An dem Forum haben Kinder, Jugendliche und Erwachsene teilgenommen. Gab es da einen wirklichen Dialog?
Liebel: Das Forum hat tatsächlich einen Dialog zwischen den Generationen möglich gemacht. Das war für die eingeladenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ungewohnt. Die Distanz drückte sich zum Teil in den Vorträgen aus. Die anschließenden Workshops haben aber dazu beigetragen, insbesondere über die Situation in Bolivien zu diskutieren. Für konkrete Forderungen war dann aber zu wenig Zeit.
Viele der Wissenschaftler waren das erste Mal in Bolivien. Aber zum Beispiel der Vortrag von Karl Hanson über die Politik der ILO hat geholfen zu verstehen, dass auch die ILO bis in die 80er-Jahre noch eine pragmatische Position vertreten hat. Einerseits sollte über die ILO-Konvention 138 ein Mindestalter fixiert werden. Aber gleichzeitig sah man auch Schutzmaßnahmen vor für Kinder, die erwerbstätig sind. Danach habe sich die Position der ILO immer mehr verhärtet und ideologisiert.
Woran liegt das?
Dafür sind leider vor allem die Gewerkschaften verantwortlich. Auch in Deutschland waren große Gewerkschaften in den 80er-Jahren noch offener, etwa die GEW. Die IG-Metall-Jugend engagierte sich für Partnerschaften mit den Bewegungen arbeitender Kinder. Aber mit dem Verdampfen der Solidaritätsbewegung ist auch das zurückgegangen. Inzwischen geht es nur noch darum, wie man möglichst schnell und umfassend die Kinderarbeit abschaffen kann. Das Thema Kinderarbeit ist vermutlich auch die einzig verbliebene Existenzberechtigung der ILO. Sie hat zwar im Bezug auf indigene Völker eine wichtige Konvention vorangebracht. Aber in Bezug auf Themen der Weltwirtschaft hat sie immer mehr an Einfluss verloren. Zur Kinderarbeit sagt die ILO, dass es im Jahr 2025 weltweit immer noch 121 Millionen Kinderarbeiter*innen geben wird, wenn der Kampf dagegen nicht verstärkt werde. Ich gehe davon aus, dass es noch mehr sein werden. Die ILO selbst unterscheidet ja zwischen Kinderarbeiter*innen und Kindern in ökonomischen Aktivitäten, die nicht mitgerechnet werden. Das heißt für mich aber auch, wie wichtig es ist, sich in den ganzen Jahren und später auch um deren Schutz zu kümmern. Doch in den Vorbereitungsdokumenten der ILO zur Konferenz in Buenos Aires gibt es keine Hinweise darauf, was man für diese arbeitenden Kinder zu tun gedenkt. Man will sie am liebsten verschwinden lassen.
Das bolivianische Kinder- und Jugendgesetz sieht Schutzmaßnahmen vor. Was kann die bolivianische Regierung diesbezüglich vorweisen?
Leider nicht viel. Das Gesetz war ein Kompromiss und seit über drei Jahren wird darum gerungen, wie es umgesetzt werden kann. Selbst innerhalb der Regierung gibt es unterschiedliche Auffassungen. Manche stehen hinter dem Schutzansatz des Gesetzes, der die positiven Aspekte produktiver Tätigkeit von Kindern im Rahmen ihrer Familien oder Gemeinden anerkennt. Andere wählen nur die Elemente aus, die nicht im Konflikt mit dem Ansatz der ILO stehen. So gib es jetzt einen von UNICEF finanzierten Leitfaden für die Anwendung des Gesetzes für die Jugendlichen. Das ist wirklich ein Fortschritt. Aber für die Jüngeren gibt es das nicht.
Seit der Verabschiedung des Gesetzes haben sich auch die Kräfteverhältnisse in der Regierung verschoben. Und wenn Persönlichkeiten der Regierung mit Einfluss keine klaren Signale von oben geben, wird es schwer sein, an der Basis mit praktischen Initiativen voranzukommen, vielleicht mit einer Ausnahme: Im Erziehungsministerium wird intensiv an alternativen oder ergänzenden Programmen gearbeitet, die der Bildung arbeitender Kinder nützen. Für das Forum in La Paz hatte ich gehofft, dass Präsident Evo Morales wenigstens ein Grußwort schickt. Dazu ist es aber nicht gekommen. Damals bei der Verabschiedung des Gesetzes war seine Positionierung ja ganz wichtig. Ein Problem des Gesetzes ist dabei, dass die Kinder nicht wirklich ein Recht zu arbeiten bekommen, sondern nur den Anspruch, eine Ausnahmegenehmigung beantragen zu können. Und das hat einen großen bürokratischen Aufwand zur Folge, der von dem Schutzauftrag ablenkt. Immerhin, in Cochabamba gibt es Bemühungen, die Erteilung der Arbeitsgenehmigungen in Zusammenarbeit unterschiedlichster Stellen, der Gesundheits- oder Arbeitsbehörde, Kinderrechtsbüros und NRO, pragmatisch und unbürokratisch umzusetzen. Da wird engagiert versucht, das Gesetz lebendig werden zu lassen.
Das nützt dann zumindest denen, die einen Arbeitsplatz im formellen Sektor finden, weil Kontrollmechanismen zur Einhaltung ihrer Rechte in Gang gesetzt werden.
Dieser pragmatische Ansatz ist wichtig. Aber er reicht nicht, auch wenn das Medienecho auf das Forum sehr groß war und die Journalistinnen und Journalisten gut informierte Fragen gestellt haben. Und wenn erfreulicherweise die Kinder und Jugendlichen mit vielen Zitaten zu Wort kamen: Man müsste in der Gesellschaft noch viel mehr Stimmung für eine umfassende Umsetzung machen.
Das ist ja auch eine Geldfrage…
Und der bolivianische Staat hat nicht so viele Ressourcen. Die Staatseinnahmen gehen zurück. Es ist aber auch eine Frage, wie man die vorhandenen Mittel verteilt. Offensichtlich wird der Anteil für Sozialpolitik derzeit reduziert. Bolivien könnte internationale Unterstützung gut gebrauchen. Aber durch die Ablehnung des bolivianischen Kinder- und Jugendgesetzes durch die ILO wurden Projekte zum Schutz arbeitender Kinder auch geblockt. Da sollten engagierte NRO in Europa stärker auf Kooperationsprojekte mit ihren Regierungen drängen, wo mehr Geld zur Verfügung steht als bei rein spendenfinanzierten Projekten, vor allem zur Unterstützung der Kinderrechtsbüros in den Munizipien. Das Personal muss geschult werden. Es muss reguläre Arbeitsverträge bekommen. Die Mitarbeitenden müssen die Kinderrechtsbüros als Unterstützungseinrichtungen zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitssituation der Kinder sehen, nicht als einfache Genehmigungsinstanz, selbst wenn dies zunächst nur in einigen Pilotregionen stattfindet, in denen man die Umsetzung erproben und auswerten könnte.
Das Forum war auch als Veranstaltung konzipiert, wo die Kinder und Jugendlichen mit staatlichen Stellen, bolivianischen Gewerkschaften, ILO und UNICEF in Dialog treten sollten. Die waren jedoch bis auf die zuständige Vizeministerin am Anfang, dann den Ombudsmann und Personal der kommunalen Kinderrechtsbüros kaum vertreten. Ist das Forum insofern gescheitert?
Es sieht so aus, als ob die Regierung die Umsetzung des Gesetzes nicht so stark vorantreiben will. Zumindest scheint sie sich nicht positionieren zu wollen. Dass die ILO sich der Debatte nicht gestellt hat, hatte ich erwartet. Die haben in der Zentrale in Genf nachgefragt und das wurde dann von oben entschieden. Trotzdem ist es ein Armutszeugnis. Und UNICEF betonte zwar am Ende ihres Absagebriefes, wie wichtig das Ereignis sei, begründeten die Abwesenheit jedoch damit, dass ihnen die Themen der Tagesordnung nicht zusagten. Das ist schade, denn sie hätten vermutlich andere Akzente eingebracht und die Debatte gefördert. Schließlich kamen aus der Zentralgewerkschaft Signale von Einzelnen, die Sympathie mit den Kindern hatten, aber sie wollten sich auch nicht öffentlich äußern. Wie überall auf der Welt stehen die Gewerkschaften beim Problem der Kinderarbeit auf der Bremse. Immerhin konnten die Kinder im Gästehaus der COB, der bolivianischen Gewerkschaftszentrale, unterkommen. Aber aufgrund der großen öffentlichen Resonanz gehe ich davon aus, dass das Forum Nachwirkungen auch in den staatlichen und anderen Institutionen hat.
Welche Alternativen gibt es, wenn sich die ILO nicht bewegt?
Einerseits muss mehr Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass es arbeitende Kinder auf lange Sicht weiter geben wird und deshalb Schutzprogramme nötig sind. Andererseits können die Organisationen arbeitender Kinder gestärkt werden, um sich in den Gesellschaften mehr Gehör zu verschaffen. In Bolivien ist dies durch den hohen Anteil indigener Bevölkerung und der Reaktivierung kultureller Traditionen noch einmal eine besondere Herausforderung. Denn der ganze Diskurs um Kinderarbeit ist sehr stark von westlichen Vorstellungen aus der Zeit der Entstehung des Kapitalismus geprägt, während es in den indigenen Sprachen nicht einmal ein Wort für Kinderarbeit gibt. Zwar hat die ILO 2010 eine Tagung zu Arbeit von Kindern in indigenen Kulturen veranstaltet, aber das hat sie nicht dazu gebracht anzuerkennen, dass die Situation arbeitender Kinder vielfältiger ist und dass sie differenziertere Unterstützungsangebote benötigen, als es in ihren Konzepten vorgesehen ist.
Die bolivianische Bewegung ist recht selbstbewusst und war erfolgreich, etwa mit der Einflussnahme auf die Verfassung und das Kinder- und Jugendgesetz. Warum ist dann die Unterstützung dieser Bewegung zurückgegangen? Entsprechen sie nicht dem Klischee hilfsbedürftiger Kinder?
Die Unterstützung kam ja wesentlich von NRO. Ich kann mir auch nicht erklären, warum viele sich jetzt so bedeckt halten. Ob sie die internationalen Kontroversen fürchten? Aber es gibt auch andere Erfahrungen. Das Forum in La Paz wurde zum Beispiel von der Sternsingeraktion finanziert. Das kann die Unterstützung der UNATSBO, der Organisation arbeitender Kinder und Jugendlicher Boliviens, natürlich nicht ersetzen. Die müssen arbeiten, zur Schule gehen und können nicht auch noch für lange Busfahrten aufkommen, um sich landesweit zu treffen und auszutauschen. Ohnehin bedeutet jede Veranstaltung für sie einen Einkommensverlust. Ich hatte auf dem Forum den Eindruck, dass die Delegierten der UNATSBO sehr konkrete Vorstellungen haben. Und sie sind auch ein Vorbild für andere Bewegungen. Aber ohne Kommunikation untereinander können sie nicht stärker werden.
Nach dem Forum gab es noch ein Treffen der Bewegungen arbeitender Kinder. Was ist dabei herausgekommen?
Sie haben zum Beispiel beschlossen, eine eigene Nachrichtenagentur zu gründen, um gezielt Meldungen aus der Welt der arbeitenden Kinder herauszubringen, nicht nur aus Lateinamerika. Ein anderer Punkt ist eine Datenbank mit Erfahrungen aus über 40 Jahren Bewegungen arbeitender Kinder: Erfolge, sogenannte „gute Praktiken“, aber auch Schwierigkeiten, aus denen auch spätere Generationen lernen können, Gesetzgebung, Organisation an der Basis, Bündnispolitik… Denn eine Schwierigkeit der Bewegungen ist es ja, angesichts der aufgrund der Altersbegrenzung hohen Fluktuation die Erfahrungen an die immer neuen Generationen zu überliefern.
Wichtig war auch die Anwesenheit von zwei Mädchen aus Afrika und eine bewegende Videokonferenz mit drei Kinderarbeiterinnen aus Indien, damit künftig trotz der Unterschiede in den Lebensbedingungen oder Strategien international mehr zusammengearbeitet wird.