerto Rico. Auf den ersten Mixtapes bediente man sich zunächst bei Samples von Hiphop- und Dancehall-Platten, die Hiphop-Elemente dominierten anfangs noch über die des Dembow. Auch die ästhetischen Codes orientierten sich an der Hiphop-Kultur: Baggy Pants, Kappen, Sneaker, dicke Goldketten. Die Musikkassetten wurden informell vertrieben, wenige Dutzend Kopien unter der Hand, „im Untergrund“ verkauft. Daher auch der puertoricanische Name für das Genre: Underground. Bei den Freestylesessions des Underground mauserte sich der bereits erwähnte Dembow-Riddim zur beliebtesten Instrumentalgrundlage.

DJ Nelson erzählt in einer Radiosendung vom Mai 2018 rückblickend, dass Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre auf Puerto Rico die musikalische Vorherrschaft des Merengue vom Reggaetón abgelöst worden war. Er selbst sei zuvor auch ein ziemlicher Merenguero gewesen. Zu dem Zeitpunkt gab es auf Puerto Rico bereits eine große Hiphop-Szene, die auf Spanisch rappte. Die neue Musik auf der Grundlage des Dembow-Rhythmus hieß bis Mitte/Ende der 90er-Jahre auch noch nicht Reggaetón, sondern wurde zunächst Dembow, dann meist Underground genannt. Wichtige Produzenten dieser Zeit waren unter anderem DJ Nelson, DJ Negro oder DJ Playero. Sie veröffentlichten zahlreiche Mixtapes, auf denen ganz ungeniert und recht zeitnah die neuesten Hiphop- und Dancehall-Samples genutzt, gemixt und mit spanischen Raps versehen wurden. Als DJ Playeros erfolgreicher Mix Playero 38 im Jahr 1994 herauskam, zeigte sich, dass die Dembow-Rhythmen die Überhand gewannen. Im selben Jahr erschien auch die erste Underground-Platte bei einem offiziellen Label, „Sin Parar“ von Wiso G.

Der Underground war der vorherrschende Sound in den Häuserblocks mit den Sozialwohnungen, den caseríos. Die Themen ihrer Texte: Armut, Polizeigewalt, Drogen, Sex. Schnell war das Genre verschrien als gewalttätig und drogenverherrlichend und geriet in den Fokus der Behörden, wurde diskreditiert und kriminalisiert (siehe Kasten, Seite 6). Wie bereits bei vorherigen Musikstilen, etwa der Bomba oder dem Merengue, argumentierten die Oberen, dass die Musik importiert sei und die Jugend verderbe, weshalb hart durchgegriffen werden müsse. Doch die Verteufelung bewirkte das Gegenteil. Underground beziehungsweise Reggaetón wurde zur Lieblingsmusik der puertoricanischen Jugend, sowohl auf der Insel als auch in den Großstädten der USA, und bald auch der umfassenderen Latinojugend in den USA. Zur Verbreitung des neuen Sounds trugen die Migrationsbewegungen zwischen der Karibik und den USA bei, Radiosender für Latinomusik (aus New York oder Miami) und zunehmend, mit der Wende zum neuen Jahrtausend, auch das Internet.

Das viel diskutierte Genre wurde noch populärer, auch in Lateinamerika, als immer mehr Musikelemente einbezogen wurden, die zum reichen Erbe der lateinamerikanischen Musik zählen, etwa die Timbales (Trommelpaar) oder die Tres (Gitarrenart) aus Cuba, die Gitarrenläufe aus dem Bachata oder Klavierläufe aus Son oder Salsa. Der Dembow, als eindeutig afrokaribischer Rhythmus, blieb allerdings das A und O, die Grundlage des Genres. Spätestens ab der Jahrtausendwende wurde Reggaetón dann auch überwiegend Reggaetón genannt; eine spezifische, wiedererkennbare Soundästhetik hatte sich herausgebildet. Der neue Reggaetón-Stil, der sich in den frühen Nullerjahren durchsetzen sollte, war ein zutiefst elektronischer Stil, auf Computern generiert, mit Drum-machines und Keyboards, technoiden Trommelcrescendos und knallenden Soundeffekten. Eine „Hightech, Post-Hiphop, latinokaribische Ästhetik“, wie der Musikethnologe Wayne Marshall schreibt. Besonders typisch für Reggaetón-Produktionen ist der Einsatz von unterschiedlich klingenden Snaredrums. In einem einzigen Stück nutzen die Producer mehrere verschiedene Snaredrums, etwa alle acht Takte kommt eine neue zum Einsatz. Damit erzielen sie eine Verschiebung der Stimmung im Laufe des Tracks, der andernfalls vielleicht zu repetitiv klingen könnte.

Luny Tunes gilt als das wohl erfolgreichste Produzentenduo des Reggaetón. Francisco Saldaña und Víctor Cabrera trugen eindeutig zur „Latinisierung“ des Genres bei. Die beiden, in der Dominikanischen Republik geboren und in Boston aufgewachsen, zogen später nach Puerto Rico, wo sie eng mit DJ Nelson zusammenarbeiteten. Im Jahr 2003 veröffentlichten sie die Compilation Más Flow, mit der sie als Produzenten richtig durchstarteten und auf der die Stars der Stunde vertreten waren: Hector & Tito, Wisin & Yandel, Don Omar, Tego Calderón, Daddy Yankee, Zion & Lennox, Glory, Nicky Jam, Plan B und noch einige mehr. 2003 war auch das Jahr, in dem Tego Calderóns Album El Abayarde erschien, ein weiterer Meilenstein des Reggaetón.

Die frühen Nullerjahre stellten einen Wendepunkt dar. Aufgrund neuer Produktionssoftware wie „Fruity Loops“ konnten neue Klangwelten erschlossen werden und der Zugang zur Musikproduktion vereinfachte sich. Weitere wichtige Produzenten dieser Epoche waren DJ Blass, Echo (Paul Irizarry) oder Eddie Dee, der selber in den 90er-Jahren im Underground mit kritischen Songs wie Señor Oficial oder El Terrorista de la Lírica bekannt geworden war. Sein 2004 erschienenes Album 12 Discípulos gilt als das beste Reggaetón-Allstar-Album.

Nun brauchte es nur noch ein paar richtig große Hits, um den Sprung in den Mainstream zu vollziehen. Der in New York lebende Rapper N.O.R.E trug das Seinige dazu bei. Oye mi canto ist ein auf Spanglish gerappter Song, bei dem Daddy Yankee, Tego Calderón und Nina Sky mitwirken und in dem übergreifender Latinostolz propagiert wird, für den Massenmarkt appetitlich visualisiert mit Hilfe einer langen Reihe von Bikinigirls, welche die jeweiligen Flaggen ihres Landes schwenken. Dieser Song trug wesentlich dazu bei, dass sich Reggaetón als sexy Latinodancemusik etablierte. Nun folgte ein Hit auf den anderen. Daddy Yankees Gasolina (aus dem Jahr 2004) tönte unüberhörbar auf der ganzen Welt, auch hierzulande. Spätestens jetzt ließen sich die Majorlabels vollends auf das Genre ein. Im Jahr 2004 wurde „Machete Music“ gegründet, ein Sublabel von „Universal Music“, das fortan vor allem Reggaetón-Künstler*innen unter Vertrag nehmen sollte, etwa Don Omar, Ivy Queen oder Wisin & Yandel. Und Latino-Pop-Superstars wie Shakira, Alejandro Sanz oder Enrique Iglesias sprangen ebenfalls auf den Zug auf und begannen, Reggaetón-Rhythmen in ihre Songs einzuflechten und Featurings oder Remixe mit Reggaetón-Größen aufzunehmen. Die Jahre 2003 bis 2008 stellen die Blütezeit des Reggaetón dar; die Hits aus dieser Zeit werden heutzutage als „Oldschool-Reggaetón“ auf neuen Partyreihen gefeiert.

Zu Beginn der 10er-Jahre trat eine gewisse Sättigung im Reggaetón-Universum ein, aber in den letzten drei, vier Jahren haben viele neue und alte Protagonist*innen noch mal Anlauf genommen, um die nächste Erfolgswelle einzuleiten. Im Zuge dessen sind neue Reggaetón-Ausformungen und Nischenspielarten entstanden, welche zum einen mit anderen musikalischen Genres fusionieren (zu erwähnen wären da Genres wie Cumbiatón oder Moombahtón, aber auch Überschneidungen mit Latin Trap), zum anderen auch neue Inhalte, Lesarten und somit eine Aneignung des Genres ermöglichen.

DJ Nelson sagt in einer Radioshow im Mai 2018, dass es im Moment eine Menge superguter weiblicher Reggaetón-Acts gebe, jetzt wäre sozusagen die Stunde der Reggaetoneras gekommen.

Das einst so kriminalisierte und verschriene Genre erfüllt mittlerweile Puerto Rico mit Nationalstolz und gehört zu den wichtigsten Exportgütern der Insel. Doch die Debatten hören nicht auf. Weder die Schmähungen der Musik als „billig“, kultur- oder geschmacklos noch die berechtigte Kritik am Sexismus des Genres, noch die Diskussionen darüber, wem die Musik eigentlich „gehöre“; nicht nur die ewige Streitfrage, ob die Musik denn nun ursprünglich aus Panama oder Puerto Rico stamme, sondern auch die Frage, wer die Musik zu interpretieren berechtigt sei, also die nach der kulturellen Aneignung vor dem Hintergrund eines zunehmenden blanqueamiento, eines „Weißwerdens“ des Genres beziehungsweise seiner sichtbarsten und (kommerziell) erfolgreichsten Vertreter*innen. Reggaetón ist und bleibt ein heiß umkämpftes Feld. Und er ist auf jeden Fall erst mal gekommen, um zu bleiben.