„Anders als meine Generation dachte, kann die Literatur die Welt nicht verändern.
Aber auf jeden Fall kann sie die Menschen verändern, das reicht doch.“
Moacyr Scliar
Moacyr Scliar ist tot. Besonders groß war die Trauer in Porto Alegre, wo er geboren wurde und am 27. Februar 2011 den Folgen eines Gehirnschlags erlag. Es gibt wohl keinen Schriftsteller, der in Brasilien so beliebt war wie er. Im südlichen Bundesstaat Rio Grande do Sul war Scliar, der stets gut gelaunte, humorvolle und leidenschaftliche Mediziner, Erzähler und Kolumnist jüdischer Herkunft zudem ein Symbol des Regionalstolzes: Vor acht Jahren wurde er in die Brasilianische Akademie der Geisteswissenschaften gewählt. Allein in Brasilien hat der Sohn einer bessarabischen Auswandererfamilie an die 80 Bücher veröffentlicht: Erzählungen, Romane, Jugendbücher, kluge kulturgeschichtliche Essays über Medizin oder das Judentum. Er gehörte auch zu den meistausgezeichneten, meistübersetzten Autoren des Landes.
Seine ins Deutsche übertragenen Romane „Die Ein-Mann-Armee“, „Ein Zentaur im Garten“ und „Das seltsame Volk des Rafael Mendes“ sind nur noch antiquarisch erhältlich, seine Kurzgeschichten wurden im deutschen Sprachraum nur vereinzelt veröffentlicht. In den USA hingegen fand er große Anerkennung. Zum Allerbesten gehören neben den genannten Romanen sicher seine phantastischen Erzählungen aus den 80er Jahren, die an den von ihm hoch verehrten Franz Kafka oder an Julio Cortázar erinnern.
Allgegenwärtig war er aber auch über mehrere Zeitungskolumnen pro Woche, die vorwiegend in der Regionalzeitung Zero Hora erschienen. Die verfasste er buchstäblich überall, manchmal in wenigen Minuten kurz vor Redaktionsschluss, „nur nicht, wenn das Flugzeug in Turbulenzen kommt“, erzählte der Vielflieger augenzwinkernd. Am originellsten waren jene in der Folha de São Paulo: Jede Woche wählte er eine im Blatt publizierte Passage aus und spann sie zu einer fiktionalen Geschichte weiter.
Die Auseinandersetzung mit den jüdischen Wurzeln zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk. So wurde sein in Brasilien schon längst vergriffenes Sachbuch „Judaísmo – Dispersão e Unidade“, in dem er den Humor als einen der herausragenden Züge des Judentums würdigt, soeben in Portugal neu aufgelegt. Er selbst war dafür das beste Beispiel, und gerade weil er selbst nicht religiös war, verfügte er über einen besonders präzisen Blick. In den USA wurde Ein Zentaur im Garten in eine Liste mit den 100 zentralen Werken der jüdischen Weltliteratur aufgenommen.
In der Novelle „Max und die Katzen“ flieht der jugendliche Protagonist vor den Nazis aus Berlin nach Brasilien. Inspiriert wurde Scliar durch die Flucht des erfolgreichen jüdischen Operettenlibrettisten Fritz Oliven ( „Rideamus“), dessen Enkelin Judith er heiratete. Die Raubkatzen sind zugleich eine subtile Metapher für die brasilianische Militärdiktatur (1964-85) – Scliars Novelle erschien 1981.
„Meine Generation wurde von diesem Klima des Autoritarismus geprägt. Es versetzte jeden Intellektuellen, jeden Bürger in die Rolle eines Schiffbrüchigen, der sich in einem Boot einer rätselhaften und bedrohlichen Macht gegenübersah“, erinnerte sich Scliar. Anlässlich des 40-jährigen Jahrestages des Putsches verfasste er die Novelle „Jüdische Mutter, 1964“: Die Protagonistin wird zum psychiatrischen Fall, nachdem sich ihr Sohn dem bewaffneten Widerstand angeschlossen hat.
Als junger Mann war Scliar selbst einmal Mitglied einer jüdisch-kommunistischen Gruppe, vom dort herrschenden Dogmatismus wandte er sich aber bald ab. Das Scheitern vieler Varianten eines „Tropensozialismus“ wurde lange vor dem Fall der Berliner Mauer zum zweiten großen Thema Scliars – doch nichts lag ihm ferner als die Rolle des verbitterten Renegaten.
Bis zuletzt gehörte sein Herz den Außenseitern, den Träumern, den gescheiterten Idealisten. In seinem vor Monaten erschienenen Roman „Seid umschlungen, Millionen“ zieht der Jungkommunist Valdo 1929 von Südbrasilien nach Rio, wo er den Auftrag erhält, die Christusstatue, an deren Bau er beteiligt ist, in die Luft zu sprengen…
Ele era bom, e do bem, hieß es in einem der unzähligen, bewegenden Nachrufe auf Moacyr Scliar, die in Brasilien erschienen. Ein großer Literat also und ein guter Mensch, immer offen, großzügig, warmherzig. Und mit größter Selbstverständlichkeit blieb er bis zuletzt ein großer Popularisierer der Literatur, nicht nur der eigenen: Auf Buchmessen in aller Welt trat er ebenso auf wie in Provinzschulen. Gerne verglich er dieses „Missionieren“ von NeuleserInnen mit seiner jahrzehntelangen Tätigkeit im öffentlichen Gesundheitswesen, als er in den abgelegensten Landstrichen seiner Heimat Impfkampagnen organisierte.