Trotz der Verwüstung, die die spanischen Eroberer in der intellektuellen Welt der Urvölker Lateinamerikas anrichteten, sind einige bedeutende Werke erhalten geblieben. Sie stammen überwiegend aus Mesoamerika, so etwa die Codices der Azteken und Maya, das Popol Vuh oder die Chilam Balames. Ihre AutorInnen bewiesen als SchöpferInnen von Religion, Wissenschaft, Kunst und Kultur eine hohe geistige Bildung und gehörten der Elite an. Die orale Tradition hingegen kommt aus dem Volk und wird seit Menschengedenken vom Río Bravo bis Feuerland erzählt, rezitiert oder gesungen. Laut dem Popol Vuh, dem heiligen Buch der K’iche’-Maya, schufen die Götter die Welt und alles Leben durch die Macht ihrer Worte. Noch heute kann bei Schamanenzeremonien und Heilungen die besondere Bedeutung der mündlichen Sprachkunst beobachtet werden, der mit Hilfe von Intonation, Rhythmus, Mimik, Gestik und Tanz die Macht zugesprochen wird, das Genannte heraufzubeschwören und zu beeinflussen. Das poetische Wort ist die angemessene Anrede für Göttinnen, Götter und übernatürliche Wesen, es kann AhnInnen anrufen oder negative, krankheitserregende Kräfte bezwingen.
Seit den Zeiten der Missionierung haben christliche Geistliche im Laufe der Jahrhunderte viele indigene Sprachen an die lateinischen Schriftzeichen angepasst, von den ersten spanischen Ordensbrüdern im 16. Jahrhundert bis zu den evangelikalen MitarbeiterInnen des Linguistischen Sommerinstituts unserer Tage, die vor allem Minderheitensprachen studieren, um Bibelübersetzungen anzufertigen. Die indigenen AutorInnen lösten diese alphabetischen Grammatiken von ihren christlichen Inhalten, um damit ihren eigenen Weltvorstellungen Ausdruck zu verleihen.
In den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts trat die moderne indigene Literatur in Erscheinung. Die orale Tradition, die bis dahin nur kleinen Zirkeln bekannt war, wird damit größeren Leserkreisen zugänglich und von diesen erstaunt zur Kenntnis genommen. Vorarbeit hierzu leisteten vor allem indigene Intellektuelle, die sich seit den 60er Jahren aktiv an der Kulturpolitik in ihren Ländern beteiligten und sich Räume für die eigene Kultur erkämpften. Es gelang ihnen teilweise, die auf Assimilierung ausgerichtete indigenistische Staatspolitik auf die Förderung von Vielfalt umzulenken, z.B. beim bilingualen Schulunterricht. Daher überrascht es nicht, dass viele AutorInnen, vor allem der ersten Generation, gleichzeitig an kulturellen und akademischen Institutionen wirken und die Schreibwerkstätten und Lesekreise der indigenen Literatur weiter fördern. Doch auch wenn sich die SchriftstellerInnen von heute gerne auf ihre teilweise tausendjährige vorspanische Schreibtradition besinnen, in ihre Werke einfließen lassen und Inspiration daraus schöpfen, besteht ein bedeutender Unterschied zu ihren Vorfahren: Theoretisch steht die Literaturproduktion jedem/jeder offen und ist nicht länger eine elitäre Angelegenheit.
Ein Großteil der indigenen Literatur besteht bisher aus Lyrik, was damit zusammenhängt, dass viele der Sprachen sehr sinnbildlich sind. So meinte der Nahuatl-Dichter Librado Silva in aller Bescheidenheit, er sei gar kein großer Schriftsteller, man werde als Nahuatl-Sprecher geradezu unbeabsichtigt Poet, weil die Sprache selbst aus lauter Metaphern bestehe. Des Weiteren sind viele der Sprachen reich an Tonlagen und Lauten, und die Lyrik passt sich dem natürlichen Sprechrhythmus an. Der Roman ist hingegen eine recht junge Schöpfung. Doch die indigene Literatur sprengt immer wieder europäische Gattungsvorstellungen – Lyrik, Drama, Epik – und Klassifikationsversuche. Sinnvoller erscheint eine Einteilung in schriftliche Aufzeichnungen und Neuinterpretationen der oralen Tradition. Die hybride Literatur ist eine weitere Variante. Sie beschäftigt sich mit neuen Identitäten und Sprachzusammenstellungen und thematisiert insbesondere die Migration in die Städte oder in andere Länder. Doch das eigentliche Schlüsselwort heißt Vielfalt: die Wortkunst der Urvölker Lateinamerikas ist so reich wie die Sprachen des Kontinents und ihre SprecherInnen selbst. Sogar die Bezeichnung „indigene Literatur“ kann nur eine Notlösung sein, da sie kreative Vielfalt verneint und eine kolonialistische Abgrenzungsform fortsetzt.
Die AutorInnen bewegen sich mehrheitlich zwischen künstlerischem Individualismus und kollektivem Engagement. Ihre Arbeit offenbart auf mehreren Ebenen eine tiefe ethnische Verantwortung. Seit der Kolonialzeit wurde die Stimme der Urvölker unterdrückt und marginalisiert oder lag meistens in gefilterter Form vor, etwa in den Protokollen, Transkriptionen und Übersetzungen von Interviews nicht-indigener WissenschaftlerInnen. Doch jetzt kontrollieren die AutorInnen ihre Informationen und deren Darstellungsform zum ersten Mal selbst. Sie sind sich dieser Repräsentationsfunktion bewusst und versuchen, ihrem Volk eine bzw. ihre Stimme zu leihen. Außerdem stützt sich die zeitgenössische Literatur auf die orale Tradition, deren Charakter durch und durch kollektiv ist. Im Vergleich dazu ist das Schreiben eine überwiegend persönliche, individuelle Angelegenheit. Somit bewegen sich die SchriftstellerInnen zwischen zwei Welten, indem sie versuchen, einen kollektiven Stil durch einen individuellen wiederzugeben und somit die Illusion einer schriftlichen Oralität bzw. einer oralen Schrift zu erzeugen. Als Individuen verfügen sie über ihre Texte, aber nicht über die orale Tradition, die darin enthalten ist; sie sind nur die BewahrerInnen des kollektiven Gedächtnisses.
Doch an wen richtet sich die indigene Literatur? Mit wenigen Ausnahmen werden die literarischen Werke bisher zweisprachig, in der jeweiligen indigenen Sprache und auf Spanisch, veröffentlicht. Hinter dem, was auf den ersten Blick vielleicht selbstverständlich erscheinen mag, verbirgt sich jedoch ein subtiler neokolonialer Prozess. Nach wie vor sehen sich die indigenen SchriftstellerInnen im Alltag mit einem aggressiven Einfluss spanisch-europäischer Lebensvorstellungen konfrontiert, nicht zuletzt auch im Verlagswesen. Bei der Veröffentlichung, dem Vertrieb und der Interpretation der Texte verlieren die AutorInnen, z.B. in Form des Copyrights, die Rechte über ihr Werk – VerlegerInnen und HerausgeberInnen haben im wahrsten Sinne des Wortes stets das letzte Wort. Zu den wenigen Verlagen, die überhaupt indigene Literatur publizieren, gehören vor allem die Unterabteilungen für indigene Kultur der nationalen Kultusministerien. Im Falle Mexikos vergibt der Nationale Rat für Kunst und Kultur (CONACULTA) beispielsweise seit 1993 alle zwei Jahre den Literaturpreis Premio Nezahualcóyotl de Literatura en Lenguas Mexicanas, wobei das jeweilige Gewinnerwerk veröffentlicht wird.
Ob Literaturwettbewerb oder klassischer Verlag, um ein Buch auf den Markt zu bringen, gilt meistens die Bedingung, dass ein Werk in seiner Originalsprache mit der entsprechenden spanischsprachigen Übersetzung eingereicht wird. Doch dies ist alles andere als selbstverständlich, denn nicht alle indigenen SchriftstellerInnen besitzen die gleichen linguistischen und literarischen Fähigkeiten im Spanischen wie in ihrer Muttersprache und können demnach auch keine angemessene Übersetzung von ihrem eigentlichen Werk anfertigen. Den AutorInnen wird nicht nur Zweisprachigkeit auf höchstem künstlerischen Niveau abverlangt, sondern auch die gewaltige Leistung, jeweils zwei Werke für ein jeweils unterschiedliches Publikum zu schaffen. Vom Quechua, Maya, Aymara oder Guaraní ins Spanische zu übersetzen und umgekehrt bedeutet nicht, das Geschriebene eins zu eins zu übertragen oder zu wiederholen, sondern den Text in einer anderen Sprache neu zu definieren. Dabei legt die Forderung, dass alle BewohnerInnen des spanischsprachigen Lateinamerika perfekt Spanisch beherrschen, die neokolonialen Denkstrukturen eines Großteils des Verlagswesens und der ganzen Gesellschaft offen.
Beim Nezahualcóyotl-Preis geht die Abhängigkeit der indigenen Literatur von der spanischen Sprache sogar so weit, dass aus Mangel an qualifiziertem Fachpersonal oft ausschließlich die spanische Version der Werke gelesen und bewertet wird. Der Maya-Autor Isaac Carrillo Can, der 2010 diesen Preis erhielt, spricht von einem Glücksfall, dass ein Jurymitglied seine Muttersprache beherrschte. Es hat oft den Anschein, als ob der Staat indigene Literatur nur akzeptiert, solange er sie über das Spanische kontrollieren, steuern und beeinflussen kann. Allerdings muss unter den SchriftstellerInnen differenziert werden, nicht jedeR empfindet die bilinguale Schreib- und Denkarbeit als Hindernis oder Diskriminierung. Bei einigen wird das Spiel mit den Sprachen zum ästhetischen Mittel für literarische Neuschöpfungen, indem beide Strukturen und Inhalte sich gegenseitig beeinflussen. Der K’iche’ Humberto Ak’abal und die Zapotekin Irma Pineda sehen in der spanischen Sprache beispielsweise auch ein wichtiges Mittel, um das indigene Denken universal zu machen und Zeugnis von der Fähigkeit zur Selbstdarstellung abzulegen.
Bedingt durch die unausgeglichene Sprachpolitik in Lateinamerika, zeichnen sich in der indigenen Literatur unterschiedliche Strömungen ab. Als Antwort auf einen rasanten Sprachverlust setzen sich einige SchriftstellerInnen intensiv und fast ausschließlich mit ihrer Muttersprache auseinander. Um einen Ausdruck zu finden, der möglichst unabhängig von der westlichen Literatur ist, suchen sie in alten Quellen und Werken aus vorspanischer und Kolonialzeit die syntaktischen und grammatikalischen Strukturen, die ihrer jeweiligen Sprache eigen sind, und führen zu diesem Zweck auch ausgedehnte Gespräche mit den älteren Leuten ihres Volkes. Dabei sollen Neologismen einem Übergewicht des Spanischen im Wortschatz entgegenwirken. Thematisch beziehen sich diese Werke vorwiegend auf einen lokal begrenzten, traditionellen Lebensraum. Dies trifft beispielsweise auf einen Großteil der AutorInnen in Mexiko zu und kann als bewusster, gewaltloser Protest zur Verteidigung der eigenen Identität verstanden werden. Daneben gibt es auch SchriftstellerInnen, die in unterschiedlichem Ausmaß für Einflüsse aus dem Spanischen sowie der westlichen Literatur offen sind. Ein Extremfall stellt z.B. die Hybridliteratur David Añinirs dar, dessen spanischsprachige Texte von einzelnen Ausdrücken auf Mapudungun durchzogen sind und vom Identitätsringen der Mapuche in den Großstädten Chiles erzählen. Auch die bolivianische Musikerin Nina Uma wechselt beim Rappen wie selbstverständlich zwischen Spanisch und Aymara hin und her.
Ein besonderes Problem, das einen Großteil der indigenen Literatur betrifft, ist die unverkennbare Diskrepanz zwischen einem utopischen Publikum und der Wirklichkeit. Denn solange die lateinamerikanischen Staaten keine Anreize schaffen, um neben den AutorInnen auch LeserInnen auszubilden, kann es sich um keine ernstgemeinte, effektive Kulturpolitik handeln. Wenn keine zahlenmäßig bedeutende LeserInnenbasis in den Originalsprachen geschaffen wird, entsteht eine intellektuelle indigene Elite, deren literarische Produktionen sich immer weiter von ihrem ursprünglichen Publikum entfernen. Die Verlage sind nicht nur für die Produktion, sondern auch für den Vertrieb der Literatur verantwortlich, doch meistens werden die indigenen Werke in spezialisierten Buchhandlungen, Museen oder Touristenzentren zum Verkauf angeboten, wo sie vor allem einem internationalen Publikum als exotisches Novum präsentiert werden. Die potentiellen LeserInnen, die die AutorInnen anzusprechen wünschen, sind allerdings häufig in kleinen Städten und in ihren Gemeinden auf dem Land anzutreffen. Dieses Publikum erreicht der Vertrieb jedoch kaum. Rechtlich ist es vielen AutorInnen auch nicht erlaubt, unabhängig vorzugehen und dort Lesungen zu halten. Das größte Problem liegt in der mangelhaften bilingualen Schulbildung, aber auch im Einfluss der Massenmedien, die einen westlichen Lebensstil propagieren. Dabei wird es zu einer besonderen Herausforderung, die indigene Jugend für die Literatur in ihren Muttersprachen zu interessieren. Des Weiteren ist vor allem auf dem Land das Fehlen einer Lesekultur oft ein zusätzliches Hindernis für die Rezeption der Literatur. Daher versuchen einige AutorInnen, die ausgeprägte Hörtradition – bedingt durch die orale Tradition – zu nutzen und ihre geschriebenen Werke auch als Hörspiele bzw. Hörbücher herauszubringen, die dann im Radio verbreitet werden können. Manche Bücher werden auch in Theaterstücke umgeschrieben.
Indirekt oder direkt ist die indigene Literatur natürlich immer auch an ein nationales und internationales Publikum gerichtet. Dessen Aufmerksamkeit für die indigenen Selbstbildnisse soll sich, so die Hoffnung, in der Unterstützung für weitere eigene kulturelle Produkte niederschlagen. In diesem Sinne erfüllen die bilingualen Veröffentlichungen eine wichtige Aufgabe als Verbindungsbrücke zwischen den Kulturen. Die Stärkung des interkulturellen Dialoges ist essentiell für die Zukunft der indigenen Literatur, doch es sollte jedem Autor/jeder Autorin selbst überlassen sein, ob er/sie eine Übersetzung seines/ihres Werkes anfertigen will oder nicht. Nicht selten wird der Wunsch geäußert, dass der Staat hauptberufliche ÜbersetzerInnen ausbilden soll, damit diese sie übernehmen. Die AutorInnen zeitgenössischer indigener Literatur sind in diesem Sinne „Grenzgänger“ – ihre Stimme vereint Gegenwart und Vergangenheit, Moderne und Tradition, kollektive Oralität und individuelle Kreativität, ein internationales und ein lokales Publikum, Spanisch und die Ursprachen des Kontinents. Heutzutage führt das indigene Wort, über regionale und nationale Grenzen hinweg, ein literarisches Gespräch auf Augenhöhe, indem sich die Urvölker so präsentieren, wie sie gesehen werden wollen: als lebendige Kulturen, die allen Eroberungsversuchen Widerstand geleistet haben, Träger von uraltem Wissen im Hier und Jetzt, mit einer Stimme, die lange schweigen musste und deshalb besonders viel mitzuteilen hat.