Große Hoffnungen und gigantische Risiken

Lange sah alles danach aus, dass der herrschende „Pakt der Korrupten“ die Fäden in Guatemala fest in der Hand behielte: drei aussichtsreiche Kandidat*innen der Opposition waren im Vorfeld der ersten Wahlrunde mit haarsträubenden Begründungen von der Kandidatur ausgeschlossen worden, darunter die populäre Maya-Kandidatin Thelma Cabrera (siehe ila 467). Ins Rennen ging schließlich eine kleine Gruppe dem Pakt nahestehender Politiker*innen und eine Reihe als völlig aussichtslos geltender Kandidaturen, darunter die von Semilla. Es schien ein perfektes Setting für eine risikofreie „Demokratie-Vorführung“ mit kontrolliertem Ergebnis.

Statt der Schmierenkomödie gab es jedoch völlig unerwartet ein starkes Stück Demokratie. Denn Guatemalas Wählerinnen und Wähler haben als echter Souverän agiert. Ohne Aufrufe oder Absprachen von Parteien oder Persönlichkeiten haben sie mit ihren Stimmen die als marginal eingeschätzte Gruppierung Semilla erst in die Stichwahl und nun in die Präsidentschaft gebracht. Für Semilla wurden zu Beginn des Wahlkampfes maximal drei Prozent prognostiziert. Am Ende erhielt Arévalo mit 61 Prozent bzw. knapp 2,5 Millionen Stimmen die zweithöchste Zustimmung, die jemals in einer Stichwahl seit dem Ende der Militärdiktaturen 1985 erreicht wurde. Das illustriert, wie stark der Wunsch nach Beendigung der Selbstbereicherung und Willkür der korrupten Eliten in der gesamten Bevölkerung ist.

Wofür steht der neue Präsident? Als ältester Sohn des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Guatemalas, Juan José Arévalo Bermejo, kann er an die besten demokratischen Traditionen seines Landes anknüpfen. Sein Vater löste 1945 nach der sogenannten Oktoberrevolution die lange Diktatur von Jorge Úbico ab. Er gilt als „der Lázaro Cárdenas von Guatemala“ (1) , da zu seinem damaligen Regierungsprogramm erstmals eine Agrarreform gehörte. Bernardo Arévalo selber wurde 1959 im Exil in Uruguay geboren, wo die Familie Zuflucht fand, nachdem die demokratische Phase in Guatemala 1954 durch einen CIA-gestützten Militärputsch beendet worden war.

Bernardo Arévalo ist Soziologe, war Diplomat, und ist Experte in Konflikt-Mediation. Er war Gründungsmitglied des Movimiento Semilla, entstanden 2014 und öffentlich sichtbar geworden im Kontext der Bürgerbewegung, die 2015 den korrupten Präsidenten Otto Pérez Molina und seine ebenso korrupte Vizepräsidentin Roxana Baldetti zum Rücktritt zwang. Die Partei vertritt sozialdemokratische Positionen und steht für einen ethnisch pluralen Wohlfahrtsstaat. Infrastruktur, öffentliche Sicherheit, Umweltschutz und Regulierung der Migration. Steuererhöhungen sind nicht geplant, aber die ernsthafte Eintreibung bestehender Steuerpflichten ist beabsichtigt. Es ist ein moderates Reformprogramm. Dennoch sind dieKreise, die dem „Pakt der Korrupten“ zugerechnet werden, zunächst in Schockstarre und danach in blinden Angriffs-Aktionismus gefallen.

Der „Pakt der Korrupten“ kann als informeller Zusammen­hang von Politiker*innen, Spitzenfunktionär*innen von Justiz und Verwaltung sowie Unternehmen verstanden werden, die sich gegenseitig den Ball bei der Plünderung der öffentlichen Ressourcen zuspielen, sich dabei juristisch den Rücken freihalten und störende Kritiker*innen aus dem Weg schaffen, meistens ins Gefängnis oder ins Exil. Der gegenwärtige Präsident Giammattei gilt als erfolgreicher Kopf dieses Systems. Schwer wiegt, dass es diesen Kreisen gelungen ist, die maßgeblichen Instanzen der Justiz ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Entsprechend massiv wurden juristische Mittel für die Beeinflussung des Wahlprozesses eingesetzt. Herausragende Protagonist*innen dabei waren und sind die Generalstaatsanwältin Consuelo Porras und der Sonderstaatsanwalt für Korruption, Rafael Curruchiche, die beide auf der sogenannten Engel-Liste der USA stehen, die Personen aus Zentralamerika verzeichnet, denen wegen antidemokratischer und korrupter Handlungen die Einreise in die USA verweigert wird.

Die sogenannte „Verrechtlichung“ des Wahlprozesses nahm teilweise bizarre Züge an. So untersagte nach dem ersten Wahlgang im Juni das Verfassungsgericht die offizielle Anerkennung der Wahlergebnisse und ordnete eine erneute Zählung an. Furcht vor einem „technischen Putsch“ machte sich breit. Aber es änderte sich nichts am letztlich anerkannten Ergebnis. Im nächsten Moment trug eine Spezialabteilung der Generalstaatsanwältin vor, dass Semilla der Parteienstatus aberkannt werden müsse, da es Unregelmäßigkeiten bei der Registrierung 2018 gegeben habe. Das Oberste Wahlgericht wurde angewiesen, die Partei von der Stichwahl auszuschließen. Das Parteibüro von Semilla wurde von der Staatsanwaltschaft durchsucht, Richter des Obersten Wahlgerichts wurden unter Druck gesetzt und erhielten Anzeigen, weil sie den Auftrag der Generalstaatsanwaltschaft zum Ausschluss von Semilla aus der Stichwahl nicht umsetzten. Schließlich bestätigte das Verfassungsgericht, dass es die Verfassung verbiete, in ein laufendes Wahlverfahren einzugreifen und deshalb Arévalo in der Stichwahl antreten könne.

Die ist nun entschieden, und der Sieger wurde als nächster Präsident des Landes vom Obersten Wahlgericht bestätigt. Trotzdem werden die juristischen Angriffe weitergehen. Schon gibt es Anzeigen, dass angeblich „parteiliche“ Beschäftigte für die digitale Verarbeitung der Wahlergebnisse eingesetzt worden seien. Parallel soll Semilla mit konstruierten Vorwänden den Parteistatus aberkannt werden. In diesem Falle würden trotzdem Arévalo im Präsidentenamt und die gewählten Abgeordneten im Kongress verbleiben können. Jedoch wäre ihre Arbeit oh-ne Fraktionsstatus noch schwieriger, als sie es ohnehin sein wird. Denn Arévalo und seine Partei verfügen nicht annähernd über eine Mehrheit im Kongress. Semilla hat als drittgrößte Fraktion 23 Sitze ins Parlament, dazu gezählt werden könnten noch fünf Abgeordnete zweier kleiner systemkritischer Parteien. Demgegenüber verfügen die Pakt-nahen Parteien UNE der unterlegenen Sandra Torres und VAMOS des jetzigen Präsidenten zusammen über 67 Sitze. Für die Verabschiedung des Budgets und von Gesetzen sowie die Wahl von Spitzenfunktionär*innen des Verfassungsgerichts, des Obersten Rechnungshofes und so weiter braucht es mindestens 81 Stimmen. Arévalo und seine Fraktion stehen also vor der äußerst schwierigen Aufgabe, mindestens fallweise technische Allianzen zu schmieden, die Interessen des rechten Lagers berücksichtigen, ohne die eigene Wählerschaft zu verprellen. Niemand wagt Prognosen darüber abzugeben, ob und wie das gelingen könnte.

Bernardo Arévalo ist Akademiker aus der weißen Oberschicht, identifiziert sich aber mit und agiert auf Seiten der vor allem indigenen Benachteiligten des Landes. Er ist Mittsechziger, repräsentiert die Kontinuität demokratischer Traditionen im Land und ist gleichzeitig ein regelrechtes Jugendidol. Sein rachitisches Wahlkampfbudget wurde durch pfiffige Social-Media-Aktivitäten und Mobilisierungen seiner jungen Unterstützer*innen kompensiert. Der künftige Präsident wurde sowohl von der weißen Mittelschicht, der mestizischen Ladino-Bevölkerung als auch von sehr vielen Mayas gewählt. Er hat überall Mehrheiten geholt, außer in der Franja Transversal del Norte, Izabal und Petén. Er hat die indigenen Wähler*innen mobilisiert, obwohl das Projekt einer Verfassunggebenden Versammlung für einen Plurinationalen Staat, das relevante Teile der indigenen Aktivist*innen vereint, nicht im Regierungsprogramm enthalten ist, sondern lediglich die Aushandlung „eines neuen Gesellschaftsvertrags“. Unabhängig von der Ethnie hat er laut Wahlanalysen vor allem die Stimmen der Erstwähler*innen und junger Leute unter 35 erhalten.

Seine Partei Semilla ist noch relativ jung. Das heißt, es gibt wenig Seilschaften, aber auch wenig parlamentarisch oder verwaltungsmäßig erfahrenes Personal. Daraus ergibt sich, dass bereits bei der Besetzung von Ministerposten, der Spitzenpositionen in den Ministerien und der Präsidialbürokratie andere Gruppen, Parteien und gesellschaftliche Einrichtungen berücksichtigt werden können Die Sozialwissenschaftlerin Mónica Mazariegos sieht in diesen Aspekten das Potenzial dafür, dass es dem neuen Präsidenten gelingen könnte, für sein Reformprojekt Brücken zu bauen -zwischen den Ethnien, zwischen Stadt und Land, zwischen den Generationen, zwischen den politischen Lagern. Die Lage ist so hoffnungsvoll wie seit Jahrzehnten nicht, sagt sie, aber die Herausforderungen sind gigantisch.