Die Nachricht kam per E-Mail aus Buenos Aires. Pieter sei am Morgen des 1. Mai in Berlin gestorben, schrieb uns seine Tochter Cristina aus der argentinischen Hauptstadt.
Pieter wurde 1914 in eine der gelehrtesten Familien der Linken der Weimarer Republik geboren. Sein Vater August und dessen Schwester Anna waren wichtige Köpfe der linken Reformpädagogik. Beide saßen für die SPD im Reichstag, verließen die Partei aber 1931 und gehörten zu den MitbegründerInnen der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) ebenso wie ihr Bruder Hans, ein Schriftsteller und Mitarbeiter von Ossietzkys Weltbühne. Pieters sozialistische Überzeugung, ein unbändiges Gerechtigkeitsgefühl und der Antifaschismus waren ihm gleichsam in die Wiege gelegt. Aber die Familientradition war auch eine Hypothek. Die Siemsens entstammten einem niedersächsischen, protestantischen Pfarrershaushalt, waren disziplinierte, zielstrebige Persönlichkeiten. Auf Pieter lasteten von Kindheit an große Erwartungen.
Anna, August und Hans Siemsen mussten Deutschland sofort nach der Machtübernahme durch die Nazis verlassen. Sie waren akut gefährdet. Auch Pieter, der in sozialistischen Jugendorganisationen aktiv war, floh in die Schweiz. Doch da wurde er 1934 wegen „Belastung des Schweizer Arbeitsmarktes“ ausgewiesen und nach Nazideutschland abgeschoben. Er wurde zwar nicht verhaftet, aber zur Bewährung zum Arbeitsdienst eingezogen und musste danach seinen Wehrdienst leisten. 1937 gelang es ihm, ein Visum für Argentinien zu bekommen, und er konnte endlich weg aus Deutschland.
In Buenos Aires wurde er Schriftsetzer. Er engagierte sich bei „Das Andere Deutschland“ der Zeitschrift und Organisation, die sein Vater aufgebaut hatte und leitete, redigierte dort die Jugendbeilage „Heute und Morgen“, war in der Sozialistischen Partei Argentiniens und der Gewerkschaft der Drucker aktiv. Besonders gern dachte er an die Truppe 38 zurück, eine Theatergruppe von jungen EmigrantInnen, die politisches Kabarett gegen den Faschismus machte. Pieter schrieb die meisten ihrer Texte.
Er kannte unendlich viele Leute, die für uns historische Gestalten sind. Mit Max Hodann, der Hauptperson in Peter Weiss’ „Ästhetik desWiderstands“, wanderte er als Kind durch den Thüringer Wald; Tamara Bunke, die legendäre Tania la Guerillera und letzte Compañera des Che, kannte er von klein an. Natürlich wurde er – auch von mir – immer wieder nach den Leuten gefragt, die seinen Lebensweg kreuzten. Er erzählte dann einiges, aber die Bilder blieben blass, er konnte andere Menschen nicht sehr gut beschreiben. Es gab eine Ausnahme – den Maler und Grafiker Carl Meffert/Clément Moreau, wie Pieter in der Truppe 38 aktiv. Wenn er von ihm, von Yupp erzählte, konnte er gar nicht mehr aufhören. Meffert hatte Fürsorgeheim und Jugendknast erlebt, war bis ins hohe Alter drogenabhängig, lebte oft am Rande des Abgrunds, war aber gleichzeitig ein großer Künstler, einer der wichtigsten politischen Grafiker des 20. Jahrhunderts und wurde wegen seiner offenen, sympathischen Art von allen geliebt, selbst von denen, die er mal übers Ohr gehauen hatte, weil er Geld für Stoff brauchte.
Jemand, der sein Leben nicht immer im Griff hatte, aber doch Großes leistete und geliebt wurde – eine solche Person faszinierte Pieter außerordentlich. Auch er lebte oft am Rande des Abgrunds und ist manchmal gescheitert. Seine Ehe ging in Argentinien in die Brüche, danach wollte er dort weg, um in der DDR am Aufbau des Sozialismus mitzuwirken. Dort wollten sie ihn aber nicht haben. Erst als er eine DDR-Bürgerin heiratete, konnte er 1952 nach Ost-Berlin ziehen. In der DDR eckte er immer wieder an, meist gar nicht wegen großer politischer Widersprüche, sondern weil er ein ausgesprochener Individualist war, dem es äußerst schwer fiel, bürokratische Normen und Hierarchien zu akzeptieren – und die gab es in der DDR reichlich.
Im Grunde genommen hat er sich in Deutschland nie wirklich heimisch gefühlt – eine Erfahrung, die er mit vielen EmigrantInnen teilte, die nach der Niederschlagung des Faschismus zurückgekehrt waren. Ob es sich dabei um die DDR oder die BRD handelte, war unerheblich. Die Deutschen verlangten Einordnung und Anpassung, gerade von jemand, der weg gewesen war. Dabei war Pieter lange Zeit ein glühender Verteidiger der DDR, meinte, wer für ein großes Ziel arbeite, dürfe sich nicht von kleinen Unzulänglichkeiten abschrecken lassen. Überhaupt war Pieters Marxismus für ihn mehr eine Glaubenssache denn ein Instrument der Gesellschaftsanalyse. Darüber haben wir oft hitzig diskutiert.
In Berlin hat Pieter vor allem als Übersetzer gearbeitet. Als Dolmetscher von Handelsdelegationen oder der DDR-Olympiamannschaft 1968 kam er sogar einige Male beruflich nach Lateinamerika. Er liebte Lateinamerika, vor allem Argentinien. Es sei die große Tragik seines Lebens, dort nur 15 Jahre verbracht zu haben, sagte er immer.
Mit Pieter Siemsen starb der letzte aktive Mitarbeiter von „Das Andere Deutschland“, jener Gruppe von SozialistInnen unterschiedlicher Richtungen, die sich in Argentinien und vielen anderen Ländern Lateinamerikas organisiert hatten, um aus dem Exil gegen den Faschismus und für ein anderes demokratisches und sozialistisches Deutschland zu kämpfen. Damit ist ein Stück Geschichte der Linken und des Antifaschismus unwiderruflich zu Ende.
Und ich habe einen Freund verloren. Am 17. Juni wäre er 90 Jahre alt geworden. An dem Tag wollte ich nach Berlin fahren, um mit ihm, seiner Compañera Lilly, seiner Familie und seinen FreundInnen Geburtstag zu feiern. Nun wird an diesem Tag seine Trauerfeier stattfinden.
Ein Lebenswege-Interview mit Pieter Siemsen findet sich in der ila 150 vom November 1991.