Geschichte in kleinen Geschichten

Esther Andradis Kolumnen aus und über Berlin

Die in Argentinien geborene und in Berlin lebende Esther Andradi ist eine engagierte Autorin sowohl literarischer als auch journalistischer Arbeiten. Eine der Textformen, in der sie beides verbindet, sind Crónicas, ein Genre, das mit Kolumnen im deutschsprachigen Raum vergleichbar ist. Crónicas sind vergleichsweise kurze Einwürfe, in denen SchriftstellerInnen und PublizistInnen meist in einem regelmäßigen zeitlichen Turnus ihre Beobachtungen und Überlegungen zu einem von ihnen gewählten Thema darlegen. Im spanischen Sprachraum hat dieses Genre eine lebendige Tradition, fast jede Tageszeitung und viele Zeitschriften publizieren regelmäßig Crónicas bekannter AutorInnen.

Unter dem Stichwort „Aufgelesen“ veröffentlichte die ila in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre regelmäßig Crónicas – meist im Umfang zwischen einer halben und ganzen ila-Seite – von Esther Andradi aus Buenos Aires. Damals war die Autorin für einige Jahre in die argentinische Hauptstadt gezogen, ihr Lebensmittelpunkt ist aber seit 35 Jahren Berlin. Und aus dieser Stadt hat sie seit 1982 Crónicas für peruanische, argentinische und mexikanische Zeitschriften verfasst, die 2015 gesammelt in Spanien und nun auch in deutscher Übersetzung von Margrit Klingler-Clavijo im Berliner Klak-Verlag erschienen sind.

Esther Andradis Berlin ist auch unser Berlin. Aber gesehen mit dem – wie Feministinnen sagen – „schrägen“ Blick der Argentinierin, die als Journalistin LeserInnen in Lateinamerika die Stadt, in der sie seit 1982 lebte, nahe bringen wollte. Ihre Texte aus den ersten Jahren belegen ihre eigene Annäherung und ihr Staunen über das damalige bunte, schrille und multikulturelle (West-)Berlin, die sich in über sich hinausweisenden Anekdoten niederschlagen. Dann der Mauerfall und der epochale Umbruch, dessen Epizentrum nun das ganze Berlin war. Den 9. November 1989 und das Aufbrechen eines erstarrten Sozialismus bejubelt die Autorin, doch bereits in den Texten des Jahres 1990 schreibt sie mehrfach über die zunächst absehbare und dann reale Zerstörung der ostdeutschen Sozialsysteme. Als Feministin und Migrantin registriert sie, dass die Veränderungen nicht alle gleichermaßen betreffen, sondern stellt fest, dass die ostdeutschen Frauen mehr durch die Wende verlieren als die Männer, und spürt auch sehr früh, dass in der Parole „Wir sind das Volk“ unterschwellig mitschwingt „und ihr nicht“. Bedeutete dieser Ruf 1989 vielleicht noch, den Gegensatz zwischen den Parteibürokraten, die für sich beanspruchten, das Volk zu repräsentieren, auf der einen Seite und auf der anderen die vielen, die nicht mehr von diesen repräsentiert werden wollten, herauszuschreien, bekam er tatsächlich bald die Schlagseite „Wir Deutschen sind das Volk – und die Zugewanderten gehören nicht dazu“.

Dadurch, dass Esthers Crónicas immer in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den jeweiligen Ereignissen wie dem Mauerfall, dem Tag der Vereinigung oder den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen entstanden sind, laden sie die LeserInnen auf eine Zeitreise ein. Man und frau erinnert sich unverhofft, wie das damals war. Und merkt zugleich, dass „wir“ natürlich nicht das Maß aller Dinge sind. Was heute Rückblicke sind und Momente aus dem Vergessen hebt, die sofort oder später zentrale Bedeutung bekamen, waren damals Beschreibungen des Unmittelbaren, noch ohne das kennen, was am nächsten Tag geschehen würde.

Genau das ist das Spannende an den rund 30 Zeitungsbeiträgen – ihre Unmittelbarkeit, das Wunder, dass sich in der klaren Beschreibung dessen, was sich ereignet, das abzeichnet, was passieren wird. Gleichsam ein Tagebuch, das Esther Andradi häppchenweise an die Herausgeber verschiedener Zeitungen von Peru bis Mexiko schickte. Am Ende jedes Textes ist vermerkt, wann und wo der jeweilige Text erschien.

In einem letzten Teil schließen sich Betrachtungen an, die nach mehr als einem Jahrzehnt Abwesenheit nach Esther Andradis Rückkehr nach Berlin im neuen Jahrtausend entstanden sind, eine ganz anders – oder auch nicht – gewordene Welt beleuchten und nicht mehr das Geschehen selbst, sondern Orte, Menschen oder Kunstwerke in den Mittelpunkt stellen und daraus das Allgemeinere destillieren.
Diese „Briefe aus der Fremde“ waren natürlich spannend für LeserInnen in Lateinamerika, die nicht wissen konnten und nicht wissen mussten, dass Esther Andradi neben diesen absolut zeitnahen Zeitungsbeiträgen gleichzeitig ihre eigene Literatur entwickelte, die auf sehr viel tiefere Weise die Wirklichkeit reflektiert und erst viel später Verleger finden würde.

Ein alter JournalistInnenspruch behauptet, nichts sei so alt wie die Zeitung von gestern. Wenn man sich einzig der Aktualität verpflichtet sieht, mag das stimmen. Wenn man aber verstehen will, was heute geschieht, können die Zeitungen von gestern, vom letzten Jahr oder von vor zwanzig, dreißig Jahren äußerst aufschlussreich sein. In diesem Sinn ist es ein Geschenk, dass Esther Andradi ihre Crónicas aus über drei Jahrzehnten herausgesucht und eine spannende Auswahl daraus im Buch „Mein Berlin“ veröffentlicht hat.