Gescheitert oder nicht?

Im September 2008 erschütterte ein Ereignis Mexiko wie schon lange kein anderes mehr. Das Land war im Fieber wegen der Feiern zum Unabhängigkeitstag. Traditionell rufen an diesem Tag Staatsbeamte den Grito de los Excluidos („Schrei der Ausgeschlossenen“) auf den zentralen Plätzen des Landes aus. So auch der Gouverneur des zentralmexikanischen Bundesstaates Michoacán auf dem Zocalo der Distrikthauptstadt Morelia. Was der Höhepunkt des Jahres hätte sein sollen, endete in einem unerwarteten Blutbad. Eine in der Menschenmenge gezündete Granate tötete neun Menschen und verletzte über 100. Kurze Zeit später bekannte sich die Drogenmafia zu dem Anschlag. Damit war der seit mehreren Jahren unter der Oberfläche schwelende Konflikt zwischen Drogenkartellen und Staat endgültig an die Oberfläche gelangt und das Sicherheitsproblem offensichtlich geworden. Der im Dezember 2007 von Präsident Calderón ausgerufene „Krieg gegen die Drogen“ war im Bewusstsein der Bevölkerung angekommen. Aber ist das, was sich in Mexiko abspielt, tatsächlich ein Krieg?

In der Kriegsursachenforschung wird mit zwei Kriegsdefinitionen operiert, einer quantitativen und einer qualitativen. Die quantitative Definition, wie sie beispielsweise das Oslo International Peace Research Institute (PRIO) verwendet, arbeitet mit einer Schwelle von 1000 „battle related deaths“, also direkt dem Konflikt zuzuordnende Opfer, um von einem Krieg zu sprechen. Dabei spielt es für die Definition keine Rolle, ob die Toten Zivilisten oder Angehörige von Milizen oder staatlichen Sicherheitsorganen sind. In Mexiko kamen allein im Jahr 2008 über 5000 Menschen im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Drogenmafia und Staat ums Leben. Daher kann man der quantitativen Definition des PRIO zufolge von einem Krieg sprechen. Bei der qualitativen Definition, wie sie vor allem das Heidelberger Konfliktbarometer (HIIK) benutzt, spricht man von einem Krieg bei Anwendung von Gewalt mit einer bestimmten Kontinuität und auf organisierte und systematische Art und Weise. Des Weiteren muss eine massive Zerstörung über längere Zeit vorliegen und die Gewalt von organisierten Gruppen ausgehen. Mindestens eine davon muss ein staatlicher Akteur sein. Seit 2008 ordnet das HIIK den Konflikt in Mexiko als Krieg ein. Insofern sprechen beide Indikatoren dafür, von einem Krieg zu sprechen. Beide Definitionen sind jedoch noch sehr stark vom Bild des zwischenstaatlichen Krieges geprägt.

In der neueren Kriegsforschung dreht sich aus diesem Grund die zentrale Diskussion um eine quantitative und qualitative Veränderung des Krieges, die vor allem seit den 90er Jahren Einzug gehalten habe. Herfried Münkler und Mary Kaldor haben dafür den Begriff des „Neuen Krieges“ geprägt. Aus der empirisch nachweisbaren Abnahme zwischenstaatlicher Kriege und einer Zunahme innerstaatlicher Kriege leiten sie einen fundamentalen Formenwandel des Krieges ab. Als Beispiele gelten die Balkankriege oder die Bürgerkriege und Völkermorde in Afrika. Hauptmerkmale sind dabei die Ökonomisierung und Entzivilisierung des Krieges. Des Weiteren sind ZivilistInnen die Hauptopfer der Kriege geworden. In den entstehenden Gewaltmärkten, so die Theorie, haben die Kriegsparteien ein rein ökonomisches Interesse an der Fortführung des Krieges und machen somit einen Friedensschluss unmöglich. Das klassische Kriegsbild dagegen bezieht sich auf den zwischenstaatlichen Krieg zwischen den Armeen von zwei oder mehr Staaten, der hauptsächlich auf dem Schlachtfeld ausgetragen wurde. Seit der Haager Landkriegsordnung Ende des 19. Jahrhunderts bis zu den Zusatzprotokollen der Genfer Konvention 1977 wurde zunehmend versucht, diese Kriege durch Regeln zu kodifizieren. Dass dies weder den Ersten und Zweiten Weltkrieg noch andere extrem brutale und opferintensive Kriege verhinderte, ist allgemein bekannt. 

Münklers Theorie vom „Neuen Krieg“ hatte vor allem in der Politik und den Medien großen Erfolg. Seine vereinfachten Thesen passten ins Zeitbild einer medial vermittelten, immer brutaler werdenden Welt, in der die Sicherheit der westlichen Welt angeblich von Bürgerkriegen in Afrika und auf dem Balkan bedroht wird. Insofern wurde die These vor allem von westlichen Militärstrategen begeistert aufgenommen, die daraus Legitimationen für militärische Interventionen und weltweite Sicherheitskonzepte ableiteten. Die These der Entzivilisierung und Brutalisierung der Gewalt lässt jedoch vergessen, dass die Barbarisierung des Krieges mit der Massenvernichtung des Ersten und Zweiten Weltkrieges ihren Höhepunkt fand. Die These von der Ökonomisierung tendiert dazu, die sozialen Ursachen von Kriegen nicht ausreichend zu berücksichtigen. 

Der mexikanische Drogenkrieg ist ein klassischer innerstaatlicher Krieg. Der Staat steht privaten Gruppen – der Drogenmafia – gegenüber, die ihre regionale politische und ökonomische Macht gegenüber dem Staat verteidigen bzw. untereinander um die Vorherrschaft kämpfen. Die Drogenmafia wird ausschließlich von ökonomischen Interessen getrieben und ist somit von denjenigen Akteuren zu unterscheiden, die für politische Ziele kämpfen. Es geht um die Kontrolle über die Einkünfte aus dem Drogengeschäft und um die Absicherung der Transportwege in die USA sowie der Drogenproduktion in Mexiko. Damit kann die Drogenmafia als Paradebeispiel eines privaten Gewaltakteurs gelten, der ausschließlich aus ökonomischen Gründen handelt. Soziale Faktoren sind in diesem Fall lediglich als konfliktverlängernde Faktoren zu sehen. Zu nennen sind hierbei z.B. Kleinbauern, die ihr Einkommen durch die Drogenproduktion aufbessern, oder mittellose Jugendliche, die sich aus ökonomischen Gründen den Banden, die für die Kartelle arbeiten, anschließen. Im Grunde genommen handelt es sich bei den Drogenbanden um Organisierte Kriminalität, die sich zum Krieg ausgeweitet hat.

Eine Zeit lang waren die Opfer der Auseinandersetzungen vor allem Sicherheitskräfte und Bandenmitglieder. Mit der Radikalisierung des Konflikts wurden jedoch zunehmend auch ZivilistInnen Opfer der Gewalt von beiden Seiten. Die Drogenmafia fühlt sich als privater Akteur an keinerlei Abkommen zum Schutz von ZivilistInnen gebunden. Die mexikanische Regierung dagegen ist theoretisch verpflichtet, sich an die Regeln des Humanitären Völkerrechts zu halten. Trotz allem werden immer wieder Stimmen laut, die der mexikanischen Armee massive Menschenrechtsverbrechen im Kampf gegen die Drogenmafia vorwerfen (siehe Beitrag auf S. 16). Mit der Diskussion über die „Neuen Kriege“ kam auch der Begriff der „asymmetrischen Kriegsführung“ wieder auf. Dahinter verbergen sich letztlich klassische Methoden der Aufstandsbekämpfung, wie sie in Lateinamerika seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts praktiziert werden, mit dem Ziel, einen Gegner, beispielsweise eine Guerillabewegung zu besiegen. Die gleiche Logik wird auch im Krieg gegen die Drogenproduzenten und -händler angewandt. Militarisierung der Polizei und Spezialausbildungen für die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität gehören hier ebenso zum Programm und ergänzen sich hervorragend mit den Methoden der Aufstandsbekämpfung. Hier besteht die große Gefahr (und berechtigte Vermutung – d. Säz.), dass der mexikanische Staat unter dem Vorwand der Bekämpfung der Drogenmafia auch gegen soziale und bäuerliche Bewegungen, die für sozialen Wandel kämpfen, vorgeht. 

Der Verlust der effektiven Ausübung der Staatsgewalt und die vermeintliche Gefahr für den Weltfrieden, die davon ausgeht, wird jährlich mit dem Failing State Index gemessen. Auf dem von der Zeitschrift Foreign Affairs veröffentlichten Index befindet sich Mexiko erstaunlicherweise nur im unteren Viertel auf Platz 105. Weitere Kriterien für Failed States sind z.B. wachsender demographischer Druck, massive Flüchtlingsbewegungen, massive Menschenrechtsverbrechen und eine Delegitimierung des Staates. Von einem Failing State spricht man, wenn die Staatsordnung in Gefahr ist. Ist sie komplett zusammengebrochen, so spricht man von einem Failed State. Kritisch ist zu betrachten, dass vor allem die USA und einige Länder der EU die Einstufung eines Staates als Failing State als Rechtfertigung für eine militärische Intervention betrachten. In Mexiko kann man in einigen Regionen sicherlich von einer Erosion oder gar dem Nichtvorhandensein der Staatsgewalt sprechen. Polizei und Militär haben dort die Situation nicht mehr unter Kontrolle. Zudem ist der Staatsapparat durch Korruption zersetzt, die Straflosigkeit auf extrem hohem Niveau. Trotzdem kann man Mexiko den Indikatoren zufolge weder als einen Failed noch als einen Failing State bezeichnen. Der Konflikt birgt jedoch das Risiko, zu einer weiteren Erosion des staatlichen Gewaltmonopols beizutragen und durch die rein militärische Herangehensweise politische Legitimation zu verspielen. 

Die zentrale Frage ist, ob eine Stärkung des staatlichen Gewaltmonopols eine Lösung darstellt bzw. wie Alternativen dazu aussehen könnten. Die Latin American Commission on Drug and Democracy, der ehemalige lateinamerikanische Staatspräsidenten wie Ernesto Zedillo und Henrique Cardoso angehören, bezeichnete im Winter 2008 den Krieg gegen die Drogen als gescheitert. Die rein militärische Herangehensweise wird vor allem von WissenschaftlerInnen und der Zivilgesellschaft heftig kritisiert. Die ohnehin fragwürdige Menschenrechtsbilanz Mexikos verschlechtert sich durch den Krieg und seine Folgen nur noch mehr. Viele Schwächen im Staatsapparat, die sich heute zeigen, sind die ungelösten Folgen des über 70 Jahre herrschenden klientelistischen Machtsystems der ehemaligen Staatspartei PRI. Die enge Kooperation und die massive finanzielle Unterstützung mit 1,4 Milliarden US-Dollar durch die USA im Rahmen der Initiative Mérida zeigen, dass hier der kolumbianische Weg des Drogenkrieges weitergeführt werden soll. Dabei bleiben die Abnehmerländer der Drogen und damit ein Versuch der Nachfragekontrolle zur Eindämmung des Problems außen vor. Das Gleiche gilt für eine effektive Kontrolle von Kleinwaffen und deren Schmuggel über die US-amerikanische Grenze.