Gemachte Katastrophen

Im ausgehenden 19. Jahrhundert sind – vorsichtigen Schätzungen zufolge – 50 Millionen Menschen verhungert, in Indien, China, Brasilien und dem nördlichen Afrika. Die Geschichtsschreibung erwähnt dieses Massensterben meist nur am Rande und als Folge klimatischer Schicksalsschläge – nicht als logische Konsequez einer Politik, der es nicht um Menschenleben, sondern um Machterhaltung ging. Zu den ökologischen Katastrophen seien damals Malaria, Pest, Ruhr, Pocken und Cholera dazu gekommen und hätten die Situation verschärft. Warum dies zu einem Zeitpunkt geschah, als in Europa schon lange nicht mehr gehungert wurde und die Seuchen weitgehend unter Kontrolle gebracht worden waren, wird kaum gefragt. Mike Davis stellt auf fast 500 Seiten die gegenteilige Behauptung auf: Dass das Massensterben in den Kolonialgebieten nur vordergründig klimatische Ursachen hatte, also nicht „gottgewollt“ und „unabwendbar“ gewesen ist. Die Hungersnöte waren das Resultat der britischen Großmachtpolitik, die sehenden Auges Millionen elend zugrunde gehen ließ.

Davis zweifelt nicht an den gigantischen Naturkatastrophen und erklärt auf sehr vielen Seiten die Luftmassenverschiebungen und Temperaturschwankungen und was sie in den jeweiligen Regionen ausgelöst hatten. Seit Menschheitsgedenken habe es Klimakatastrophen gegeben, immer wieder sei der Monsun ausgeblieben oder Landstriche überschwemmt worden. Die traditionellen Volkswirtschaften waren darauf eingestellt, hatten Bewässerungssysteme errichtet und Vorräte angelegt. Doch diese jahrhundertelang praktizierten Abwehrmechanismen wurden von der Kolonialmacht in London radikal geschwächt, zum Teil mit purer militärischer Gewalt oder, wie etwa in Brasilien, durch das Abhängigmachen einer Nation von Krediten.  „1827 (unterzeichnete der brasilianische) Kaiser Pedro I. eines der ungerechtesten Handelsabkommen der Geschichte als Gegenleistung für die britische Anerkennung seines Sklavenreiches: ein einseitiger Vertrag, der die Zölle für britische Einfuhren auf 15 Prozent beschränkte, während die Briten brasilianischen Kaffee mit Zolltarifen bis 300 Prozent belegen durften. Das Abkommen verwandelte Brasilien faktisch in ein britisches Protektorat. 

An der dürrebedingten Hungersnot von 1825, der allein in Ceará 30 000 Menschen zum Opfer fielen, zeigte sich die extreme ökologische Instabilität der hybriden Rinderzucht und Subsistenzökonomie. Die natürlichen Ressourcen des Sertão waren gefährlich überstrapaziert. Man ließ das Vieh nicht mehr ausschließlich auf den natürlichen Weiden, sondern auch in den früher weit abgelegenen Trockengebieten und auf waldigen Hügeln grasen, was Nutzungskonflikte mit der sich ausbreitenden Landwirtschaft an den Abhängen erzeugte. Was die Rinder auf den überlasteten Weideflächen übrig ließen, sammelten die Landbesetzer als Viehfutter oder Feuerholz ein. Die zahllosen Viehpfade, die sich in die unfruchtbaren und verwitterten Böden eingegraben hatten, beschleunigten die Erosion. (Sie) verwandelten Teile des Hinterlandes in eine Wüste und veränderten vermutlich damit auch das Klima.“
An der von Königin Victoria propagierten liberalen Wirtschaftspolitik sollte die ganze Welt genesen. In ihrem Empire wurden Produkte für den Export großflächig und in Monokultur angepflanzt, während für die Versorgung der Bevölkerung nur noch die weniger ergiebigen Felder zur Verfügung standen. Die Landwirtschaft wurde in den Warenkreislauf eingebunden und das über Jahrhunderte entstandene System der gegenseitigen Hilfe, das traditionell für das Wohl der Armen gesorgt und bei Ernteausfällen Vorsorge getroffen hatte, zerstört. Deshalb seien diese Hungersnöte kein tragischer Zufall oder eine Heimsuchung göttlichen Schicksals gewesen, sondern von Menschenhand fabriziert. Oder wie es Davis ausdrückt, von Imperialistenhand fabriziert. 

Der Autor beschreibt die Konsequenzen des 1821 von Großbritannien eingeführten Goldstandards. Plötzlich überfluteten riesige Mengen entwerteten Silbers den Weltmarkt und Indien und China taumelten in eine Währungskrise. Die Inflation brachte dort die Bauern um ihre Ersparnisse und machte sie von einem auf Wucherzinsen beruhenden Kreditsystem abhängig. Gleichzeitig gaben englische Techniker die Brunnenbewässerung auf und stellten auf Kanalbewässerung um, was die Erosion förderte. Zitat:
„Alle Beobachter Indiens in der Mitte der viktorianischen Ära – von Karl Marx bis Lord Salisbury – hatten mit ihrer optimistischen Einschätzung einer schnellen wirtschaftlichen Transformation des Landes, vor allem der Fortschritte im Eisenbahnbau, die fiskalischen Konsequenzen einer solchen ‚Modernisierung’ außer Acht gelassen. Die Steuern, mit denen die Eisenbahn finanziert wurde, führten zur Unterjochung der indischen Bauern. Sie konnten sich nichts mehr zu essen kaufen. Die Preisexplosion war dafür verantwortlich, dass selbst in Bezirken mit ausreichender Wasserversorgung die Armen langsam verhungerten.“ Die Zentralregierung unter Lord Lytton, dem Lieblingsdichter Königin Victorias, verhinderte die Anlegung von Getreidevorräten. 

Die Märkte sollten den Hunger begrenzen, meinte Lytton und verkündete die orthodoxe Lehrmeinung, dass hohe Preise ein „natürlicher Ausweg“ seien, weil sie die Importe stimulierten und den Konsum einschränkten. Er verhinderte staatliche Eingriffe um die Lebensmittelpreise zu senken. Statt Hungernde vor Ort zu retten, exportierten die Getreidehändler zwischen 1877 und 78 lieber die Rekordmenge von 6,4 Millionen Zentner Weizen nach Europa. In England war die Ernte schlecht ausgefallen, die Preise gestiegen – da waren die Importe aus Indien ein glänzendes Geschäft. Vizekönig Lytton schickte den stellvertretenden Gouverneur von Bengalen als Hungerbeauftragten in den Süden Indiens. Und der strich zuerst einmal die Hungerprogramme. In Madras zwang er die hungerleidenden Arbeitsuchenden ihre Dörfer zu verlassen und in Massenunterkünfte zu ziehen, um Eisenbahnen und Kanäle zu bauen. Diese Kulis erhielten ein Pfund schlechten Reis pro Tag – das war weniger als die Lebensmittelration der Zwangsarbeiter im KZ Buchenwald. 1877, dem Jahr des Wetterphänomens El Niño, waren 36 Millionen InderInnen direkt vom Hungertod bedroht. Dann blieb auch der Monsun aus und die Temperaturen stiegen erbarmungslos. Da aber Lytton an der Wartung der Wasserspeicher gespart hatte, konnte Regenwasser nicht aufgefangen werden. Die Felder wurden hart wie gebrannte Ziegel. El Niño erwärmte das Wasser der Bucht von Bengalen und förderte das Blühen von Phytoplankton, der Brutstätte für Cholerabakterien. Es folgten Orkane und die Seuchen besiegelten den Tod von Millionen Unterernährten. 

Wirtschaftshistoriker – konservative wie marxistische – erklären den Massenexodus im 19. Jahrhundert in der Regel mit dem Hinweis, dass die beginnende Industrialisierung Menschenleben hätte retten können und dass leider die Kolonialgebiete zum damaligen Zeitpunkt nicht entwickelt gewesen wären. Davis widerspricht. Nicht die mangelnde Industrialisierung, sondern gerade die Industrialisierung gekoppelt mit der Zerstörung traditioneller Formen des Katastrophenschutzes sei an den Hungersnöten schuld. 
„Was ist von den selbstgefälligen Behauptungen über die lebensrettenden Vorteile dampfbetriebener Transportmittel und des modernen Getreidehandels zu halten, wenn so viele Millionen Menschen, vor allem in British-Indien, entlang der Eisenbahnlinien und auf den Schwellen der Getreidespeicher verhungerten? 

Und wie beurteilen wir im Falle Chinas den drastischen Rückgang bei den staatlichen Investitionen und in der öffentlichen Wohlfahrt, vor allem bei der Hungerhilfe, der offenbar unmittelbar der durch England und anderer Großmächte erzwungenen ‚Öffnung’ hin zur Modernität erfolgte? Wir haben es nicht mit ‚Hungerländern’ zu tun, die im Brackwasser der Weltgeschichte ins Abseits gerieten. Sondern es geht um das Los der Menschheit in den Tropen, das sich just zu einem Zeitpunkt (1870 bis 1914) änderte, als deren Arbeitskraft und Produkte zwangsweise in die Dynamik der von London gesteuerten Weltwirtschaft integriert wurden. Millionen starben nicht außerhalb des modernen Weltsystems, sondern im Zuge des Prozesses, der sie zwang, sich den ökonomischen und politischen Strukturen anzupassen.“ Was wäre die Alternative gewesen? Die traditionelle Subsistenzwirtschaft hätte nicht genügend Lebensmittel für die anwachsende Weltbevölkerung produzieren können. Das weiß sicher auch Davis. Aber die Antwort bleibt er schuldig.

Mike Davis, Die Geburt der Dritten Welt, Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter. Übersetzung: Ingrid Scherf, Brtitta Grell und Jürgen Pelzer. Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2004, 464 Seiten, 29,50 Euro