Geplünderte Körper

„Ich möchte nicht die zerquetschte Fliege sein, auch nicht die Ameise, die Biene, die Zikade. Und mit dem Affen hab ich ebenso wenig was zu tun. Ich habe das Recht auf ein Glas Wein, auf einen Platz im Bus, auf einen leeren Park. Ich habe das Recht…“ Die spärlich bekleidete, zierliche Frau hat einen verzweifelten Gesichtsausdruck.

Sie ist allein auf der Bühne. Ihr einziges Gegenüber sind mehrere weiße Bettlaken. Mal stehen sie für ein Kind, das sie in den Schlaf wiegt. Mal nutzt die Frau die Tücher, um sich zu verstecken. Oder sie zerreißt gehetzt ihren einzigen Bezugspunkt. Die 31jährige dominikanische Schauspielerin María Isabel Bosch erzählt in ihrem Stück „Las Viajerases“ die Geschichten ihrer Landsfrauen, die in Argentinien leben. Diese „Reisenden“ leiden unter der Kälte am Río de la Plata und schuften für Hungerlöhne, um ihr Flugticket abzubezahlen. Mehr als die Hälfte von ihnen arbeitet in der Prostitution. Aber auch diejenigen, die in anderen prekären Jobs, etwa als Hausangestellte, arbeiten, werden ausgebeutet, ihrer fundamentalen Rechte beraubt und gedemütigt – z.B. wegen ihrer Art zu sprechen: Die grammatikalisch falsche Pluralbildung im Spanischen, an alle Wörter die beiden Buchstaben „es“ anzuhängen, ist unter weniger gebildeten DominikanerInnen geläufig. Deshalb auch „Las Viajerases“. Das sehr dichte Ein-Frau-Stück entlässt sein Publikum mit ausgetrocknetem Mund und leichten Brustschmerzen. Schließlich haben die dargestellten Lebensgeschichten wenig bis gar nichts mit einer Telenovela zu tun. Die Schauspielerin, Regisseurin und Autorin des Stücks ist nach ihrer Tour-de-force auf der Bühne auch ein wenig erschöpft. Erfreulicherweise hat sie aber noch genug Energie, um der ila für ein Gespräch zur Verfügung zu stehen.

Wie lange machst du schon Theater?

Mit neun Jahren nahm mich meine Oma zu einer Theateraufführung mit. Ich war beeindruckt von diesen Personen, die so überzeugend Geschichten vermitteln konnten. Ich verliebte mich in diese Welt, trat in sie ein und habe seitdem nicht mehr von ihr lassen können. Zunächst spielte ich in Kindertheatergruppen, später machte ich eine Ausbildung an der staatlichen Schauspielschule. In Spanien habe ich auch Schauspiel studiert und seitdem mache ich immer wieder Kurse – bei der Schauspielerei hörst du nie auf, dich weiter zu entwickeln! 

Erzähl uns von der Entwicklung deines Stücks „Las Viajerases“!

Ich lebe seit sieben Jahren in Argentinien. Damals kam ich mit meinen Eltern hierher, die in der dominikanischen Botschaft in Buenos Aires arbeiten. Ich arbeite dort auch in der Kulturabteilung. So bekam ich die verschiedenen Geschichten der dominikanischen Frauen, die in der Prostitution arbeiten, hautnah mit und sie ließen mich nicht mehr los. Ich wollte diese Erfahrungen ans Licht der Öffentlichkeit bringen und bestimmte Dinge anklagen, zumal es gegen Ende der 90er Jahre immer mehr wurden, die über Menschenhändlerringe nach Argentinien gelangten: 1998 kamen z.B. innerhalb von drei Monaten mehr als 4500 Frauen! Ein Teil von ihnen wusste, worauf sie sich eingelassen hatten, andere hingegen nicht. Ich begann Briefe zu schreiben, in denen ich ihre Geschichten festhielt: Ich gab ihre Erfahrungen wieder, so als ob diese Frauen sie ihren Familienangehörigen in Briefen erzählen würden. Aber in Santo Domingo fand ich keinen Verlag, der sie veröffentlichen wollte. So beschloss ich, daraus ein Theaterstück zu entwickeln. Schließlich ist das Theater mein eigentliches Werkzeug. Seit etwa zwei Jahren führe ich dieses Stück immer wieder auf, auch in der Dominikanischen Republik. 

Wie wurde das Stück in der Dominkanischen Republik aufgenommen?

Die Reaktionen waren sehr positiv. Wir haben im Zuge der Aufführungen mit Schulen und Universitäten zusammengearbeitet. Dort haben wir auch Diskussionsrunden organisiert, die mein Ehemann Diego moderiert hat. Die Diskussionsbeiträge waren beeindruckend. Einige LehrerInnen haben das Thema in ihren Unterricht aufgenommen und uns die Aufsätze dazu zukommen lassen. Dort lasen wir Sachen wie: „Ich wollte eigentlich auch weg gehen, aber jetzt will ich nicht mehr.“ Sie haben uns auch Zeitungsartikel über die Frauen auf dem Land, die rekrutiert werden sollten, geschickt. Mit diesem Programm wollen wir weitermachen. Bisher hatten wir lediglich in den Städten Auftritte, doch im März erfüllt sich mein Traum, das Stück auch auf dem Land aufzuführen, dort, wo es keine Theater gibt und wo die „Risikogruppen“ leben. 

Wer sind diese „Risikogruppen“? 

Normalerweise Analphabetinnen, Landarbeiterinnen oder Frauen aus sehr kleinen Dörfern, die zwischen 15 und 25 Jahre alt sind. Oft kollaborieren die eigenen Familien mit den Menschenhändlern. Viele Familien leben von den remesas, den Überweisungen der Angehörigen im Ausland. Diese Frauen werden las viajeras, die Reisenden genannt, daher auch der Name meines Stückes. 

Wenn euer Stück so gut angekommen ist, warum war es so schwierig einen Verlag für die Veröffentlichung der Briefe zu finden?

Zum einen handelt es sich nach wie vor um ein Tabu-Thema. Dazu kommt, dass ich in den Briefen und im Stück eine sehr einfache Sprache, wie sie auf der Straße gesprochen wird, verwende. Deshalb konnten sich die Journalisten der großen Medien oder die Verlagsmitarbeiter nicht für eine Veröffentlichung begeistern. Das war ihnen wahrscheinlich zu vulgär. Ich würde sie nach wie vor gerne veröffentlichen, vielleicht auch hier in Argentinien.

Im Stück verwendest du immer wieder Fragmente eines bestimmten Gedichts…

Dieses – sehr lange – Gedicht ist von dem Argentinier González Tuñón. Ich verwende einige Verse daraus für mein Stück.

Deine einzige Requisite in dem Stück sind weiße Bettlaken, die auf vielfältige Weise eingesetzt werden – warum?

Mir gefällt die Art von Theater, wo der Schauspieler oder ein guter Text im Mittelpunkt steht und der Kontakt zum Publikum sehr intensiv ist, also wenig davon ablenkt. Die Bettlaken spielen natürlich auch direkt auf das Thema Prostitution an. Durch ihre scheinbar neutrale Farbe und Struktur kann ich sie außerdem in verschiedene Dinge verwandeln und ihnen unterschiedliche Bedeutungen geben: Sie repräsentieren Personen, mit ihnen kann ich mich erhängen, dahinter verstecken…

Fühlst du dich nicht ganz schön nackt auf der Bühne?

Ja, aber genau darum geht es ja auch. Die spärliche Bekleidung kann für Verletzlichkeit stehen, aber in ästhetischer Hinsicht auch für die Tatsache, dass diese Frauen bzw. ihre Körper ausgeraubt, geplündert werden.

Offiziell sind in Argentinien Bordelle verboten. Wurde dein Stück deswegen hier als Tabubruch angesehen?

Eigentlich nicht, aber ich kann dir die Geschichte von einer Aufführung in einem sehr kleinen Theater erzählen, wo die Atmosphäre ziemlich intim war, da ich dem Publikum sehr nahe kam. Eine Frau in der zweiten Reihe ging raus, wartete aber draußen auf mich. Sie warf mir vor, dass das alles erstunken und erlogen sei und dass es diesen Frauen sehr gut ginge. Sie würden als Prostituierte arbeiten, weil sie es so wollten. Das war aber die einzige heftige ablehnende Reaktion, die mir untergekommen ist.
In einem kleinen Theater im Stadtteil Palermo sahen sich einige der dominikanischen Frauen, die in der Welt der Prostitution leben und arbeiten, mein Stück an und durchlebten so etwas wie eine kollektive Katharsis. Während der Entwicklung meines Stücks hatte ich mich häufig gefragt, was ich diesen Frauen über sie selbst erzählen sollte, über sie, die diese Geschichten am eigenen Leib erfahren haben. Woher nehme ich mir das Recht mich hierhin zu stellen und diesen Frauen ihre eigene Geschichte zu erzählen? Aber dadurch konnte sich z.B. bei dieser eben erwähnten Aufführung eine unglaubliche, tragische Energie entwickeln. Am Schluss haben wir alle geheult. Mein Stück ging dadurch natürlich in technischer Hinsicht den Bach runter. Aber für mich war es wie ein Geschenk des Himmels. Ich konnte ihnen damit sagen: Ich glaube an euch und eure Geschichten.

Dann erinnere ich mich noch an eine Hausangestellte, die sich das Stück anschaute. Sie hatte freitags immer frei. Sie kam am nächsten Freitag wieder, um sich das Stück noch einmal anzuschauen – eine Frau, die vorher vielleicht noch nie ins Theater gegangen war, kam an ihrem einzigen freien Tag in einem fremden Land ins Theater, um mich anzuschauen, die ihre eigene Geschichte erzählte, die sie selber doch viel besser kennt: wie sie von ihren ArbeitgeberInnen angebrüllt wird, wie sie fertig gemacht wird, weil sie sich angeblich dumm anstellt. 

Als ich dieses Stück zu entwickeln begann, war die Dominikanische Republik das viertwichtigste Exportland für Frauen, die in der Prostitution arbeiten, nach Brasilien, Thailand und den Philippinen – alles drei sehr große Länder im Vergleich zu meinem Land. Heute ist die Dominikanische Republik das wichtigste Exportland – und das in absoluten Zahlen, nicht proportional! Argentinien ist nach wie vor ein wichtiges Zielland. Nach der Krise von 2001 waren die Zahlen ein wenig zurückgegangen, sie sind dann eher nach Chile oder Spanien weiter gereist, aber zur Zeit kommen sie wieder zurück. Als ich mit den Nachforschungen zu diesem Thema begann, habe ich mir gedacht, dass irgendwas mit meinem Land nicht in Ordnung ist. Und ich weiß nicht genau, was nun ausschlaggebend ist: eine gewisse Unverantwortlichkeit von Seiten der Eltern, die hohen Scheidungsraten, die Armut, die Werte. Aber warum passiert nicht das Gleiche in anderen Ländern, die genauso arm sind? Irgendetwas hat dazu geführt, dass es die Dominikanische Republik so stark betrifft. Aber ich konnte nicht herausfinden, was es ist.