Dieses Buch ist eine Gegendarstellung, gegen das Stereotyp von Haiti als dem „ärmsten Land der westlichen Hemisphäre“, dem gescheiterten Staat, dem nicht entwickelbaren Land oder dem hoffnungslosen Fall für humanitäre Hilfe. Gegen diese „einzige Erzählung“ holen die Autorinnen die beispielhafte Geschichte von Kämpfen in der ehemaligen französischen Kolonie Saint Domingue ins Gedächtnis zurück und lassen Stimmen aus dem Land selbst zu Wort kommen.
Hier betrat Kolumbus 1492 zum ersten Mal lateinamerikanischen Boden, hier begann mit dem transatlantischen Sklavenhandel die Geschichte des Kapitalismus und hier befreiten sich die Sklav*innen und erklärten 1804 als erste Kolonie die Unabhängigkeit. Die Haitianische Revolution begann 1791 mit einem Sklavenaufstand, anderthalb Jahre nach der Französischen Revolution. Sie machte die Menschenrechte zu einem universellen Anspruch. Wesentliche Träger der Revolution waren in Freiheit geborene und dann versklavte Menschen.
Sklav*innen hatten Weltgeschichte geschrieben – ein gefährliches Vorbild, das möglichst bald vergessen werden sollte. Stattdessen wird das Bild von den schwarzen Opfern gezeichnet, die auf weiße Retter*innen warten und für ihre Misere selbst verantwortlich sind. Aber die Menschen in Haiti fordern weiterhin ihre Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit und Würde ein. In dem Zyklus von Aufständen, die letztes Jahr um die Welt gingen und erst durch die Pandemie ausgebremst wurden, war Haiti wieder vorneweg dabei.
Die Verarmung der damals lukrativsten Kolonie Amerikas begann mit der Unabhängigkeit. Frankreich verhängte ein Embargo. Um wieder am Welthandel teilnehmen zu können, musste Haiti eine gigantische „Reparationsschuld“ anerkennen. Bis Anfang der 1950er-Jahre zahlte Haiti an Frankreich eine Summe, die heute etwa 40 Milliarden Euro entsprechen würde, als Ersatz für verloren gegangenen Besitz einschließlich der Sklaven. (Warum die Autorinnen bei den Sklaven nur die männliche Form benutzen, wird nicht erklärt). Der folgende Handel mit Kaffee, Kakao und Holz führte zu einem Raubbau an der Natur. Die Besatzung durch die USA 1915-34, fast 30 Jahre Duvalier-Diktatur ab 1957 und die Strukturanpassungsprogramme der 1980er-Jahre verschärften die Schuldenkrise.
2010 wurde Haiti von einem Erdbeben verwüstet. Zigtausende starben, 1,5 Millionen Menschen wurden obdachlos. Es folgte der größte internationale Hilfseinsatz seit dem Tsunami 2004 oder auch: „die Katastrophe nach der Katastrophe“. Katja Maurer kennt sich als Haitibeauftragte bei medico international bestens in der NRO-Szenerie aus. Ihre Kritik an dem Einsatz, bei der sie sowohl die Mechanismen offenlegt als auch Beispiele bringt, fällt vernichtend aus. Von den auf Geberkonferenzen zugesagten 13 Milliarden US-Dollar bis 2020 wurde weniger als die Hälfte ausgezahlt. Hilfsgelder wurden mit ausstehenden Kreditforderungen verrechnet. Die Gelder landeten in erster Linie bei ausländischen Firmen und nützten am Ende den Gebern mehr als den Überlebenden. Aber auch Hilfsorganisationen und wohlmeinende Helfer*innen tragen Verantwortung für die Misere.
Katja Maurer hat bei manchen Helfer*innen Überheblichkeit und kolonialistische Einstellungen festgestellt. Nichtregierugsorganisationen gehen nicht die strukturellen Ursachen von Armut und Ausgrenzung an, sondern verwalten die Phänomene. Unter dem Druck von Geldgebern und medialer Öffentlichkeit, die Wirksamkeit der Hilfe nachzuweisen, werden vor allem fotogene und messbare Projekte umgesetzt, nicht aber nachhaltige, die einen langfristigen Sinn ergeben. Eine Koordination mit kohärenter Strategie war in den „humanitären Blasen, die in sich ziemlich gut und mit ihrer eigenen Agenda funktionierten“, (Raoul Peck) nicht möglich. Haiti wurde zu einer „Republik der NGOs, die in die Lücke fehlender staatlicher Infrastruktur eindrangen und aus verbrieften Rechten Gefälligkeiten machten“. Der Anthropologe Mark Schuller weist im Interview darauf hin, dass die internationale Hilfe vorhandene soziale Netzwerke und soziale Institutionen, die Tradition des Teilens und den Zusammenhalt der Familien zerstört hat.
Das Buch ist in neun thematische Kapitel mit jeweils einem Artikel und einem Interview gegliedert. Es geht unter anderem um Freihandelszonen und Textilexportindustrie oder um das Verhältnis zur benachbarten Dominikanischen Republik, die unter Ausnutzung des haitianischen Marktes und der billigen Arbeitskräfte aus Haiti ökonomisch wesentlich besser dasteht. Ein Kapitel ist den Vereinten Nationen gewidmet, deren Truppen Cholera und Vergewaltiger ins Land brachten und deren Vertreter an einem Putschversuch gegen den damaligen Präsidenten Préval beteiligt waren, wie der ehemalige Repräsentant der OAS in Haiti, Ricardo Seitenfus, als Zeuge berichtet. Die Bedeutung der Provinz, der Zentralismus und die Landflucht in die Slums der Städte werden beleuchtet. Eine Historikerin und eine Schriftstellerin werden vorgestellt sowie kulturelle Projekte. Eine Zeittafel zur Geschichte Haitis erleichtert die Einordnung.
Das Buch ist informativ, engagiert geschrieben und gut zu lesen. Aber trotz der ausführlichen und fundierten Kritik an den NRO verlässt das Buch nicht wirklich deren Blickwinkel. Die Interviewten werden fast alle als Akademiker*innen vorgestellt und es wird über ihre Professuren an „renommierten Universitäten“, ihre Zugehörigkeit zur „kritisch-intellektuellen Elite“ oder ihre Hausangestellten berichtet. Auch das „Tagebuch eines Aufstandes“ von Katja Maurer aus dem September 2019 ist aus der Perspektive des Büros der Menschenrechtsorganisation RNDDH geschrieben. Etwas mehr über den Aufstand erfahren wir aus dem Interview mit Nixon Boumba, einem Menschenrechtsaktivisten aus einer Bauernfamilie, der gerade seinen ersten NRO-Job angetreten hat und hofft, von dort aus weiter die Bewegungen unterstützen zu können. Aber die Stimmen der Menschen auf der Straße, in den Obdachlosenstädten oder Armenvierteln kommen leider auch in diesem Buch nicht vor und wir erfahren wenig darüber, wie sie sich und ihr Überleben organisieren. Dem wichtigen antikolonialen Blick fehlt noch der Blick von unten.