„Wir sind in Europa, um ein neues Abenteuer zu präsentieren. Unsere Druckerei will jetzt auch Verlag sein.“ Ernesto González hat 1991 in der Druckerei angefangen, die früher nach ihrem Besitzer Gaglianone hieß. Zehn Jahre später waren von den 22 Arbeitern nur noch acht übrig. In der allgemeinen Krise gab es fast keine Aufträge mehr. Als der Unternehmer im April 2002 Maschinen abtransportieren wollte, haben die acht Kollegen den Betrieb besetzt. Seitdem arbeiten sie in Selbstverwaltung.
Chilavert ist heute längst mehr als eine Druckerei. „Wir wollten von Anfang an eine offene Fabrik, mit offenen Türen. Sie soll nicht nur uns Gewinn bringen, sondern ein Gewinn für alle ArbeiterInnen sein.“ Den ersten Stock des Betriebes haben sie zu einem Kulturzentrum ausgebaut, wo Ausstellungen, Diskussions-, Film- und Musikveranstaltungen stattfinden. Gemeinsam mit Leuten von der Universität haben sie ein Dokumentationszentrum zu empresas recuperadas eingerichtet, das Büro ist täglich geöffnet. Der Pausenraum der Arbeiter wird für Erwachsenenbildung genutzt. Hier können Leute aus dem eher armen Stadtteil Pompeya ihren Schulabschluss nachholen. Jugendliche kommen als PraktikantInnen zu Chilavert. Sie lernen dabei Nützliches über Druck und Bindung, aber auch zu Besetzung und Selbstverwaltung.
Andrés Lofiego gehört zu einer Gruppe, die fünf instandbesetzte Betriebe mit der Kamera begleitet hat. „2003 war ich mit dem Projekt fertig. Danach bin ich weiter ins Kulturzentrum bei Chilavert gegangen und wir haben uns angefreundet. Als dann das erste lateinamerikanische Treffen der empresas recuperadas stattfand, in Caracas, konnte ich dank eines compañero von Chilavert mitfahren und dort die Fotos ausstellen. Als wir nach Argentinien zurückkamen, haben wir überlegt, was wir weiter tun könnten. Ich hatte schon immer den Traum, ein Buch zu machen.“ Für das Buch hat Andrés Anfang 2006 in den fünf Betrieben Interviews gemacht. „Damit wollten wir die Botschaft der Fotos noch stärker rüberbringen.“ Das ist mit dem kleinen Fotoband „NO PASAR“ auf jeden Fall gelungen. Fotos von Besetzungen, Aktionen, Versammlungen und Arbeit vermitteln zusammen mit den Zitaten viel von den Erfahrungen der ArbeiterInnen: von Ängsten und Hoffnungen, von Einsichten, Veränderungen und dem Stolz auf das eigene Handeln. Die Produktion des ersten eigenen Buches hat Lust auf mehr gemacht, und so kam die Idee auf, einen Verlag zu gründen. „Dieses Buch ist auf vertikale demokratische Weise gemacht worden, wie auch sonst bei Chilavert gearbeitet wird. Diese Erfahrung wollen wir auf weitere Bücher übertragen. Fotos und Interviews habe ich gemacht, aber die Zusammenstellung des Buches sowie Auswahl und Bearbeitung der Fotos waren ein kollektiver Prozess, der anderthalb Jahre gedauert hat. Vorher hätten wir das nicht für möglich gehalten, dass wir ein solches Buch fertigstellen und damit nach Europa fahren würden.“
Bevor sie diese Projekte angehen konnten, mussten die compañeros von Chilavert zunächst ihre Produktionsstätte verteidigen. Am 24. Mai 2002 rückte die Polizei mit acht Mannschaftswagen, Krankenwagen, Feuerwehr und Hubschrauber an, um einen Räumungstitel gegen die acht Arbeiter durchzusetzen. Die ließen sich aber von dem Aufgebot nicht einschüchtern, verbarrikadierten den Betrieb und drohten damit, alles in Brand zu stecken. Hunderte Menschen kamen von außen, um die Arbeiter zu unterstützen. Es war die politisierte Zeit nach dem Aufstand. Angesichts der Entschlossenheit der Arbeiter und ihrer Verankerung im Stadtteil wurde die Räumung abgeblasen. Später wurde die Kooperative Chilavert wie viele andere besetzte Betriebe durch eine Enteignungsverordnung legalisiert. Sie kann den Betrieb nutzen und soll ihn irgendwann bezahlen, wobei die Modalitäten noch nicht geklärt sind.
Den mittlerweile 13 Arbeitern von Chilavert ist klar, dass auch diese Frage wieder vom Kräfteverhältnis abhängen wird und dass sie nur durch ihren Kampf und die Solidarität so weit gekommen sind. Neben der Produktion machen sie viel soziale und politische Arbeit. Hier das Gleichgewicht zu halten, ist eine ständige Herausforderung. „Es gibt viele materielle Bedürfnisse, die bei uns immer wieder zu Widersprüchen und Spannungen führen: Geht es um die Produktion, oder darum, die Welt zu verändern? Das ist ein täglicher Kampf, diesen Geist aufrechtzuerhalten, und uns nicht nur um die Produktion zu kümmern. Wir können uns nicht außerhalb der Gesellschaft stellen, und wir sind nur ein kleines Projekt in einer Welt, die solchen Projekten feindlich gegenüber steht. Aus diesen Widersprüchen werden wir so lange nicht herauskommen, bis wir eines Tages das ganze System verändert haben.“
Für Andrés ist gerade die Konfrontation mit den realen Widersprüchen das Wichtige: „Die empresas recuperadas brechen eine Logik auf – die einen mehr, die anderen weniger. In den radikaleren Betrieben schaffen die Arbeiter, obwohl sie in der kapitalistischen Logik arbeiten müssen, ständig eine neue Form des Arbeitens. Innerhalb des Systems – und in der Praxis. Sie erfinden nicht Ideen von einer neuen Welt, sie handeln. Sie müssen sich wie Unternehmer mit dem Dollarkurs beschäftigen, aber gleichzeitig diskutieren sie darüber, wie sie das, was der Betrieb abwirft, besser verteilen können, oder wie sie sich zu anderen Kämpfen stellen. Das Gute ist, dass sie täglich auf diese Widersprüche stoßen und sich nicht von der Realität entfernen, wie ich das bei einigen politischen Gruppen sehe: Die bleiben bei der Diskussion stehen und schotten sich ab. Im Gegensatz dazu haben sich die Arbeiter in die Diskussion gestürzt und bringen gleichzeitig die Sache physisch voran, mit körperlicher Arbeit.“
Chilavert gehört zu den wenigen instandbesetzten Betrieben, deren ArbeiterInnen bis heute auf Demonstrationen zu sehen sind. Besonders wichtig ist ihnen die Solidarität mit anderen empresas recuperadas, wie zum Beispiel mit dem Hotel BAUEN, das 2003 besetzt wurde und zur Zeit wieder von Räumung bedroht ist. „Das Hotel BAUEN, mit 20 Stockwerken mitten im Zentrum, war geschlossen und die ehemaligen Angestellten haben sich bei uns getroffen. Da haben sie ihre Kräfte gesammelt. Sie haben uns gefragt, wie wir das gemacht haben, und wir haben sie unterstützt. Jetzt öffnen sie ihre Türen für andere compañeros. Im Hotel finden Treffen, Versammlungen und Konferenzen statt. Früher war das ein Luxushotel für Politiker und die Bourgeoisie. Heute übernachten dort die compañeros von Zanon, wenn sie aus Patagonien nach Buenos Aires kommen.“
Die selbstverwalteten Betriebe gehören zu den positiven Momenten, die von der Explosion im Dezember 2001 übrig geblieben sind. Sie machen aber nur einen winzigen Teil der argentinischen Wirtschaft aus, etwa 10 000 ArbeiterInnen von insgesamt zehn Millionen. „Und da die argentinische Wirtschaft nur ein kleiner Teil der Weltwirtschaft ist, ist das wirklich eine ganz kleine Geschichte. Das Wichtige an den instandbesetzten Betrieben ist für mich, dass sie ein Beispiel geben. Ökonomisch haben sie ja keine Bedeutung. Das sind größtenteils Kleinbetriebe. Von einem Kleinbetrieb aus kann man nicht die ganze Welt verändern. Es ist eher so, dass die Welt dich verändert, das System kann so etwas integrieren. Aber das Beispiel, dass man ohne Chef produzieren kann, das ist das Subversive an dieser Erfahrung. Auf der wirtschaftlichen Ebene müssen wir prinzipiell nach der kapitalistischen Logik funktionieren. Sonst würde das nicht laufen. Wir müssen verkaufen, wir können nicht alles verschenken. Wir müssen im Wettbewerb bestehen. Nach innen gibt es große Veränderungen – nach außen müssen wir auf kapitalistische Art funktionieren. Darüber haben wir viel gelernt. Wir verfolgen die Marktpreise, die Kursentwicklung von Euro und Dollar, den Papierpreis, die Entwicklung in China. In einem Teil unseres Kopfes funktionieren wir wie ein Unternehmer: ,Der Dollar fällt, also machen wir das soundso.’ Aber das Wichtige ist die politische Ebene: dass wir die Idee verbreiten können – für die nächste Bewegung. Die könnte viel größer werden, da könnte die Weltwirtschaft betroffen sein! Das ist noch ein Traum, aber früher wären wir noch nicht mal im Traum darauf gekommen, eine Fabrik zu besetzen.“
NO PASAR – Kein Zutritt. Mit Betriebsbesetzungen sind die ArbeiterInnen in Bereiche vorgedrungen, in denen sie nach der herrschenden Ordnung nichts verloren haben. Der Schuster ist nicht mehr bei seinem Leisten geblieben. Im Fall von Chilavert ist aus der Arbeitsstätte am Stadtrand von Buenos Aires eine Begegnungsstätte geworden. Ständig kommen Menschen aus politischen und sozialen Bewegungen vorbei, als Kundschaft oder zu Besuch. Dank internationaler BesucherInnen befinden sich im Anhang des Fotobandes eine englische und eine italienische Übersetzung des spanischen Textes, das Buch ist nun auch hier erhältlich, und die beiden compañeros konnten es in fünf europäischen Ländern vorstellen: „Inzwischen haben wir FreundInnen auf der ganzen Welt. So entsteht ein ganzes Netz, entwickeln sich neue Beziehungen. Daraus könnten wieder neue Abenteuer entstehen.“