Die solidarökonomischen Initiativen gehen häufig von Kindern und Jugendlichen aus, die auf städtischen Straßen und Plätzen ihren Lebensunterhalt verdienen. Bei Schuhputzern zum Beispiel entstehen kooperative Formen der Arbeitsorganisation, um den eigenen Handlungsraum abzusichern oder zu erweitern. Sie treffen Absprachen über Orte und Zeiten, an denen sie jeweils arbeiten, oder sie tun sich zusammen, um sich gegen erwachsene Konkurrenten zu wehren, die ihnen den Arbeitsplatz streitig machen. Um sich in Notlagen gegenseitig helfen zu können, legen sie mitunter eine gemeinsame Kasse bzw. einen Solidaritätsfonds an, aus dem sie andere Kinder unterstützen, die krank geworden sind oder einen Unfall hatten.
Wenn es zu weitergehenden Organisationsbildungen kommt, entstehen auch komplexere Arbeitsformen, die mehreren Kindern und Jugendlichen zugleich selbstbestimmtes Arbeiten ermöglichen und über die sonst im Alltag möglichen Formen der gegenseitigen Hilfe hinausgehen. Es handelt sich um kollektive Versuche, Arbeitsformen, die auf Ausbeutung basieren, durch Arbeitsformen zu ersetzen, in denen die ethischen Maximen der Solidarität, des Respekts und der Menschenwürde gewährleistet sind. Auf diese Weise entstand z.B. in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá ein Projekt, das sich La Cosecha (Die Ernte) nennt. In fünf Gruppen mit jeweils ca. zehn Personen taten sich Kinder, die bisher auf einem großen Markt als Lastenträger, Müllsammler etc. gearbeitet haben, mit einigen erwachsenen Frauen zusammen. Mit Haushalten, Hotels oder Restaurants treffen sie Vereinbarungen über die Lieferung von Obst und Gemüse. Anhand der jeweiligen Nachfrage ihrer Vertragspartner kaufen die Cosecha-Gruppen frühmorgens in größeren Mengen und zu den günstigsten Bedingungen die Ware auf dem Markt und liefern sie direkt an die vereinbarten Bestimmungsorte. Dabei kommen ihnen die Erfahrungen und Kenntnisse zugute, die sie als „Insider“ des Marktgeschehens zuvor erworben haben. Die Organisation des Ein- und Verkaufs sowie die ökonomische Kalkulation liegt in den Händen der ganzen Gruppe. Der zur Lagerung benötigte Platz auf dem Markt und einen kleinen Lieferwagen, der von allen Gruppen in Absprache benutzt wird, wird ihnen gegen ein geringes Entgelt bzw. auf Kreditbasis von einer Stiftung zur Verfügung gestellt, die Projekte mit arbeitenden Kindern fördert.
Ein anderes Beispiel in Bogotá ist die Gruppe der Choqui Raps. Mehrere Mädchen im Alter von 11 bis 13 Jahren stellen gemeinsam diverse Arten von Süßigkeiten her und verkaufen sie in ihrem Stadtviertel. Die hierfür erforderlichen Kenntnisse haben sie in der Regel von ihren Müttern erworben. Andere Kinder desselben Stadtviertels haben sich zusammengetan, um Marmelade und Obstsäfte zu produzieren. Bewusst achten sie darauf, dass ihre Produkte eine bessere Qualität haben, als es sonst bei den in ihrem Viertel verkauften vergleichbaren Produkten der Fall ist. Bei der Produktion und Vermarktung lassen sie sich von einigen sachkundigen Erwachsenen beraten, ohne freilich Entscheidungen aus der Hand zu geben.
Als ein „produktives Projekt“ der Bewegung der arbeitenden Kinder Perus (MNNATSOP) entstand in einem Armenviertel von Lima eine Werkstatt, in der neun Kinder und Jugendliche zwischen 13 und 17 Jahren in eigener Regie einfache Gebrauchsmöbel herstellen, die für die BewohnerInnen des Viertels erschwinglich sind. Sie sind seit Jahren in der Kinderbewegung aktiv und haben dort die Idee und die nötigen technischen und organisatorischen Kenntnisse für den Betrieb der Werkstatt erworben. Anstatt vieler Stunden, wie in ihren zuvor ausgeübten Kinderjobs, arbeiten sie jetzt nicht mehr als vier Stunden pro Tag und besuchen am Nachmittag eine Schule. Bei der Möbelproduktion greifen sie Wünsche und Vorschläge von Nachbarinnen auf, und ihre Kundschaft ist inzwischen so zahlreich, dass sie nach eigenem Bekunden ein ausreichendes Einkommen erzielen.
Von der peruanischen Kinderbewegung MANTHOC wird die Gründung selbstorganisierter Werkstätten seit Jahren propagiert und gefördert. Auf ihre Initiative entstanden beispielsweise Kooperativen, in denen Kerzen, Glückwunschkarten, Lederwaren, Gebäck oder Brot hergestellt werden. Das Alter der Kinder und Jugendlichen variiert je nach Produktionsart. In einer Kerzen-Werkstatt sind zehn Mädchen und zwei Jungen im Alter von 12 bis 16 Jahren tätig, die zeitweise auch jüngeren Kindern ihre Erfahrungen und Kenntnisse vermitteln. An der Gebäckherstellung sind Jungen und Mädchen zwischen 12 und 15 Jahren beteiligt. Die Produktion erfolgt teilweise auf Bestellung, zum Teil werden die Produkte auch von den Kindern auf Straßen und Märkten verkauft. Eine von zwei Jungen und einem Mädchen betriebene Bäckerei in Lima verfügt über einen eigenen Verkaufsladen an einem verkehrsgünstigen Ort. In der Regel befinden sich die Betriebe im Besitz der Kinderorganisation, die ihre Mitglieder auch bei der Beschaffung der notwendigen Investitionen, der Ausbildung und der Organisation des Verkaufs unterstützt.
Ein besonders bemerkenswertes Projekt ist eine Kooperative zur Herstellung von Erinnerungs- und Glückwunschkarten, an der über 80 Kinder im Alter von 11 bis 13 Jahren beteiligt sind, etwa je zur Hälfte Mädchen und Jungen. Die Kinder leben und arbeiten an verschiedenen, weit voneinander entfernten Orten Perus und nutzen die von MANTHOC installierten Internet-Anschlüsse, um Produktion und Verkauf zu koordinieren. Die Karten werden von den Kindern selbst gemalt und gedruckt. Sie teilen sich die Arbeit so ein, dass sie genügend Zeit zum Spielen und für den Schulbesuch haben. Der Verkauf erfolgt größtenteils auf der Straße, reicht aber dank der internationalen Kontakte von MANTHOC auch bis in europäische Länder. Mit den Einkünften unterstützen die Kinder ihre Familien, nutzen sie aber auch, um gemeinsame Ausflüge zu organisieren und einen Fonds für besondere Ereignisse zu unterhalten. Ein Teil der Einkünfte wird für Investitionen in Produktion und Vertrieb verwendet. Die Kinder identifizieren sich so stark mit ihrer Kooperative, dass sie sich einen spezifischen Namen zugelegt haben: Sie nennen sich Tarjeta-NATs (arbeitende Kinder = NATs, die Karten = tarjetas herstellen). Mittlerweile unterhält die peruanische Kinderbewegung ein eigenes Finanzierungssystem (PROMINATs = Programa de microfinanzas de los NATs), mit dem sie die Gründung von selbstverwalteten Kinder- und Jugendkooperativen in ganz Peru ermöglichen will. Sie versteht dieses Programm nicht nur als Notbehelf, sondern als Teil des Kampfes um eine Gesellschaft und Ökonomie, die nicht auf Profit ausgerichtet ist, sondern sich an ethischen Maximen gegenseitiger Solidarität orientiert. Außerdem will sie auf diese Weise dazu beitragen, dass die Kinder ihr Recht auf Bildung und Gesundheit ausüben können.
Die solidarökonomischen Projekte, die im Kontext der Kinderbewegungen entstehen, sind das Ergebnis langjähriger Prozesse, an denen schon mehrere Generationen von arbeitenden Kindern und Jugendlichen beteiligt waren. Den Hintergrund bildet ein teilweise auf indigenen Traditionen basierendes Familien- und Arbeitsverständnis, das es den Kindern als selbstverständlich erscheinen lässt, sich an der lebensnotwendigen Arbeit zu beteiligen und ihren Familien in der Not beizustehen. In der Kinderbewegung wiederum haben sie im Lauf der Jahre gelernt, auf ihrer menschlichen Würde zu bestehen und Rechte für sich in Anspruch zu nehmen. Sie sind nicht mehr bereit, über sich nach Belieben verfügen zu lassen, sondern wollen auch in der Arbeit als Subjekte respektiert werden. Als weiterer Impuls für alternative Arbeitsformen kommt hinzu, dass sich in den meisten den Kindern zur Verfügung stehenden Jobs die Arbeitsbedingungen kaum verbessern lassen. Die beispielhaft beschriebenen solidarökonomischen Projekte konnten gleichwohl nur entstehen, da die Kinder und Jugendlichen die Unterstützung erwachsener BeraterInnen finden. Diese sind meist in Nachbarschaftsgruppen, sozialen Bewegungen oder humanitären Organisationen aktiv, die sich an Grundgedanken der Befreiungspädagogik (Educación Popular) orientieren und sich für Menschenrechte und alternative gesellschaftliche Entwürfe stark machen. Auf diese Weise sind viele Kinder und Jugendliche auch mit den Ideen und Erfahrungen solidarischer Ökonomie vertraut und zu entsprechenden Initiativen ermutigt worden.
In Lateinamerika ist die solidarische Ökonomie sowohl von libertären Traditionen und Strömungen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung (vor allem des Anarchismus und Syndikalismus), als auch von einem sozial verantwortlichen, den Armen verpflichteten Christentum beeinflusst. Teilweise verbindet sie sich auch mit gemeinschaftsorientierten indigenen Traditionen und mit Vorstellungen einer „anderen (humanen) Entwicklung“ (desarrollo humano), die sich ausdrücklich von eindimensionalen, den „Fortschritt“ hypostasierenden Modernisierungskonzepten (desarrollismo) absetzt. Einer der wichtigsten lateinamerikanischen Theoretiker der solidarischen Ökonomie ist der chilenische Soziologe Luis Razeto. Seine Überlegungen sind im Kontext der chilenischen Militärdiktatur und ihrer rigorosen neoliberalen Politik entstanden und von den Gedanken der christlichen Befreiungstheologie inspiriert. Sein Denken geht davon aus, dass die Menschen, die in Armut leben müssen und nicht auf „reguläre“ Weise (i.d.R. mittels Lohnarbeit und entsprechendem Erwerbseinkommen) ihren Lebensunterhalt bestreiten können, immer zu Formen der wirtschaftlichen Selbsthilfe gegriffen haben. Im Unterschied zu der vorherrschenden Gewohnheit, diese Art des Wirtschaftens als „informelle“ oder „unsichtbare Ökonomie“ zu bezeichnen, spricht Razeto von Economía Popular, um zum Ausdruck zu bringen, dass sich in ihr verschiedene Ressourcen und Fähigkeiten der in Not lebenden Menschen zu einem kooperativen Überlebenswillen verdichten.
Auch der peruanische Sozialwissenschaftler Aníbal Quijano hebt hervor, dass die auf Gegenseitigkeit und Gemeinschaftlichkeit basierenden Formen der Economía Popular nicht das Ergebnis ideologischer Entscheidungen oder intellektueller Visionen seien, sondern „notwendige Lösungen“ darstellten. Aber er bringt die Entstehung von Ansätzen solidarischer Ökonomie auch mit strukturellen Veränderungen der kapitalistischen Ökonomie in Verbindung. Nicht die Not an sich oder die Erinnerung an indigene Traditionen allein seien die treibenden Kräfte, sondern der Umstand, dass die Zahl der Menschen, die dauerhaft von der herrschenden Ökonomie ausgeschlossen werden, in den letzten Jahrzehnten angewachsen sei und die Ausgeschlossenen und Marginalisierten zu einem neuen Selbstbewusstsein gefunden hätten. Um gleichwohl nicht zu einem „Kapitalismus der Armen“ zu verkommen, hält Quijano es für erforderlich, die „interne Demokratie und die Fähigkeit, sich öffentlich darzustellen“, zu stärken, offensiv in die Debatte um die „Restrukturierung der Macht“ einzugreifen und namentlich die Beziehungen zwischen dem Politischen und Sozialen, zwischen Staat und Gesellschaft zu beeinflussen.
Solidarökonomische Projekte von Kindern werden in ähnliche Widersprüche verwickelt wie alle Versuche, aus der wirtschaftlichen und sozialen Not eine ethische Tugend zu machen. Bei allem Engagement, das in ihnen steckt, können einzelne Projekte solidarischer Ökonomie die Armut und ihre Gründe nicht aus der Welt schaffen. Jede Art von Selbsthilfe steht in der Gefahr, vom Staat als billige Lösung für Probleme instrumentalisiert zu werden, die eigentlich in seinen Verantwortungsbereich fallen. Dies kann so weit gehen, dass Kinder und Jugendliche als Protagonisten ihres eigenen Lebens umschmeichelt und zu „Unternehmern“ hochstilisiert werden, als seien vor allem sie es, die für ihre Situation verantwortlich und ihres Glückes Schmied sind. Um solchen Missdeutungen und Instrumentalisierungsversuchen zu entgehen, kommen die Subjekte solidarischer Ökonomie nicht umhin, sich mit den Gründen auseinander zu setzen, die für ihre Notlage verantwortlich sind, und darauf zu pochen, dass der Staat sich nicht aus seiner Verantwortung stiehlt. Von ihm ist beispielsweise zu verlangen, dass er kostenfreie und qualifizierte Bildungsmöglichkeiten bereitstellt, Kindern und Jugendlichen ermöglicht, „legal“ und unter menschenwürdigen Bedingungen zu arbeiten, aber auch den rechtlichen Rahmen schafft, der solidarökonomische Initiativen anderen Formen wirtschaftlichen Handelns mindestens gleichstellt. Dies wird umso eher zu erreichen sein, je mehr Kinder und Jugendliche unter den in ähnlicher Weise betroffenen gesellschaftlichen Gruppen, bei Gewerkschaften, NRO, Solidaritätsgruppen usw. Bündnispartner finden, die das Umfeld zu ihren Gunsten verändern und als unterstützende Kräfte wirksam werden.
Die meisten bisher gegründeten Kooperativen sind relativ stabil und werfen so viel Ertrag ab, dass die ökonomische Situation der Familien tatsächlich entlastet wird. Aber die Bedeutung der Kooperativen geht über den materiellen Ertrag hinaus. Sie ermöglichen den Kindern Erfahrungen, die sie in ihrer früheren Arbeit nicht hätten machen können. Sie gewinnen mehr Selbstvertrauen und lernen die Vorteile der selbstorganisierten und kooperativen Arbeit schätzen. Viele der Kinder übernehmen auch Verantwortung für andere Aufgaben in der Kinderbewegung, engagieren sich in Initiativen, die auf mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft abzielen und sind teilweise auch in der globalisierungskritischen Bewegung aktiv. Mit Blick auf den Export von Produkten aus den Kinder-Kooperativen entsteht gegenwärtig in Zusammenarbeit mit italienischen und deutschen Solidaritätsgruppen (ItaliaNats, ProNats) ein Zertifizierungsprojekt, an dem außer den lateinamerikanischen auch die Bewegungen arbeitender Kinder in Afrika und Asien beteiligt sind. Die Produkte erhalten ein Label, das ihre Herstellung und ihren Handel unter fairen Bedingungen bezeugt. Damit sollen die Organisationen des Fairen Handels in Europa und Nordamerika gewonnen werden, sich für die Produkte aus den Kinderkooperativen zu öffnen und ihnen so bessere Vertriebsmöglichkeiten zu verschaffen.