Präsident Bush reiste mit unguten Vorahnungen nach Argentinien. Im Vorfeld seiner Ankunft veröffentlichte Umfragewerte zeigten, dass Bush der unpopulärste US-Präsident ist, der jemals seinen Fuß auf lateinamerikanischen Boden gesetzt hat. Zehntausende von Anti-Bush Demonstranten kamen aus allen Teilen Lateinamerikas nach Mar del Plata, um gegen die geplante Freihandelszone und die Kriegspolitik des US-Präsidenten zu demonstrieren. Filialen der US-Fastfoodkette McDonalds wurden geplündert und angesteckt und US-amerikanische Fahnen verbrannt. Einige Hundert gewalttätige Demonstranten lieferten sich stundenlange Straßenschlachten mit der argentinischen Polizei, wobei zahlreiche Menschen verletzt wurden.
Doch nicht nur außerhalb des Gipfeltreffens wurde Bush demonstriert, dass die von den USA propagierte Idee der gesamtamerikanischen Freihandelszone auf Widerstand stößt, sondern auch innerhalb der Konferenz offenbarte sich Opposition gegen ALCA. Venezuelas Präsident Hugo Chávez erwies sich dabei als schärfster Kritiker der geplanten Freihandelszone. Viele Beobachter hatten angesichts der fundamentalen Meinungs- und Interessenkonflikte zwischen beiden Staatsoberhäuptern in praktisch allen Politikfeldern ein öffentliches Showdown zwischen Bush und Chávez erwartet. Bush weigerte sich während der Tagung jedoch, mit Chávez zu reden und ignorierte diesen. Unterstützt wurde Chávez in seiner ablehnenden Haltung gegenüber der ALCA partiell von den Staatsoberhäuptern Brasiliens und Argentiniens, den Präsidenten Lula da Silva und Nestor Kirchner.
Präsident Chávez, der in massiver Opposition zur unilateralen Politik der Bush-Administration, dem Irak-Krieg, der Rolle der USA in Lateinamerika und ALCA grundsätzlich steht, erklärte, dass „ALCA begraben werden müsse, da sie ein altes Projekt des imperialen Adlers (das heißt der USA, O.M.) sei, der von Anbeginn darauf aus gewesen sei, seine Krallen in Lateinamerika zu versenken“. Präsident Chávez ist seit seiner Amtsübernahme im Jahr 1999 der schärfste Kritiker von ALCA in Lateinamerika. Mit Hinweis auf die bestehenden Asymmetrien lehnt er ALCA ab und fordert die Etablierung eines gerechteren Integrationsmodells, welches er unter dem Namen ALBA (Alternativa Bolivariana para las Américas – Bolivarische Alternative für die Amerikas, O.M.) gegenüber der internationalen Öffentlichkeit propagiert. Chávez’ grundsätzliche Ablehnung von ALCA wird von den Mercosur-Staaten nicht geteilt. Obwohl auch in Brasilien und Argentinien eine weit verbreitete Abneigung gegenüber der kontinentalen Hegemonie der USA besteht, sind die Bedenken der Regierungen in Brasilia wie auch in Buenos Aires hinsichtlich ALCA nicht prinzipiellen Charakters. Brasilien und Argentinien sperren sich nicht gegen eine Freihandelszone mit den USA schlechthin, nur gegen das derzeitig von Washington propagierte Modell.
Die Mercosur-Staaten sind primär Exporteure von Stahl und von landwirtschaftlichen Produkten. Da die USA sich weigern, auf Sonderzölle für Stahlimporte und den Abbau von Agrarsubventionen zu verzichten, verweigern Lula und Kirchner die Ratifizierung der von den USA vorgelegten Version von ALCA. Die USA fordern für ein eventuelles Entgegenkommen in den strittigen Bereichen die Garantien geistiger Eigentumsrechte, finanzieller Regulierung und umfassenden Marktzugangs für eigene Produkte. Da insbesondere die brasilianische Computer- und Chemieindustrie nur gering wettbewerbsfähig sind, würden diese Industrien durch die Öffnung des eigenen Marktes für entsprechende Güter aus den USA und Kanada hohe Verluste erleiden, weshalb die Mercosur-Staaten nicht bereit sind, diese Bedingungen zu akzeptieren.
Der Gedanke an eine gesamtamerikanische Freihandelszone wurde schon 1889 in Washington geboren, als erstmals eine Konferenz zum Thema abgehalten wurde. Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts scheiterte deren Realisierung sowohl am mangelnden Interesse der USA als auch dem der Lateinamerikaner. Da insgesamt nur 8 Prozent der Gesamtexporte der Vereinigten Staaten nach Lateinamerika gehen, ist das starke Interesse der USA am Zustandekommen von ALCA nicht so sehr ökonomisch, sondern eher sicherheits- und geopolitisch zu verstehen. So wird ALCA seitens der USA als Garantie für die Konservierung des Kapitalismus und einer am Modell der USA orientierten Demokratie verstanden. Die Region soll politisch langfristig an die USA angebunden werden, um in Bereichen wie Energie- und Ressourcensicherung, Terrorismusbekämpfung und Migrationskontrolle für ein entsprechendes Wohlverhalten der lateinamerikanischen Staaten zu sorgen. Als Gegenleistung für ihre Unterordnung in politischen Fragen offerieren die USA diesen Staaten freien Zugang zum kapitalkräftigen US-Binnenmarkt.
Nichtregierungs- und soziale Organisationen befürchten durch die Ratifizierung der geplanten gesamtamerikanischen Freihandelszone die weitere Verarmung breiter Bevölkerungsschichten und ein Anwachsen der ohnehin äußerst markanten sozialen Ungleichheit in Lateinamerika. Durch die ökonomische Asymmetrie zwischen den Industriestaaten Kanada und USA auf der einen und Entwicklungs- bzw. Schwellenländern wie Venezuela und Brasilien auf der anderen Seite besteht ein gewaltiges Entwicklungsgefälle zwischen diesen Staaten. Die lateinamerikanischen Länder produzieren insgesamt weniger als ein Zehntel des Bruttoinlandsprodukts der USA und ihr Anteil am Welthandel beträgt mit fünf Prozent nur ein Viertel dessen der USA. Durch die technologische und finanzielle Unterlegenheit vieler lateinamerikanischer Unternehmen gegenüber Firmen aus Industriestaaten, würde ALCA das sich ohnehin vollziehende Verdrängen im Inland produzierter Waren durch qualitativ überlegene und teils subventionierte und somit preisgünstigere US-amerikanische bzw. kanadische Produkte noch beschleunigen und einen massiven Arbeitsplatzverlust vieler Lateinamerikaner nach sich ziehen. Diese Tendenz würde begleitet werden von einem weiteren Zurückdrängen von Arbeitsstandards und Sozialgesetzen zuungunsten der abhängig Beschäftigten.
Auf starke Kritik stieß die ablehnende bzw. skeptische Haltung Venezuelas und der Mercosur-Staaten gegenüber ALCA beim mexikanischen Präsidenten Vicente Fox. Mexiko, das 90 Prozent seines Außenhandels mit den USA abwickelt, ratifizierte bereits 1993 das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) mit den USA und Kanada, welches zum 1. Januar 1994 in Kraft trat. Präsident Fox äußerte am Ende der Konferenz in Argentinien, dass ALCA eine Idee sei, die von der Bevölkerungsmehrheit auf dem Kontinent unterstützt werde. Es gebe 29 Länder, die an den Diskussionstisch zurückkehren wollten und fünf, die nicht übereinstimmten. Notfalls müsse ein Abkommen zwischen den 29 Ländern, die das Freihandelsabkommen befürworten, unter Ausschluss Venezuelas und des Mercosur geschlossen werden, verkündete Fox.
Beweise für die Behauptung, dass eine Mehrheit der Lateinamerikaner ALCA befürworten würden, blieb der mexikanische Präsident indes schuldig. Ganz im Gegenteil wünschten im November 2002, nach einer von einer NRO in Auftrag gegebenen Umfrage, 61 Prozent der Mexikaner einen Rückzug Mexikos aus den ALCA-Verhandlungen. Mexikanische Kritiker der Ergebnisse der NAFTA-Mitgliedschaft ihres Landes verweisen auf die gestiegene Armut und die gewachsene soziale Ungleichheit, die vor allem durch die Liberalisierung von Investitionsgesetzen und den Abbau sozialer Standards zustande kamen. Zwischen 1994 und 2001 stiegen die Investitionen in Mexiko gegenüber der vorangegangenen Dekade zwar um das achtfache, auf 24,73 Milliarden US-Dollar an; parallel hierzu ist jedoch der staatlich festgelegte Mindestlohn, der bei etwa vier US-Dollar am Tag liegt, um 20 Prozent gefallen. Da circa 25 Prozent der Bevölkerung von diesem Lohn leben müssen, bedeutet dies einen gravierenden Kaufkraftverlust für Millionen Mexikaner. Die mexikanische Regierung veröffentlichte kürzlich eine Studie, der zu Folge mehr als die Hälfte der eigenen Bevölkerung nicht in der Lage sei, ihre Grundbedürfnisse an Essen, Kleidung, Unterhalt, Gesundheit usw. zu befriedigen.
Da es unwahrscheinlich ist, dass die USA ihre Agrarsubventionen signifikant verringern werden, erscheint das Szenario einer Nord-Süd-Teilung des Kontinents nicht ausgeschlossen. Sollte dies eintreten, entstünden zwei konkurrierende Wirtschaftsblöcke auf dem Kontinent: Ein „Nord-Mercosur“ mit Teilen der Andengemeinschaft und eine erweiterte NAFTA unter Einschluss Zentralamerikas und der Karibik. Während der Nord-Mercosur von der Regionalmacht Brasilien geführt werden würde, stünde die größere NAFTA unter der Hegemonie der USA. Tatsächlich würden die USA durch eine solche Entwicklung in Südamerika sowohl politisch als auch ökonomisch weiter an Gewicht verlieren. Brasilien ist bereits heute mit seinen 175 Millionen Einwohnern und einer Wirtschaftsleistung, die der von 50 Prozent des Kontinents entspricht, das bedeutendste Land Südamerikas. Durch sein sensibles und auf Zurückhaltung bedachtes internationales Auftreten, welches primär auf soft power setzt, ist Brasilien vor allem politisch betrachtet prädestiniert, eine regionale Führungsmacht abzugeben. Die Länder des Mercosur und die nördlichen Andenstaaten könnten gestützt auf das politische und ökonomische Gewicht Brasiliens den Weg in eine politische und ökonomische Integration finden, die der Entwicklung dieser Staaten dient und die unilaterale Dependenz dieser Länder von den USA verringert.