Immer wieder hat die ila Texte zum Thema deutsches Exil in Lateinamerika veröffentlicht: Viele Lebensläufe, Berichte, Nachrufe, auch Erzählungen und Artikel von deutschstämmigen Autor*innen, die am Río de la Plata, in Bolivien oder Mexiko eine neue Heimat gefunden haben. Die Münchner Dokumentarfilmerin Henriette Kaiser reiste seit 2011 immer wieder nach Argentinien und führte Gespräche mit deutsch-jüdischen Geflüchteten, die als Kinder nach Buenos Aires gelangten. Entstanden ist daraus nicht nur filmisches Material, sondern auch das Buch „Goethe in Buenos Aires“, eine Sammlung sehr persönlicher Gespräche mit fünf Zeitzeug*innen über die Flucht aus Nazideutschland, Herausforderungen bei der Überfahrt und nach der Ankunft, das Heimisch-Werden, erlebte Ablehnung und Solidarität.
Weitere Gespräche führte Kaiser mit den Söhnen und Töchtern, die in Buenos Aires geboren wurden, über ihre Kindheit und Prägung durch die Fluchtgeschichte der Eltern und darüber, wie mit dem Thema in der Familie umgegangen wurde.
Gemeinsamer Aspekt bei allen, der auch den Titel des Buches erklärt: die Liebe zur deutschen Sprache und Kultur. Oder wie es die aus Köln stammende Liesel Bein im Gespräch 2014 ausdrückte: „Die Heimat konnten sie uns rauben. Unsere Kultur und Sprache aber nicht.“ Selbstverständlich ist dies nicht, denn „viele deutsch-jüdische Flüchtlinge haben“, so Kaiser im Vorwort, „mit der Ankunft im neuen Land ein für alle Mal bewusst mit Deutschland abgeschlossen. Nie wieder ein deutsches Wort.“
In den Gesprächen geht es immer wieder um die vielen Nazis, die nach dem Krieg nach Argentinien kamen, darum, ob es zu Kontakten, Konflikten oder neuen Verfolgungen kam. Die Antworten fallen durchaus unterschiedlich aus. Verblüffend, dass einige davon nichts mitbekamen; einerseits wollten die Nazis nicht auffallen, andererseits war „General Perón, der sie reingeholt hat, so raffiniert, sich nicht mit den verschiedenen Religionen anzulegen“, er habe „versucht, auch bei der jüdischen Bevölkerung gut Wetter zu machen. Es gab keine Verfolgungen, … nur kleine incidentes (Zwischenfälle), die überall geschehen können“, so der aus Ahlen bei Hannover stammende Rodolfo Lesser. Ganz anders die aus Dresden stammende Marion Weiß, die berichtet, was sie in Córdoba erlebt hat: „Da gab es ein Hotel, da hing ein Bild von Hitler an der Wand… Oder in La Cumbrecita… da war eine Konditorei, und an der Tür stand: Juden nicht erwünscht. Da sind wir auch nie wieder hingefahren.“
Besonders interessant ist die Lebensgeschichte des Ehepaares Moszkowicz. Renate stammt aus Graz und kommt Anfang der 1950er-Jahre mit ihrem Vater Armin Dadieu, der hoher steirischer Nazi und SS-Offizier war, nach Buenos Aires. Dort lernt sie ihren Mann fürs Leben kennen: den Auschwitzüberlebenden, Schriftsteller und Schauspieler Imo Moszkowicz, der sich 1954 in der argentinischen Hauptstadt aufhält, um seinen Vater zurückzuholen. Stattdessen wird Renate ihm nach Köln und Düsseldorf folgen.
In Buenos Aires lebt die Autorin Selva Almada. Von ihr stammt der kurze Roman „Kein Fluss“, eine fesselnde Geschichte, die sprachlich klar und nüchtern daherkommt, ganz ohne überflüssiges Beiwerk. Dem deutschsprachigen Publikum hat der Berenberg Verlag sie schon 2016 mit dem Roman „Sengender Wind“ vorgestellt. Wir sind gespannt auf die Übersetzung des dritten Romans, „Ladrilleros“ (Ziegelbrenner), der die „Trilogía de los Varones“ (Trilogie der Kerle) abschließen soll.
Die Geschichte von „Kein Fluss“ ist schnell erzählt. Die beiden Freunde Enero Rey und Negro nehmen Tilo, den Sohn ihres verstorbenen Freundes Eusebio, mit auf eine Insel im Fluss, wo sie fischen wollen und wo Tilos Vater Jahre zuvor ertrunken ist. Sie geraten schnell mit den Männern im benachbarten Dorf aneinander, nachdem sie einen riesigen Rochen mühsam aus dem Fluss gezogen haben. Sie erlegen ihn schließlich mit drei Schüssen, hängen ihn an einen Baum auf und lassen ihn dort vergammeln. Als er nach einigen Tagen zu stinken anfängt, werfen sie ihn einfach in den Fluss zurück, was die Männer der Dorfgemeinschaft erzürnt.
Im Dorf soll ein großes Fest steigen; Alkohol, Mädchen, Begehren und Tanz sorgen für eine Mischung aus Spannung und schlimmsten Befürchtungen. Mit knappen Worten, ohne in banale Handlung oder gar Folklore zu verfallen, entfaltet Almada so etwas wie die Chronik einer angekündigten Katastrophe. Doch die bleibt am Ende aus, den drei Städtern gelingt die Flucht über den Fluss. Almadas Geschichte lebt vor allem von all dem, was nicht erzählt, was weggelassen wird.
Der Kurzroman überzeugt in vielerlei Hinsicht. Zunächst sprachlich: Christian Hansen hat den staccatohaften Rhythmus im Deutschen beibehalten, was dafür sorgt, dass der Text sich flüssig, in einem Zug runterlesen lässt. Dann lebt der Text von Andeutungen, Rückblenden, Anspielungen, die die Fantasie der Leser*innen anregen. Alles, was nicht gesagt wird, entwickelt sich gerade deshalb in unserem Kopf zu voller Blüte.
Die „verhängnisvolle Männerwelt Lateinamerikas“ wolle Almada in ihrem Roman beschwören, so der Verlag. Das verstehe sie wie keine andere. Und ja, eine dieser verhängnisvollen Welten stellt sie meisterhaft dar, die der unverbesserlichen Säufer und triebgesteuerten Machos, die aus der Stadt kommen, ein erlebnisreiches Wochenende in der Natur verbringen und gerade dort ihrer Rolle gerecht werden wollen, vor Ort aber auf ebensolche Dörfler treffen, was für allerlei Spannungen sorgt. Andere Männerwelten aber bleiben außen vor. Vielleicht spielen die in den anderen Romanen der Trilogie eine Rolle.
Die der religiösen Fanatiker*innen war bereits Thema in Almadas „Sengender Wind“. Dem in Lateinamerika sich immer weiter ausbreitenden Phänomen des evangelikalen Fundamentalismus hat Claudia Piñeiro mit ihrem neuen Roman „Kathedralen“ ein wenig schmeichelhaftes literarisches Denkmal gesetzt. Bislang hat Piñeiro in ihren Kriminalromanen die sozialen Verhältnisse in Buenos Aires unter die Lupe genommen, das Leben in „Gated Communities“, die Verlustängste einer zu Geld gekommenen Bourgeoisie, die grassierende Korruption, Vetternwirtschaft und Immobilienspekulation oder die Intrigen der Macht und die politischen Sümpfe am Río de la Plata.
Nun also der religiöse Fanatismus. In ihrem neuen Roman erzählt sie eine haarsträubende Geschichte, in der eine Familie aus Buenos Aires wegen der übersteigerten religiösen Einstellungen einzelner auseinanderfällt. Carmen ist zutiefst katholisch und pflegt einen blinden Gehorsam gegenüber Dogmen und katholischer Amtskirche. Zugleich ist sie verliebt in Julián, der Theologie studiert, das Priesterseminar besucht und Geistlicher werden soll. Der aber lässt sich mit Ana ein, Carmens Schwester. Als Ana schwanger wird, setzt die ehrgeizige und eifersüchtige Carmen ganz zielorientiert und eifrig alles daran, dass ihre Schwester eine Abtreibung vornehmen lässt; zum einen, damit die Eltern nichts vom „Fehltritt“ der Tochter erfahren, zum anderen, um Juliáns geistliche Karriere nicht aufs Spiel zu setzen, und natürlich auch, um ihrer Liebe zu Julián noch eine Chance zu geben. Dabei redet sie sich und Julián ein, dass Ana allein für diese „Todsünde“ verantwortlich sei, sie allein habe die Entscheidung zur Abtreibung getroffen, sie hätten sich allenfalls „versündigt“, weil sie Ana nicht daran gehindert hätten.
Man liest diese Passagen einer heuchlerischen Selbstrechtfertigung und fragt sich, was schwerer wiegt, der blinde religiöse Fanatismus oder der kaum zu ertragende menschenverachtende Egoismus. Aber es kommt noch schlimmer. Ana gerät an eine Kurpfuscherin, sie überlebt die Abtreibung nicht. Um erneut alle Spuren zu verwischen, lässt Carmen sich eine wahrhaft teuflische Tat einfallen. Der Tod der Schwester soll wie ein Sexualverbrechen aussehen. Die tote Ana wird zerstückelt und auf einer Müllkippe entsorgt.
Jahrzehntelang lebt die Familie im Glauben, ihre Tochter Ana sei ermordet worden. Die dritte Schwester, Lía, verliert über den Tod ihrer Schwester den Glauben, sie schwört am Sarg der Religion ab, verlässt die Familie und geht nach Spanien. Die Eltern verwinden den doppelten Verlust nicht. Und Carmen heiratet Julián. Die beiden reden sich ein, dass alles, was geschehen ist, immer „Gottes Wille“ gewesen sei. Doch ihr Glück finden sie in ihrer auf Lüge und Heuchelei basierenden Beziehung nicht. Ihr Sohn Mateo, der natürlich Priester werden soll, verlässt die Familie wie seine Tante und folgt ihr nach Europa.
Auch dieser Roman von Claudia Piñeiro, den Peter Kultzen in bestes Deutsch übertragen hat, fesselt uns Leser*innen bis zum Schluss. Wir lesen von abscheulichen Einstellungen und Taten, aber auch von mutigem Aufbegehren gegen religiösen Wahn. Immer wieder sind wir hin- und hergerissen zwischen unserer Wut auf Lüge und Heuchelei und der Genugtuung darüber, dass die Vernunft sich nicht so einfach besiegen lässt.