Zwischen dem Bankier Guillermo Lasso, Chef der Banco de Guayaquil, und dem ehemaligen Vizepräsidenten Lenín Moreno, vor allem bekannt durch sein Programm zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen, sollten sich die Wahlberechtigten Ecuadors am 2. April 2017 entscheiden. Am Abend verkündete die Wahlbehörde den knappen Sieg von Moreno mit etwas über 51 Prozent der Stimmen. Die Opposition erkannte das Ergebnis allerdings bis Redaktionsschluss nicht an, sie vermutet Wahlbetrug und fordert eine Neuauszählung. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sich am endgültigen Ergebnis noch viel ändert. Damit geht in Ecuador zumindest nominell das progressive politische Projekt weiter, das 2006 mit Rafael Correa seinen Anfang nahm – anders als in Argentinien, Brasilien oder Paraguay, wo inzwischen wieder Kräfte aus dem entgegengesetzten politischen Lager am Ruder sind.
Der 2. April setzte einem außerordentlich schmutzigen Wahlkampf ein Ende, in dem Diffamierungen und Gerüchte in den digitalen Netzwerken das soziale Klima weiter polarisierten und die Regierungspartei Alianza País unbeanstandet auch den Staatsapparat für Wahlkampfzwecke nutzte, obwohl das gesetzlich untersagt ist. Beide Kandidaten ergingen sich in Wahlversprechen, die angesichts leerer Staatskassen unerfüllbar sein dürften, wie beispielsweise eine Erhöhung der monatlichen Finanzhilfe für die Ärmsten von 50 auf 150 Dollar. Teilweise nahm sich der Wahlkampf – wie in früheren Zeiten – wie ein Basar aus, in dem sich die Händler gegenseitig überbieten, ohne dass ein Bezug zur Realität dabei ins Gewicht fiele.
Wenn Lenín Moreno am 24. Mai 2017 das Präsidentenamt antritt, wird dennoch niemand wissen, wer die Staatsgeschäfte effektiv lenkt. Der scheidende Rafael Correa hat sich widersprüchlich geäußert – mal geht er ins Ausland nach Belgien, mal plant er ein baldiges Comeback, eventuell sogar durch vorgezogene Neuwahlen. Die Möglichkeit seiner unbegrenzten Wiederwahl ist bereits in der Verfassung verankert, sie war aufgrund massiver Proteste im Jahr 2015 nur für diese eine Wahl ausgesetzt worden. Schwere Korruptionsskandale um die staatliche Ölfirma Petroecuador und die brasilianische Baufirma Odebrecht warten auf ihre Aufklärung – die mit allen möglichen Tricks sorgsam bis nach den Wahlen verschleppt wurde. Insbesondere der gewählte und auch noch amtierende Vizepräsident Jorge Glas, der für die inkriminierten Projekte politisch verantwortlich zeichnet, könnte dabei in Mitleidenschaft gezogen werden. Glas gilt als der Vertrauensmann von Correa in der neuen Regierung, während sich Moreno durch eine betont versöhnliche Rhetorik von seinem Vorgänger abzugrenzen versucht, dessen Stil von Intoleranz, Verbalattacken und gerichtlichen Klagen gegen DissidentInnen aller Art geprägt ist.
Auch wenn Morenos Friedensbotschaft in dem extrem polarisierten und krisengeschüttelten Land gut ankommt, ist sie durch wenig konkrete politische Programmatik untermauert und erweckt eher den Eindruck einer neuen Tünche über dem alten Gebäude aus Extraktivismus, Zentralisierung der Macht in der Exekutive und Repression gegen Andersdenkende.
Für die unabhängige, oppositionelle Linke, deren Bündnis im ersten Wahlgang mit dem sozialdemokratischen Ex-Bürgermeister von Quito und pensionierten General Paco Moncayo lediglich 6,7 Prozent erhalten hatte, war die Stichwahl am 2. April eine zwischen Pest und Cholera. Viele Stimmen aus diesem Lager riefen letztendlich zur Wahl des neoliberalen Lasso auf. Nach zehn Jahren systematischen Angriffen auf jegliche Form autonomer sozialer Organisierung setzen sie ihre Priorität auf ein unbedingtes Ende der Herrschaft des Correismus mit seinen verkrusteten, alle staatlichen Institutionen umspannenden Strukturen. Lasso hatte es vor diesem Hintergrund leicht, sich als Kandidat der Rückkehr zur Demokratie darzustellen. Angesichts der militanten Ablehnung von Abtreibungen seitens Rafael Correa wirkte sogar er, dessen Mitgliedschaft im Opus Dei bekannt ist, in Sachen Selbstbestimmungen über den eigenen Körper liberal: „Ich habe nicht vor, mich als moralischer Führer des Landes aufzuspielen“, sagte er wiederholt. Auch im Hinblick auf die Umweltpolitik machte er erstaunliche Wahlversprechen – zum Beispiel, das Öl im Yasuní-Nationalpark im Boden zu lassen oder bei Bergbauprojekten das Ergebnis der Vorabbefragung der Lokalbevölkerung als bindend zu betrachten. So entscheidend diese Dinge auch wären für eine nachhaltige Politik in dem mega-biodiversen Tropenland, so naiv wäre es gewesen, diese Versprechen angesichts der leeren Staatskassen und des auch regional verankerten politischen Hintergrunds von Lasso für bare Münze zu nehmen.
Für viele außenstehende BeobachterInnen ging es zu keinem Zeitpunkt darum, was in Ecuador tatsächlich geschieht, sondern um den bloßen Erhalt „rot“ regierter Flecken auf einer Weltkarte, die vor allem die eigene Psyche benötigt, um nicht ganz die Hoffnung zu verlieren. Hofnarren des Fortschrittsglaubens wie der Argentinier Atilio Borón verstiegen sich gar dazu, die Wahl als eine „Neuauflage der Schlacht um Stalingrad“ zu beschreiben – in der also das unbedingt Gute gegen das unbedingt Böse antrat. In Wirklichkeit war die Wahl am 2. April 2017 eine zwischen einer neoliberalen, marktkonformen Rechten und einer etatistischen, autoritären Pseudo-Linken, die sich trotz revolutionärer Rhetorik von jeglichem Emanzipationsideal längst verabschiedet hat und ihren unbedingten Willen zum eigenen Machterhalt auf oft beschämende Weise in den Vordergrund drängt. Von dem großen Transformationsprojekt, das der Wahlsieg von Rafael Correa im Jahr 2006 symbolisierte, ist heute nicht mehr viel zu spüren.
Vor gut zehn Jahren erlebte Lateinamerika eine historisch einzigartige Konstellation: In einem Land nach dem anderen gewannen linksgerichtete Kräfte demokratische Wahlen. Nach der Schuldenkrise der 1980er-Jahre und den Jahren neoliberaler Strukturanpassung schien es möglich, dass ein ganzer Kontinent aus dem Mainstream des Primats von Finanz und Profit ausscheren könnte. Ein neuer Prozess regionaler Integration wurde eingeleitet, der ganz andere Ziele verfolgte als die von der US-Regierung erwünschte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA, die Lateinamerika 2005 abgelehnt hatte. In vielen Ländern, darunter Ecuador, hatten soziale Bewegungen nicht nur Regierungen unblutig zu stürzen vermocht, sondern auch Visionen einer anderen Gesellschaft entwickelt. Einen solchen Aufwind hatte soziale Emanzipation seit den späten 1960er-Jahren nicht mehr erlebt.
In dieser Konjunktur kam der Ökonom Rafael Correa in Ecuador an die Macht. Er begann seinen Wahlkampf als Außenseiter, aber ihm und seiner Bewegung Alianza País gelang es, die Forderungen der sozialen Bewegungen auf die wahlpolitische Ebene zu übersetzen. Das Land sollte am besten neu gegründet werden – eine neue Verfassung musste her. In den ersten Monaten regierte der neue Präsident hauptsächlich mit Ausnahmedekreten, um das alte Establishment in Schach zu halten und das Parlament zu umschiffen, in dem noch die Oligarchie saß. Dennoch atmete Ecuador in diesen ersten Jahren Demokratie von unten. StudentInnen, Indigene, die Frauenbewegung und Gewerkschaften machten sich daran, ihre Vorstellungen von einer gerechteren Gesellschaft, vom Ende des Patriarchats, von kostenloser allgemeiner höherer Bildung, von wahrhaft interkulturellen Institutionen auszuformulieren: Institutionen, die nicht nur indigene und schwarze und Frauen per Quote beteiligen würden, sondern sich auch einer anderen Logik als der herrschenden westlichen, patriarchal-paternalistischen und rassistischen öffnen würden.
Zehn Jahre später ist diese Aufbruchsstimmung in ihr Gegenteil umgeschlagen. Nach der Annahme der Verfassung per Volksabstimmung im Jahr 2009 ersetzten die Dynamiken der Realpolitik bald die Konjunktur der Visionen. Die Correa-Regierung modernisierte die staatlichen Institutionen nach neoliberalen Managementkriterien und trimmte sie auf Effizienz – ihr interkultureller und emanzipatorischer Umbau blieb deshalb zwangsläufig auf der Strecke.
Hinzu kam die Vertiefung des Extraktivismus, der durch die außerordentlich hohen internationalen Rohstoffpreise attraktiv geworden war. Zwar sollte mit den Einnahmen aus dem Rohölexport die wirtschaftliche Diversifizierung und die Abkehr von der strukturellen Abhängigkeit vom Rohstoffexport finanziert werden – doch blieb der vielbeschworene Wandel der Produktionsmatrix ein Papiertiger. Ecuador ist heute abhängiger von Rohstoffexporten denn je, und im amazonischen Nationalpark Yasuní, bis 2013 internationales Symbol für effektive Klimapolitik unter dem Motto „Lasst das Öl im Boden“, werden die ersten von 600 geplanten Bohrlöchern gebohrt. Die ecuadorianische Unternehmenslandschaft weist in vielen Bereichen immer noch einen hohen Konzentrationsgrad auf. Während die Correa-Regierung rhetorisch oft gegen die wirtschaftlichen Eliten wetterte, erzielten diese unter der Bürgerrevolution historische Gewinnmargen.
Die Regierung nutzte, wie auch „linke“ Regierungen andernorts, ihre hohe Legitimität, um Maßnahmen durchzusetzen, die unter einer rechten Regierung am Widerstand der organisierten Bevölkerung gescheitert wären. Ein Beispiel ist das zum 1. Januar 2017 in Kraft getretene Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union. Auch mit der Ausweitung des Extraktivismus – der Erschließung neuer Ölvorkommen im Amazonasbecken und der Einführung des transnationalen Megabergbaus in dem mega-biodiversen Land – sind strukturelle Weichenstellungen vorgenommen worden, die auch politische Auswirkungen haben: Die für die Verteilung der Rente zuständige staatliche Zentralmacht wird gestärkt, die Kontrollinstanzen hingegen geschwächt und politisch auf Linie gebracht, was auch Korruption begünstigt. Dass sich die Korruptionsskandale der letzten Monate nicht nennenswert auf die Wahlergebnisse ausgewirkt haben, liegt an der politischen Erlahmung der Bevölkerung angesichts eines Staates, der sich seit einem Jahrzehnt als einzig legitimer Akteur sozialen Wandels präsentiert, an der Dominanz der Regierungssicht in der ecuadorianischen Medienlandschaft und der mit den Petrodollars gewachsenen Konsumkultur.
Die zunächst populäre Forderung nach der „Rückkehr des Staates“ war eine Antwort auf den Neoliberalismus; sie ist mittlerweile in einen disziplinierenden Etatismus gemündet, der einige Steuerungsinstrumente des Realsozialismus des 20. Jahrhunderts mit dem Erbe der zutiefst kolonial geprägten, autoritär-populistischen und strukturell korrupten politischen Kultur Lateinamerikas verbindet: Seine Merkmale sind eine enge Verstrickung zwischen Staat und Partei, Personenkult und faktische Aufhebung der Gewaltenteilung, die Kopplung von Vergünstigungen und Sozialleistungen an politische Loyalität und eine Polarisierungslogik, in der Kritik und Debatte auch in den eigenen Reihen von vornherein unterbunden werden. So hat sich Alianza País 2014 einen Ethikcode gegeben, demzufolge der eigenen Parlamentsfraktion das Öffentlichmachen von Dissidenz unter Androhung des Mandatsverlustes verboten ist.
Die Bürgerrevolution hat dem Land eine lang ersehnte politische Stabilität und eine neue Infrastruktur beschert. Im Ausland war die Regierung darauf bedacht, ihr revolutionäres Bild zu pflegen und beispielsweise Julian Assange politisches Asyl zu gewähren, aber im Inland baute sie im Zuge der Digitalisierung staatlicher Dienstleistungen auch die Überwachung der BürgerInnen aus. Vor allem aber betrachtete sie jegliche Form autonomer sozialer Organisierung als Bedrohung der Regierungsmacht und bekämpfte sie – mit einigem Erfolg: Die Indígena- und Studierendenbewegung sowie die Gewerkschaften sind heute nur noch ein Schatten ihrer selbst. Andauernde Diffamierung in der Öffentlichkeit, die Gründung von regierungstreuen Parallelorganisationen, aber auch Kriminalisierung und Militarisierung, wie sie das im lateinamerikanischen Kontext vergleichsweise friedliche Land lange nicht erlebt hatte, haben schließlich gefruchtet. Über 400 Gerichtsverfahren gegen AktivistInnen sind derzeit anhängig. Im Süden des Landes, wo die indigenen Shuar-Gemeinden gegen die Konzessionierung ihrer angestammten Gebiete an eine chinesische Bergbaufirma protestieren, herrschen seit Monaten Armee und Ausnahmezustand.
Als Erfolg der Correa-Regierung gilt vor allem die Reduzierung von Armut und Ungleichheit – in deren Namen der Extraktivismus stets gerechtfertigt wurde. Zwischen 2007 und 2015 war die Armut nach offiziellen Angaben um 13,4 Prozentpunkte gesunken. Aufgrund des Zusammenbruchs der Ölpreise auf dem Weltmarkt seit der zweiten Jahreshälfte 2014 ist sie jedoch wieder gestiegen – was zeigt, wie wenig nachhaltig die ergriffenen Maßnahmen waren. Ein offener Brief der Shuar-Indigenen macht deutlich, wie problematisch der produktivistische Armutsbegriff der Regierung ist: „Kommen Sie uns nicht damit, dass Sie Bergbau betreiben, um uns aus der Armut zu holen. Denn wir fühlen uns mit unserer Lebensweise nicht arm. Sagen Sie uns lieber, wie Sie uns als Volk und unsere Kultur schützen werden.“
Lenín Moreno verfügt aufgrund des knappen und umstrittenen Wahlergebnisses nicht nur über eine geringe Legitimität, er tritt auch ansonsten ein problematisches Erbe an: ein Land, das sich auf Jahrzehnte verschuldet und obendrein überteuerte Kredite mit Zinssätzen von teils über zehn Prozent aufgenommen hat. Die natürliche Vielfalt des Landes und die Optionen künftiger Generationen hat die Regierung Correa aufgrund eines kurzfristigen politischen Kalküls längst verpfändet. Eins der produktivsten, zuvor staatlichen Ölfelder verscherbelte sie vor kurzem gegen schnelles Geld an Schlumberger, zwei Häfen wurden konzessioniert – ganz im Gegensatz zur Politik der frühen Jahre, die den Anteil der Staatseinnahmen aus dem Ölgeschäft erweitert hatte. Außerdem wurde ein beträchtlicher Teil der an sich schon eher bescheidenen verbleibenden Ölreserven im Voraus an China verkauft. Die damit gedeckten Darlehen sind längst investiert. Auch die erwarteten Lizenzgebühren aus dem beginnenden Bergbau flossen bereits im Voraus in Schulneubauten und andere Projekte. Da bleibt in Zukunft kaum finanzieller Spielraum für staatliche Politik.
Edgardo Lander, Soziologe aus Venezuela, macht unter anderem die mangelnde Lernfähigkeit der Linken und die sogenannte „bedingungslose Solidarität“ für den Niedergang der progressiven Transformationsprojekte Lateinamerikas verantwortlich: „Wir lernen nicht. Wenn wir den Kampf für eine postkapitalistische Gesellschaft nicht als einen Kampf verstehen würden, der irgendwo anders passiert und in dem wir deshalb solidarisch mit dem sein müssen, was jene dort tun, sondern als einen Kampf von uns allen, dann ist das, was Du dort schlecht machst, für uns hier genauso von Nachteil und ich habe die Verpflichtung, darauf hinzuweisen und aus dieser Erfahrung zu lernen, um nicht dasselbe zu wiederholen. Aber wir sind unfähig zu lernen, weil wir, wenn das venezolanische Modell irgendwann endgültig kollabiert, einfach woanders hinschauen werden. Das ist als Solidarität, als Internationalismus, als politisch-intellektuelle Verantwortung, eine Katastrophe.“