Hasta siempre, Comandante?

Die Wände der Kiezkapelle Neukölln sind von politisch inspirierten Malereien geschmückt. Eine Steinbahre in der Mitte des Raumes ist in die blau-weißen Nationalfarben gehüllt und mit Blumen und Kerzen geschmückt. Sie erinnern an die Opfer der Misere, von der dieses „kleine Wunderland, wo das Blei schwimmt und der Korken sinkt“, so der Volksmund, heimgesucht wird. Vor dem Altar hängt ein Banner. „Für ein freies Nicaragua. Ohne Ortega und ohne Murillo“, steht da. Der Wunsch, das präsidiale Ehepaar aus dem Amt scheiden zu sehen, eint die zahlreichen Nicaraguaner*innen in der Diaspora sowie solidarische und interessierte Besucher*innen.

Indessen hat das autoritäre Regime in Managua den 19. April zynisch zum „Nationalen Tag des Friedens“ deklariert. Am 18. April 2018 begannen die größten Aufstände seit der 45-jährigen Familiendiktatur der Somozas. Den Auslöser für das Aufbegehren lieferte eine umstrittene Rentenreform, gepaart mit weitläufigen Bränden im Naturschutzgebiet Indio Maíz, denen die dem Raubbau zugeneigte Regierung tatenlos zusah, wenn sie denn nicht selbst zündelte (für eine ausführliche Analyse der Genese der Proteste siehe Artikel von Simón Terz in der ila 417). Als die Regenten mit brutaler Repression reagierten, errichteten Protestierende landesweit Barrikaden und blockierten Haupttransportwege. Massive Protestmärsche blockierten die Straßen, besetzte Universitäten wurden zu Bastionen des Widerstands. Das demaskierte Herrscher*innenpaar verlor zusehends Rückhalt in der Bevölkerung; es keimte Hoffnung auf dessen nahenden Fall auf.

Gegenwärtig gestaltet sich die Szenerie düster. Die Repressionswelle hinterließ einen Saldo von über 350 Toten und unzähligen Verletzten. Hunderttausende sahen sich zur Flucht genötigt. Die Gewaltenteilung ist systematisch demontiert und ein Polizeistaat aufgebaut. Es gibt weder unabhängige Parteien noch freie Urnengänge, alle relevanten Nichtregierungsorganisationen wurden geschlossen. Bildungseinrichtungen befinden sich unter strikter Kontrolle. Nicaragua ist heute das einzige Land auf dem amerikanischen Kontinent, in dem es keine gedruckte Zeitung gibt. Amnesty International und der UN-Menschenrechtsrat beklagen kontinuierliche und systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der fast symptomatisch an Lupus (das Tageslicht muss gemieden werden) erkrankte Altrevolutionär Ortega ist im Begriff, ein dynastisches und totalitäres System zu verfestigen. Seine Kinder bekleiden wichtige Ämter und führen parteitreue Medienunternehmen. Unlängst verlautbarte er eine Verfassungsänderung, die die schier allmächtige Vizepräsidentin Murillo zur „Co-Präsidentin“ erheben soll.

Letztere war es auch, auf deren Geheiß im vergangenen Februar – in einem in der modernen Geschichte des Völkerrechts seinesgleichen suchenden Akt – 222 oppositionelle Gefangene in die USA abgeschoben und ausgebürgert wurden. Unter den Gewissensgefangenen[fn]Alle Menschen, die aufgrund von Kategorien wie Herkunft, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Religion oder Überzeugung inhaftiert und verfolgt werden und, laut Amnesty International, weder selbst Gewalt angewendet noch befürwortet haben. Die Widerstände gegen Somoza und gegen Ortega-Murillo unterscheiden sich darin, dass ersterer ein bewaffneter Kampf war. Er forderte zwischen 10 000 und 35 000 Menschenleben. Hinzu kommen mindestens 50 000 weitere Tote infolge des unter US-amerikanischer Ägide geführten Guerillakrieges der „Contras“ gegen die sandinistische Regierung (1981-1990).[/fn] befanden sich sämtliche Kandidat*innen, die vor der unfreien Wahl 2021 inhaftiert wurden. Kaum eine Woche später erhielten 94 weitere des „Landesverrats“ bezichtigte Dissident*innen einen Ausbürgerungsbescheid. Damit wurden den nunmehr Staatenlosen ihre Bürgerrechte aberkannt und die Ausübung öffentlicher Ämter auf Lebenszeit untersagt. Ihre Daten, darunter die Geburtsurkunden, sind getilgt. Ihr Besitz wurde konfisziert und Krankenversorgung sowie Rentenansprüche bleiben versagt.

Nur zwei von ihnen weilen noch im Land: Am regimekritischen und im Schnellverfahren zu 26 Jahren Haft verurteilten Bischof von Matagalpa, Rolando Álvarez, wird ein Exempel statuiert. Er weigerte sich, zwangsexiliert zu werden. Neben ihm ist es die Menschenrechtsanwältin und Präsidentin des mittlerweile verbotenen Menschenrechtszentrums CENIDH, Vilma Nuñez. Die 84-Jährige wurde unter Somoza verfolgt, gefoltert und war 1979 eine Protagonistin der Revolution. Diese Eskalation der Ächtung und Verfolgung verdeutlicht einmal mehr, dass der nicaraguanische Rechtsstaat zur Farce verkommen ist, ein dürrer Deckmantel für ein machttrunkenes und skrupelloses politisches Programm.

In der Neuköllner Kapelle wird es ruhig. Auf Vorträge und künstlerische Darbietungen folgen Videobotschaften der jüngst Verbannten. Sie geben sich kämpferisch, appellieren zur Einheit im Kampf gegen die Diktatur und mahnen, dass es keine Straflosigkeit geben dürfe, denn dadurch entstünden immer neue Diktaturen, während alte Wunden unverheilt klafften. Sie wünschen sich funktionierende Strukturen und korruptionsfreie Institutionen statt schillernde Führerfiguren. In einem Nicaragua nach Ortega-Murillo gelte es, auch mit vermeintlichen Sandinist*innen zusammenzuarbeiten und gesellschaftliche Spaltungen zu kitten. Wiederholt erinnern sie daran, dass Vergehen gegen die Menschlichkeit uns alle angehen, und fordern die internationale Gemeinschaft zur Solidarität auf.

Das Durchschnittsalter der Nicaraguaner*innen beträgt rund 27 Jahre. Ebenso viele ist Ortega nun insgesamt an der Macht, so lange wie kein Präsident vor ihm. Zweifelsfrei wird sich Nicaragua nur ohne diesen bloß noch nominell linken Retrorevolutionär neu erfinden können. Dabei gilt es, einer erneuten Pendelbewegung zwischen Revolution und Autoritarismus zu entrinnen. Ein Blick auf die junge Geschichte zeigt, dass auch die einstigen Revolutionär*innen keine Erleuchteten waren und eine postkoloniale, patriarchale und rassistische Gesellschaftsstruktur keinen „Neuen Menschen“ gebiert. Erst nach dem Sturz des amtierenden Tyrannen beginnt die eigentliche Arbeit.

Die Vermächtnisse der Rebellion von 2018 bergen wegweisende Lektionen für die Mühen der Ebene. Eine neue Generation betrat das Spielfeld und mit ihr gewannen zuvor isolierte und unterrepräsentierte Kämpfe für Feminismus, Ökologie und Menschenrechte an Kraft. Auch bildet sich langsam ein verstärktes Bewusstsein für die Forderungen der indigenen und afrokaribischen Gemeinschaften und den Binnenkolonialismus in den Autonomen Regionen.[fn]Obwohl der offizielle Regierungsdiskurs die Autonomie befürwortet, wird realpolitisch ein stark zentralistischer Kurs verfolgt. Der untergräbt die regionale Autonomie zugunsten eines neoextraktivistischen Akkumulationsmodells. Die Rechte indigener und afrikanischstämmiger Einwohner*innen werden dabei einer vom Staat, den wirtschaftlichen Eliten des Landes und den Interessen des globalen Kapitals definierten Vision von Entwicklung untergeordnet. Besonders konfliktreich ist die zunehmende staatlich gestützte Siedlungspolitik in den Territorien. Durch das Eindringen „einfacher“ Bäuer*innen, der sogenannten „colonos“, in die Naturreservate werden deren Bewohner*innen verjagt und kommunaler Landbesitz aufgehoben und Wälder weichen zusehends der Monokultur. Die Mosquitia (der Name verkörpert eine antikoloniale Sprache, die sich aufoktroyierten Bezeichnungen widersetzen soll) wird von Raubbau an natürlichen Ressourcen durch Abholzung, Bergbau und Megainfrastrukturprojekte sowie einer aus Managua gesteuerten Politik der Korruption, Vetternwirtschaft und Kooptation autonomer politischer Institutionen geplagt.[/fn] All das wird umso unentbehrlicher sein, wenn die lange Nacht des Orteguismus nicht mehr über uns wacht.