Die Nachricht erreichte mich am 12. Dezember per Email aus Kolumbien: „Bartek hat eine Kugel im Kopf. Es geht ihm sehr schlecht, heißt es.“ Eine äußerst besorgte Freundin in Bogotá wollte mehr wissen. Nein, sie wollte erfahren, dass das Gerücht nicht wahr war. Wie wir alle.
Ich war in Straßburg. Fast nebenan. Am Vorabend war ein Attentäter schießend durch die Innenstadt der elsässischen Metropole gerannt. Den Weihnachtsmarkt, wie es in den Medien verbreitet wurde, betrat er dabei gar nicht, der war zu diesem Zeitpunkt bereits geschlossen. Als die Email aus Bogotá kam, wusste man von zwei Toten und mehr als zehn Verletzten. Der Schütze, Chérif Chekatt, war zu dem Zeitpunkt noch flüchtig.
Bartek, laut Pass Bartosz Piotr Orent-Niedzielski, 1982 in Polen geboren, seit Jahrzehnten in Straßburg zu Hause, war mit einem italienischen Freund, Antonio Megalizzi, auf dem Weg zu einem offenen Musikabend in einem Kulturcafé, als der Täter auftauchte. Beide waren Radiojournalisten, die regelmäßig über die Plenarwochen des Europaparlaments berichteten. Antonio übernachtete dann meistens bei Bartek, so auch diesmal. Es kursieren mehrere Versionen, wie es kam, dass Chekatt auf die beiden schoss. Gemeinsam ist allen Versionen die Überzeugung, dass Bartek nicht weglief, sondern versuchte, Schlimmeres zu verhindern. Wahrscheinlich war es so.
Über Jahre tauchten Bartek und seine Freund*innen aus der freien Radioszene jeden Montag der Straßburger Plenarwoche irgendwann bei unserem gemeinsamen Abendessen auf. Wir überlegten, welche Themen der Plenaragenda sich für die monatliche Radiosendung „Wunderparlement“, von Radio Campus, Radio MNE und Europhonica gemeinsam bestritten, eigneten, welche Abgeordnete für Interviews angefragt werden könnten. Und wir lachten. Bartek war immer gut gelaunt, hatte Ideen, war Mittelpunkt.
So wie er im Mittelpunkt der Straßburger alternativen Szene stand, beim Kulturzentrum „Mimir“ in einem ehemals besetzten städtischen Gebäude, bei der Fahrradwerkstatt „Bretz‘selle“ für Selbstreparateure, beim Chor „Arrach‘Choeur“, bei der polnischen Volkstanzgruppe „Wiosna“. Er war Mitinitiator der „StrasBulles“, eines jährlichen Comicfestivals in seiner zweiten Heimatstadt. Bartek hatte Sinn für Sprachspiele, wie für Sprachen überhaupt. An der Straßburger Uni belegte er einen Ungarischkurs, er gab Unterricht in Jiddisch, sprach neben Französisch und Polnisch noch Englisch, Russisch und Spanisch. Vielleicht auch noch weitere Sprachen. Er arbeitete als Touristenführer, Parlamentsführer, Barmann, engagierte sich für Palästina, sammelte Bücher für Nicaragua.
Von Lateinamerika war er fasziniert. Im Februar wollte er nach Kolumbien fahren. Statt dessen standen nach dem Attentat kolumbianische Freund*innen an seinem Krankenbett, ebenso italienische, belgische, polnische… Das Straßburger Hospital Hautepierre hob die üblichen Besuchszeitensperren auf, um dem Andrang gerecht zu werden. Ein Andalusier sang einen Flamenco, um ihn im Koma zu erreichen, andere trugen Gedichte vor, erzählten Geschichten und gemeinsame Erinnerungen. Barteks Mutter Dorota wurde in der Zeit so etwas wie eine Mutter für alle.
Als die polnische Regierung von dem Angriff auf Bartek hörte, erhob sie ihn zum Helden, stellte eine Lebensrente für die Eltern in Aussicht. Das brachte polnische Nationalisten auf den Plan. Bartek sei ein schwuler Eurolinker, der LGBTI, Araber und Toleranz verteidige und sich für diesen ganzen europäischen Kram einsetze.
Was als Beleidigung gemeint und in Teilen der polnischen Bevölkerung auch so aufgenommen wurde, trifft es genau. Bartek war europhiler Weltbürger, voller Widersprüche, offen und diskret, voller Energie und gelassen, humorvoll und ernsthaft, Chaot und Clown, zutiefst antirassistisch. „Er war das genaue Gegenteil dessen, der ihn umbrachte“, schrieb „Le Parisien“ am 17. Dezember über ihn. Einer von vielen Artikeln, nicht nur in der französischen Presse.
Antonio starb am Freitag nach dem Attentat, Barteks Herz setzte am Sonntag aus. Die beiden waren das vierte und fünfte Opfer des Straßburger Amoklaufes.
Stelios Kougoglou, griechischer Filmemacher und Europaabgeordneter für Syriza, sandte ein Youtube von Mikis Theodorakis‘ Lied „Die Faschisten haben das Kind mit dem Lächeln auf dem Gesicht getötet“ über den WhatsApp-Chat, mit dem seit der Email aus Kolumbien Freund*innen Barteks ununterbrochen Nachrichten über Barteks Zustand, Gedichte, Artikel, Fotos austauschten. „Straßburg ohne Bartek ist wie Straßburg ohne das Münster“, sagte er in der Radiosondersendung, die Barteks Kolleg*innen in Erinnerung an ihn in der Januarplenarwoche an gewohnter Stelle im Europaparlament schalteten, oft mit gebrochener Stimme (www.facebook.com/mneradio/videos/362912221158890/?notif_id=1547650856200888¬if_t=live_video_invite). Zu Anfang die Einblendung einer Ankündigung des amtierenden Parlamentspräsidenten Tajani: Zwei Radiosäle im Parlament werden nach Bartek und Antonio benannt werden. Auch Stipendien sollen ihren Namen tragen.
In Straßburg soll es eine Erinnerungsstätte an die Opfer geben. Barteks Mutter sprach zum Schluss über den Traum ihres Sohnes, den sie teilt und den nun sie in die Tat umsetzen will: die Gründung eines Initiativenhauses, das Sprachenherberge, alternativer Veranstaltungsort und Begegnungsort für Migrant*innen sein soll, mit Restauration und Garten für gesundes Gemüse.
On ne lâche pas (Wir lassen nicht locker), es werde ein „Maison Bartek“ geben, kommentierten Radiokolleg*innen von Radio Campus und Radio MNE in einer wunderbaren „Wunder-parlement“–Sendung.