Im Jahr 1993 wurde Quetzal in Leipzig als Vierteljahreszeitschrift zu Lateinamerika gegründet. Bis 2004 erschienen 35 gedruckte Ausgaben, dann entschied die Redaktion, die Publikation als online-Magazin (www.quetzal-leipzig.de) weiterzuführen. Ohne den Zwang der Produktion einer regelmäßigen Zeitschrift hatten die KollegInnen Raum, andere Projekte anzugehen bzw. sich intensiver in einzelne Themen einzuarbeiten. Als Ergebnis haben sie im letzten Jahr in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen die zweibändige Publikation „Bolivien im Umbruch – Der schwierige Weg der Neugründung“ veröffentlicht. Darin analysieren 17 AutorInnen aus Deutschland, Bolivien und den USA auf über 700 Seiten den politischen Prozess seit der Wahl des indigenen Politikers Evo Morales zum Präsidenten im Dezember 2005.
Auch wenn die insgesamt 18 Aufsätze eine Vielzahl von Aspekten von der Geschichte über die Wirtschafts-, Agrar-, Drogen- und Außenpolitik der aktuellen Regierung bis zur Binnenmigration, dem Verfassungsprozess oder der Rolle der Medien (letzterer von Andreas Hetzer aus der ila-Redaktion) aufgreifen, gibt es zwei Oberthemen, die in jeweils mehreren Beiträgen aus unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert werden: das Verhältnis der indigenen Bevölkerungsmehrheit zum Staat und die Hintergründe der Autonomiebestrebungen der wirtschaftsstarken Provinzen des Tieflandes.
Dies beginnt bereits mit dem Einleitungsbeitrag von Peter Gärtner, in dem der Status und die Rolle der Indígenas in der bolivianischen Geschichte einen Schwerpunkt bilden. Unter der Kolonialherrschaft waren sie der spanischen Krone tributpflichtig, das heißt sie mussten Zwangsarbeit leisten und Steuern abführen. In ihren Siedlungen konnten sie aber weitgehend autonom nach ihren Gesetzen leben. Nach der Unabhängigkeit von 1825 übernahm die kreolische Elite, die im Lande geborenen Nachfahren der SpanierInnen, den neuen Staat. Die Indígenas waren nun zwar „BolivianerInnen“, aber keine StaatsbürgerInnen mit entsprechenden Rechten, weil diese an Eigentum und Bildung geknüpft waren. Indes mussten sie weiter Abgaben entrichten – die „Indiosteuer“ war in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit die wichtigste Finanzierungsquelle des Staatsapparates. Durch verschiedene Tricks raubten kreolische Grundbesitzer indigenen Gemeinschaften zudem ihr Land und zwangen sie, als abhängige Pächter auf ihren Gütern zu arbeiten.
Erst die von den städtischen Bildungsbürgern angeführte und von indigenen Bauern und Bergarbeitern unterstützte Revolution von 1952 brachte den Indígenas die vollen Bürgerrechte. Eine Agrarreform dezimierte den Großgrundbesitz im Hochland und verhalf Teilen der indigenen Campesinos/as wieder zu ihrem Land. Im tropischen Tiefland, das „erschlossen“ und in die nationale Ökonomie eingegliedert werden sollte, wurde dagegen in beträchtlichem Umfang Land an die weißen Großagrarier verteilt und die oligarchische Struktur sogar noch verstärkt.
Die Revolution von 1952 brachte keine Anerkennung der indigenen Lebensweise, Kultur und Sprachen. Das Integrationsangebot der weißen und mestizischen Revolutionäre bestand vielmehr darin, dass die Indígenas die Möglichkeiten bekommen sollten (u. a. durch einen Ausbau des ländlichen Schulwesens), ihre „Rückständigkeit“ zu überwinden und zu spanischsprachigen mestizischen BürgerInnen in einem modernen Staat „aufzusteigen“.
Doch auch dieser „Aufstieg“ ließ sich in den meisten Fällen nicht realisieren. Dem standen sowohl der weiterhin starke Rassismus im Land als auch die ökonomischen Bedingungen entgegen. Die Indígenas blieben in ihrer großen Mehrheit arm. Auch diejenigen, die studieren konnten, fanden häufig keinen ihren Qualifikationen entsprechenden Arbeitsplatz. Die neoliberalen Reformen seit Mitte der achtziger Jahre verschärften die sozialen Widersprüche in der Gesellschaft weiter.
So blieben für die Indígenas die Überwindung des Kolonialismus und ihre soziale und politische Emanzipation weiterhin auf der Tagesordnung. Seit den siebziger Jahren bildeten sich indigene soziale Organisationen, die für Veränderungen im Interesse der indigenen Bevölkerungsmehrheit eintraten. In den Kämpfen gegen die neoliberale Umstrukturierung hatten sowohl auf dem Land als auch in den Städten indigene Bewegungen die Führungsrolle inne. Aus diesen Bewegungen, vor allem der Organisation der Cocabauern, entwickelte sich die MAS (Bewegung zum Sozialismus), die anders als der Name impliziert keine Wurzeln in der traditionellen Linken hat. Um die Registrierung zu erreichen, hatte das „politische Instrument“ der Cocaleros lediglich die Rechtsform und den Parteinamen von einer nicht mehr existenten Kleinpartei übernommen.
Das Spannungsverhältnis zwischen den indigenen Bewegungen und der MAS ist seit der Regierungsübernahme von Evo Morales ein doppeltes. Das Verhältnis von sozialen Bewegungen und linken Parteien ist generell schwierig, vor allem wenn die Parteien an die Regierung kommen. Zu diesem latenten Konflikt kommt in Bolivien, dass die MAS in der Regierung in den Augen der Indígenas nun den Staat repräsentiert, den sie nicht als den ihren betrachten. Während Nancy Romer in ihrem Aufsatz „Basisdemokratie und soziale Bewegungen in Bolivien“ vor allem den Grundkonflikt Regierungen und Bewegungen anspricht, geht der mit zwei Beiträgen (zu den Wahlen 2009 und 2010 sowie zum Wirtschaftsmodell der MAS) vertretene Muruchi Poma weiter und wirft der Regierung vor, sich zunehmend von ihrer indigenen Basis, deren Traditionen und Kenntnissen zu entfernen und sich der Logik des Kapitalismus und des bolivianischen Zentralstaats zu unterwerfen. Die Sicht dessen, was indigen ist und welche Rolle indigene Traditionen in der bolivianischen Gesellschaft und Politik spielen sollen, wird in dem Buch sehr unterschiedlich gesehen. Muruchi Poma, Simón Yampara Huarachi („Das neue bolivianische Staatsmodell – Eine kritische Reflexion aus Perspektive des andinen ayllus“) oder Jorge Choquehuanca und Carlos de Ugarte („Vivir bien als neues Entwicklungsmodell – Die Umweltpolitik der Regierung Morales“) sehen in der indigenen Tradition des Wirtschaftens die Lösung für Bolivien und hinsichtlich des Klimawandels auch für die gesamte Menschheit. Sie beziehen sich dabei auch positiv auf das Inkareich, ohne dessen imperialen und repressiven Charakter zu reflektieren. Demgegenüber weist Sebastian Matthes („Cambas vs. Collas – Ethnisierung des Politischen und Rassismus in Bolivien“) darauf hin, dass ethnische Identitäten immer sozial konstruiert sind. Er verweist dabei auf die Arbeiten von Abner Cohen und Paul R. Brass. Letzterer „versteht Ethnizität als Resultat von Konkurrenzkämpfen, die von den verschiedenen Eliten im modernen Zentralstaat um die vorhandenen Ressourcen (wie Beschäftigung, Land, politische und ökonomische Beteiligung) geführt werden“ (S. 370).
So betrachtet würde die „ethnische Frage“ nicht nur von den Eliten des Tieflandes, sondern auch von den indigenen Eliten instrumentalisiert, wobei es ersteren primär darum ginge, ihre Privilegien abzusichern, während letztere ihren Einfluss im Staatsapparat mit seinen Jobs und Ressourcen ausdehnen wollten.
Dieser primär die Diskurse der jeweiligen Eliten reflektierende Ansatz ist sicher nicht hinreichend, um die Komplexität der ethnischen Konflikte und die Kontinuität kolonialer Verhältnisse in Bolivien zu analysieren, ist aber ein notwendiges „Gegengift“ gegen eine nur ethnisierende Betrachtungsweise der gegenwärtigen Macht- und Verteilungskämpfe.
Welche Interessen die Eliten des Tieflandes mit ihrem ethnischen Diskurs und ihren Forderungen nach Autonomie verteidigen wollen, analysieren Luis Sandoval und Mark Weisbrot („Naturressourcen, Zentralstaat und Regionen – Autonomie und Verteilungskonflikte in Bolivien“) sowie Floria Quitzsch („Autonomie und Elitenprojekt – Santa Cruz zwischen nationaler Wirtschaftsmacht und regionaler politischer Abkapselung“) sehr faktenreich. Sie zeigen, dass der wirtschaftliche Aufstieg der Provinz Santa Cruz vor allem den massiven Investitionen der Zentralregierung in Infrastruktur, landwirtschaftliche Entwicklung und Erdölförderung zu verdanken ist. Die hochkonzentrierte Grundbesitzstruktur in Santa Cruz beruht auf der Tatsache, dass fast alle Zentralregierungen seit 1952 (von den „revolutionären“ Regierungen Paz Estenssoros 1952-56 und 1960-64 bis zu den Militärdiktaturen von Barrientos 1966-69 und Banzer 1971-78) ihren Günstlingen und lokalen Großgrundbesitzern jeweils riesige Ländereien im Oriente übertragen haben. Leider wird in den Aufsätzen nicht weiter auf die Bedeutung des Drogenhandels für den wirtschaftlichen Aufstieg von Santa Cruz in den achtziger Jahren eingegangen. Die Anbaugebiete der Cocablätter liegen zwar in anderen Regionen, doch Verarbeitung und Handel und damit ein Großteil der Drogengelder konzentrierten sich in Santa Cruz und wurden dort „gewaschen“, das heißt in der Regel auch investiert.
Die Eliten des Tieflandes hatten seit 1952 immer ihre Repräsentanten in den nationalen Regierungen, die darüber wachten, dass ihre Interessen „angemessen“ berücksichtigt wurden. Am stärksten war ihr Einfluss während der Diktatur von Hugo Banzer. Erst mit dem wachsenden indigenen Selbstbewusstsein seit den achtziger Jahren und den sich ab 2000 abzeichnenden politischen Veränderungen auf nationaler Ebene setzten die Eliten des Tieflandes auf die autonomistische Karte, um ihre Interessen abzusichern. Für die Großgrundbesitzer von Santa Cruz bedeutete das vor allem die Abwehr einer Agrarreform zugunsten der kleinbäuerlichen ProduzentInnen. Nicht von ungefähr verlangte das vom „Bürgerkomitee“ von Santa Cruz vorgelegte Autonomiestatut, dass Veränderung in der Landbesitzstruktur nur von einer autonomen Regionalregierung vorgenommen werden dürften. Als die Tieflandprovinzen 2008 mit Abspaltung drohten und Bolivien am Rande eines Bürgerkriegs stand, kam die Regierung Morales den Großgrundbesitzern entscheidend entgegen. Die im neuen Agrarreformgesetz vorgesehene Höchstgrenze von 5000 Hektar für landwirtschaftliche Betriebe sollte nicht rückwirkend gelten, die existierenden Großgrundbesitzungen wurden in ihrer Größe nicht eingeschränkt. Kleinbäuerliche indigene AktivistInnen sehen darin einen Verrat der MAS-Regierung an ihrer sozialen Basis, Regierungsvertreter betonen, nur so hätte eine weitere Eskalation und ein Bürgerkrieg verhindert werden können. In seinem Beitrag zur Geschichte der Agrarreformen in Bolivien resümiert Sven Schaller, die Regierung Morales habe mit den weitgehenden Zugeständnissen an die Großgrundbesitzer des Oriente das neoliberale – übrigens nicht sonderlich produktive – Agrarexportmodell festgeschrieben und auf jede weitergehende Änderung der Agrarstruktur verzichtet.
Der Doppelband „Bolivien um Umbruch“ ist ohne Zweifel die fundierteste und wichtigste deutschsprachige Veröffentlichung zum politischen Prozess in Bolivien seit dem Amtsantritt von Evo Morales Anfang 2006. Es liegt in der Struktur von Sammelbänden, dass es zwischen den einzelnen Beiträgen zu Überschneidungen kommen kann. Das hat im vorliegenden Band meistens Vorteile, weil die AutorInnen mit unterschiedlichen Ansätzen an die Themen herangehen. Allerdings ermüdet es dann doch etwas, wenn fast alle Einleitungen der Aufsätze zunächst die jüngste Geschichte Boliviens rekapitulieren. Hier hätten die HerausgeberInnen etwas mutiger redigieren und den einen oder anderen Absatz streichen können.
Aber dies ändert nichts an der Qualität der vorliegenden Publikation, an der künftig niemand vorbeikommt, die/der sich mit Bolivien beschäftigen und dazu etwas sagen will. Schade, dass nicht auch zu anderen lateinamerikanischen Ländern, in denen linke Regierungen einen politischen Wandel eingeleitet haben, derartige materialreiche Veröffentlichungen vorliegen. Eine vergleichbare Reflexion vor allem über den bolivarianischen Prozess in Venezuela wäre für die hiesige Debatte extrem hilfreich und notwendig.
Bolivien im Umbruch – Der schwierige Weg der Neugründung, hrsg. von Peter Gärtner, Monika Grabow, Muruchi Poma, Sven Schaller und Gabriele Topferwein, Quetzal-Leipzig e.V. und Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V., Leipzig 2010, 2 Halbbände, zusammen 720 Seiten, 29,00 Euro