Im Jahr 2015 wurde beschlossen, das Assoziationsabkommen zwischen Chile und der EU zu modernisieren, das seit 2003 zum Teil und seit dem 1. März 2015 vollständig in Kraft ist. Das Interesse der EU an der Modernisierung besteht darin, den Vertragstext an die Freihandelsabkommen der neuen Generation anzupassen, die zusammengefasst den Investoren noch mehr Garantien gewährleisten und den Handlungsspielraum der Staaten noch weiter einschränken, damit das europäische Kapital nicht auf ungünstige Rahmenbedingungen in Chile trifft. Vonseiten des südamerikanischen Landes herrscht Grund zur Eile, um der Regierung Bachelet nochmals einen handelspolitischen Erfolg zu bescheren, nämlich die stärkere Einbindung in den Weltmarkt, da ihr Mandat bereits im März 2018 endet.
Obwohl die Verhandlungen offiziell noch nicht begonnen haben, haben die Verhandlungsteams de facto das ganze Jahr 2017 über gearbeitet. Mittlerweile wissen wir, dass die Inhalte im Europäischen Parlament bereits debattiert wurden. In Chile hingegen sind politische Parteien, Abgeordnete, geschweige denn die Öffentlichkeit überhaupt nicht informiert über die Diskussionen. Sie wissen weder, nach welchen Kriterien verhandelt wird, noch auf welche Studien sich die Verhandlungen stützen. Das scheint mittlerweile Tradition zu sein. Doch dagegen regt sich langsam Widerstand, in dem Maß, wie das Bewusstsein in der Bevölkerung wächst. Allerdings wird Handelspolitik bis jetzt noch vollkommen unberührt von Wahlergebnissen oder der öffentlichen Meinung vollzogen.
Dank einiger offizieller Informationen wissen wir zumindest, dass über folgende Themen neu verhandelt wird: Liberalisierung der Zölle, Ursprungsregeln, Kooperation von Zollsystemen und Handelserleichterung, sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen, Dienstleistungen und Investitionen, Staatsankäufe, Kapital- und Zahlungsverkehr, geistiges Eigentum, technische Handelshemmnisse, Instrumente zur Verteidigung des Handels, Mediation und Streitschlichtung, Kompetenzen und Transparenz.
Außerdem erachtet es die Arbeitsgruppe für wichtig, neue Kapitel einzuführen, etwa zu Handel und nachhaltiger Entwicklung, Energie und Rohstoffen, Genderpolitik im Zusammenhang mit internationalem Handel, guter Regierungsführung, kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie Korruptionsbekämpfung.
Bei den zusätzlichen Kapiteln ist insbesondere das zu Gender und Handel hervorzuheben, da es, zumindest aus der Sichtweise Chiles, arg strapaziert worden ist, um gute Presse zu bekommen für die Aktualisierung des Freihandelsabkommens mit Kanada. Das Thema ist sensibel und aktuell, erhält immer mehr Aufmerksamkeit. Bei genauerer Lektüre der Kapitel zu Gender in den Verträgen der neuen Generation, die untereinander alle recht ähnlich sind, drängt sich der Schluss auf, dass es sich um eine Ansammlung von guten Absichten handelt, ohne grundlegende Änderungen oder bindende Auflagen. Einer der wichtigen Kämpfe in näherer Zukunft im Hinblick auf die Freihandelsverträge wird darin bestehen aufzuzeigen, dass diese Genderkapitel vor allem nur Propaganda sind.
Die Dokumente, die bisher im Geheimen von beiden Seiten besprochen worden sind, benennen unter anderem die Notwendigkeit zu mehr Transparenz. Doch tatsächlich geschieht nichts in der Hinsicht, denn in Chile finden Verhandlungen zu Verträgen generell im Geheimen statt, was bei Neuverhandlungen noch ausgeprägter ist. Dies ist einer der Hauptvorwürfe seitens der Plattform Chile Mejor sin TLC („Besseres Chile ohne Freihandelsverträge“), in der 120 soziale und zivilgesellschaftliche Gruppierungen vertreten sind, die im Rahmen der TPP-Verhandlungen entstand und nun Kritik an Freihandelsabkommen generell formuliert.
In diesen Dokumenten wird ein spezielles Problem des Freihandelsabkommens Chile-EU genannt, nämlich dass dieses Abkommen hinter die weltweiten Liberalisierungsbemühungen in den letzten fünf Jahren zurückfällt. Chile verhandelte mit beim TPP, das nun in TPP-11 umbenannt wurde[fn]Seitdem sich die USA von TPP verabschiedet haben, sind nur noch elf Länder daran beteiligt.[/fn], doch bei den Verhandlungen mit der EU gibt es nicht genügend Schutz für Investoren, für das geistige Eigentum oder für die Ursprungsbezeichnungen (bei Lebensmitteln). Die EU ist der Meinung, dass Chile beim Handel mit Dienstleistungen Hürden aufstelle (diese Art von Diskurs wird auch angewandt, um das Dienstleistungsabkommen TiSA zu legitimieren) und dass es immer noch Zollhürden für Milchprodukte, Weizenmehl und Zucker aus der EU gebe. Deswegen will die EU stärker in staatliche Sektoren eingreifen, was sehr wahrscheinlich Privatisierungsprozesse befördern wird, wie sie vor zwei Jahrzehnten in ganz Lateinamerika stattfanden (damals war vor allem spanisches Kapital vorherrschend). Schließlich wird darauf hingewiesen, dass der Handel mit Drittländern wie China tendenziell zurückgehe.
Milton Friedman, Ideengeber für das neoliberale Wirtschaftsmodell, das unter der Pinochet-Diktatur vorangetrieben wurde, schuf den Begriff „chilenisches Wunder“, womit er sich auf den makro-ökonomischen Höhenflug des Landes (im Vergleich zum Rest Lateinamerikas) bezog, auch wenn dies einen hohen Preis hatte: eine Privatisierungspolitik, die die Sozialleistungen abbaute, die Ungleichheit vergrößerte und die Überausbeutung der Natur vorantrieb. Obwohl bereits mehrere Jahrzehnte seit Beginn dieses Prozesses verstrichen sind, ist Chile tatsächlich immer noch ein Land, dessen Modell auf dem Export von Rohstoffen oder von nur sehr gering weiterverarbeiteten Produkten basiert. Und genau das wird von hier aus immer noch in die Freihandelsverträge eingebracht, zum Beispiel gegenüber Kanada, das sich Chile auf den Bergbau konzentriert hat, mit der Folge gravierender sozio-ökologischer Konflikte, wie etwa bei der Mine Pascua Lama in der Region Atacama.
Im Hinblick auf das Abkommen mit der EU stellt es sich nun so dar, dass die Verhandlungstexte die Umweltauswirkungen zwar anerkennen, die aufgrund der Importe aus Chile entstanden sind: bei Obst (wegen der Nutzung von Agrargiften, die in einigen Gebieten schwere Schäden bei der Bevölkerung bewirkt haben); bei Holz (die Forstwirtschaft in Form von Monokulturen hat die Böden und die ursprünglichen Wälder zerstört); bei Lachs und Meeresfrüchten (ein Großteil der Arten ist überfischt). Deswegen erkennt die EU an, dass sie nicht zur Nachhaltigkeit beiträgt. Doch wie soll dann eine noch größere Öffnung, wie sie in der Modernisierung des Abkommens vorgesehen ist, zu mehr Nachhaltigkeit führen, die angeblich angestrebt wird. Oder wie soll stärkerer Druck auf die Ökosysteme in einer Welt mit endlichen Ressourcen mit einer Verbesserung des Umweltschutzes kompatibel sein?
Bei diesen Verhandlungen hat die EU angekündigt, alle Zölle für Lebensmittel abzuschaffen und die Ursprungsregel einzuführen. Außerdem will sie frei in die Finanzdienstleistungen und bei der Post eintreten; des Weiteren erachtet sie die Auflagen für ausländische Banken als sehr hoch, ebenso die Norm, dass 85 Prozent der Angestellten Staatsbürger*innen sein müssten. Trotz allem geht sie davon aus, dass der Vertrag die Arbeitsbedingungen in Chile verbessern wird. Über den Diskurs hinaus ist für uns allerdings nicht ersichtlich, wie dies mit solch einem handelspolitischen Instrument geschehen soll.
Die EU möchte, dass europäisches Kapital zur Bereitstellung von Dienstleistungen oder Materialien in CODELCO einfließt, das staatliche Kupferunternehmen, das auch „der Lohn Chiles“ genannt wird und das in diesem Geschäftszweig zu den größten Unternehmen weltweit gehört. Außerdem will sie, dass geistiges Eigentum geschützt wird, so wie es auch in anderen Abkommen hinsichtlich digitaler Nutzung festgelegt ist. Hier will sie also die gleichen standardisierten Normen wie beim TPP erreichen, aber gerade das war auf starke Kritik in der Bevölkerung Chiles und derjenigen der anderen am TPP beteiligten Länder gestoßen. Deswegen wird auf das Vertragsmodell zwischen Kanada und der EU (CETA) zurückgegriffen, in dem auch ein Internationales Schiedsgericht für Investorenschutz vorgesehen ist. Dort trägt es einen Phantasienamen, um sich von dem im TPP vorgesehenen Schiedsgericht zu unterscheiden; doch die Unterschiede sind nicht besonders groß. Sie gleichen sich vor allem in der Hinsicht, dass die souveräne Politik der Staaten den sehr weit gefassten möglichen Beeinträchtigungen der Investoreninteressen (etwa durch Steuer-, Sozial-, Arbeits- oder Umweltpolitik) untergeordnet wird, da jene klagen dürfen, wenn sie sich beeinträchtigt fühlen.
Die beiden Seiten verhandeln darüber, den Vertrag umfassend zu verändern. Dazu gehört auch, den Umweltschutz und die Arbeitsrechte zu stärken. In der Hinsicht wird vorgeschlagen, international bereits existierende Instrumente, etwa von der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, zu berücksichtigen. Allerdings gibt es starke Zweifel, ob auch die ILO-Konvention 169 Anwendung finden wird, die bei Infrastruktur- oder Bergbauprojekten die vorherige Befragung ortsansässiger indigener Bevölkerung vorsieht, oder ob auch das internationale Instrument angewandt wird, das die Rechte der indigenen Völker anerkennt (Chile hat es zumindest unterschrieben).
In der Hinsicht sind mindestens vier Punkte wichtig:
Erstens sollte das modernisierte Abkommen Arbeitsrechte berücksichtigen, unabhängig von den Aspekten, die mit Handel und nachhaltiger Entwicklung zu tun haben, oder von den Aspekten, die mit Menschenrechten zusammenhängen und die im Politikkapitel behandelt werden können. Dies ist wichtig, um die Einwände zu entkräften, die zum Beschäftigungskapitel im TPP laut wurden, und auch angesichts der drohenden Prekarisierungsprozesse, die TiSA enthält, das nämlich Personen als Dienstleistungserbringer ansieht, die sich zwar zwischen den Ländern bewegen können, über deren Rechte aber nichts vereinbart wird; genauso wenig wird gesagt, dass der Staat für diese Personen Sorge trägt.
Zweitens haben die vorläufigen Dokumente im Hinblick auf Gender und temporäre Beschäftigung anerkannt, dass Frauen in Chile vor allem in der Landwirtschaft Beschäftigung finden, wobei es sich um niedrig qualifizierte Arbeitsplätze handelt. Es wird darauf hingewiesen, dass eine Vertiefung des Abkommens die strukturellen Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern nicht verändern würde; allerdings wird sich auch nicht um die Rechtsverletzungen gekümmert, die im Rahmen dieser spezifisch weiblichen Beschäftigungslage entstehen: unter anderem, dass die Frauen Pestiziden ausgesetzt sind; dass sie lange Arbeitstage haben, die über die lokale Gesetzgebung hinaus-gehen, und dass die Arbeit zum Teil unter sklavereiähnlichen Bedingungen stattfindet.
Drittens wird auf die Rechte der indigenen Völker hingewiesen, ausdrücklich im Zusammenhang mit dem Bergbau. An dieser Stelle wird gesagt, dass der Bergbau, auch wenn er mit der Vertiefung des Abkommens ausgebaut werde und Konflikte um Land mit den Indigenen sehr wahrscheinlich zunehmen würden, „bis jetzt nur am Rande für Konflikte gesorgt hat“. Dabei wird jedoch das Wichtigste vergessen: Es ist keine Verbindung zu anderen extraktiven Prozessen (Forstwirtschaft oder Fischerei zum Beispiel) noch zu anderen Investitionen hergestellt worden, die Auswirkungen auf indigenes Land haben und mit der Energieerzeugung zu tun haben (Wasser- oder Erdwärmekraftwerke).
Im bisherigen Entwurf werden die umfassenden Auswirkungen auf die sogenannten (Menschen-)Rechte der zweiten Generation nicht berücksichtigt: das Recht auf Zugang zu Wasser oder das Recht auf Nahrung. Beide Rechte sind stark von den Freihandelsabkommen und ihrer Intensivierung betroffen. Die Ausweitung der Lachszucht im Zentrum und Süden des Landes, der Ausbau von Minienergiekraftwerken oder von „exotischen“ Anbaupflanzen für den Export, all das hat gravierende Probleme verursacht und bis jetzt ist noch unklar, ob dies verbindlich im Schlusstext festgehalten wird oder nicht.
Chile hat aus den Freihandelsabkommen eine Glaubensangelegenheit gemacht. Die Öffentlichkeit weiß überhaupt nicht, was unterzeichnet wird und aus welchen Gründen. Das Parlament, das dazu gezwungen ist, gegen die Zeit abzustimmen, weiß genauso wenig. Die Verhandlungen über die Freihandelspolitik sind wesentliche politische Entscheidungen für das Land, zu denen der Wählerwille jedoch nichts zu sagen hat. Bei diesem speziellen Abkommen scheint es sich zudem um eine Verhandlung unter ungleichen Bedingungen zu handeln. Den chilenischen Investitionen werden nur sehr kleine Türen geöffnet im Vergleich zu dem, was dem Gegenüber gewährt wird. Chile ist außerdem eines der Länder mit der größten Ungleichheit in der Bevölkerung, von der nur ein sehr kleiner Teil von der Exportdynamik profitiert.
Des Weiteren reicht es nicht aus anzukündigen, dass es Kapitel zum Geschlechterverhältnis geben wird, wenn sie nicht bindend sein werden, oder dass Rechte respektiert werden, wenn die Messlatte nicht ohne Wenn und Aber an die bereits existierenden internationalen Konventionen angelegt wird.
Wer für die Aktualisierung ist, muss begreifen, dass die Umstände andere sind als beim Abschluss des ersten Abkommens. Es gibt immer mehr Sektoren in der chilenischen Gesellschaft, die über internationale Kontakte verfügen und heute nicht mehr dazu bereit sind, dass solch eine Politik weiter betrieben wird. Insofern ist die „Durchführbarkeit“ solcher Abkommen auch immer mehr gefährdet.