(Heiligen)Dammbrüche

Die geilen „Nachrichten“ von den aus Wasserpistolen Säure verspritzenden Clowns, die Nicht-Nachrichten von mit hundertmal höherem Druck und Reizgas gesättigtem Wasser verspritzenden Kampfmaschinen der Polizei – in den Tagen an der Ostsee von friedensbewegten RentnerInnen und militanten jungen Leuten gleichermaßen Bullen gescholten – sind den fast ungläubigen Nachrichten von den Tornadoflügen über dem Camp Reddelich gewichen. Bilanzen werden gezogen. Nach so viel Anstrengung auf allen Seiten fallen sie naturgemäß positiv aus – so zeitnah positiv, dass Fragen nach Schäubles Bilanz erst an zweiter Stelle kommen.

Würde ich auf zwei, drei Seiten alle meine Erfahrungen, Beobachtungen und Anekdoten und ebensolche von anderen, die eine Woche lang nicht in Heiligendamm, aber um Heiligendamm und um Heiligendamm herum zu Gange waren, auflisten, überwögen die negativen, die hässlichen Geschichten, Bilder, Gerüche und Töne. Vom Bullen-Überfall auf einen Fahrrad-Konvoi, über die Pranke eines Robocop mitten im Gesicht eines jungen Clowns und den Reizgasgestank der Brühe aus den Wasserkanonen bis zum Welcome-to-Afghanistan-Lärm der ewig kreisenden Beobachtungshubschrauber und niedrig einfliegenden Mannschaftstransporter. Meine Gesamtbilanz ist dennoch positiv: nicht nur der Protest, sondern auch der Widerstand gegen diesen G8, der wie selten einer zuvor die Arroganz der Macht zelebriert hat, waren massiv, gut organisiert und voll von jener Kreativität, die in ihrem Kontrast zur „kreativen“ Manipulation der Medienöffentlichkeit eine Idee vermittelt, nicht von einer möglichen irgendwie anderen Welt, sondern von der möglichen Welt der Reziprozität und des genre humain in der Differenz. 

Bevor ich ins a posteriori Schwärmen über einen kleinen, manchmal ungelenken Schritt in die richtige Richtung komme: Heiligendamm ist auch ein Lehrstück über Dammbrüche in Zeiten des gesellschaftlichen Klimawandels, wie wir sie weiter erleben werden. Über den großen Dammbruch schreibt der Stuttgarter Anstifter Peter Grohmann: „Inzwischen weiß die Öffentlichkeit, dass da rund um den Gegengipfel nicht nur Provokateure mit und ohne Uniform, mit und ohne Masken waren, sondern auch staatlich geschulte Molotow-Cocktail-Bastler und rechtsradikale Seilschaften. Sind wir uns einig, dass ein paar Dutzend Grundrechte auf breiter Front ausgehebelt wurden? Und auch in der Einschätzung, dass die Mehrheit unserer Landleute dies alles nebst Käfighaltung von Festgenommenen ganz OK findet?“

Der kleine Dammbruch ist am Samstag, den 2. Juni geschehen und hat unverkennbar ziemlich große Folgen. Er hat wie der große Dammbruch seine Vorgeschichte. Zu der gehört der institutionalisierte vorauseilende Gehorsam, der sich nach Göteborg und Genua „eingebürgert“ hat, indem aus „antikapitalistisch“ „kapitalismuskritisch“ – aber bitte konstruktiv – gemacht wurde. Daran hat sich die Öffentlichkeit, gezwungen von der Medienöffentlichkeit, soweit gewöhnt, dass im Vorfeld des Gipfels konstatiert werden konnte: Der globalisierungskritische Protest ist so breit wie nie zuvor. Das war der Fall bei den Reaktionen auf Schäubles Destabilisierungsattacken im Vorfeld, und plötzlich weg, als es am 2.Juni knallte. Da gab es den eilig herbei eilenden Gehorsam. Kaum hatten Vertreter der Demoleitung Bestes getan, um eine Panik im Gefolge des fast vollzogenen Bullendurchmarsches am Rostocker Stadthafen zu verhindern, setzte von höherer Stelle des attac-Koordinationskreises ein Distanzierungsritual ein. Das war zwar so alt wie die Drohung der Bourgeoisie an die Sozialdemokrate, man gedenke, sie aus der Gemeinschaft der Demokraten auszuschließen, wenn sie weiter nicht nur falsch denke, sondern auch noch frech rede, aber in seiner Heftigkeit dennoch überraschend – als ob einem Kinde sein Lieblingsspielzeug, die noch nie erreichte Breite des globalisierungskritischen Bündnisses, kaputt gemacht worden wäre. 

Es fällt mir nicht schwer, mir den ungeheuren Druck vorzustellen, der sich am Spätnachmittag des 2. Juni in der Windeseile moderner Medien gegen die sichtbaren Köpfe der Anti-G8-Bewegung aufbaute. Oder einfacher gesagt: ich hätte nicht in ihrer Haut stecken wollen. Dennoch verstehe ich zwei Dinge nicht: Erstens, wie kann man bei der Abschlusskundgebung am 8. Juni ein ums andere Mal versichern, dass die Ereignisse des 2. Juni sorgfältig aufgearbeitet werden, wenn man sechs Tage zuvor, unmittelbar nach den fraglichen Ereignissen, ohne viel Aufarbeitung und wie aus der Pistole geschossen, Schuldzuweisungen machte? Zweitens, wie können die sichtbaren Köpfe des breiten globalisierungskritischen Bündnisses, die wissen mussten, wie fragil dieses Bündnis ist, vergessen, sich auf den Fall der Fälle vorzubereiten? Im Prinzip muss man sich ja nicht gegenüber jedem Medium äußern, es gibt noch die Formel „Dazu kann ich im Augenblick noch nichts sagen“ und man kann, wenn es um die Reihenfolge der Gewalttätigkeiten geht, auch noch ein historisches Gedächtnis bewahren.

Um schließlich auf die Bilanz des Herrn Schäuble zurückzukommen: Ohne der gründlichen Aufarbeitung vorgreifen zu wollen, halte ich es für gesichert, dass die Ereignisse des 2. Juni dem Bundesinnenminister aus mindestens vier Gründen sehr gelegen kamen. Erstens erschienen in der Medienöffentlichkeit die Verletzung von „ein paar Dutzend Grundrechten“ im Vorfeld des Gipfels und der ungeheure Aufwand zum Schutze des läppischen Politikertreffens als gerechtfertigt. Zweitens wurde das ausstehende Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den für den 7. Juni geplanten Sternmärschen zum Heiligendammer Zaun womöglich im Sinne des Bundesinnenministeriums beeinflusst. Drittens wurde das öffentliche Bild von den zuletzt nicht mehr ausreichend stigmatisierten GlobalisierungsgegnerInnen medienöffentlich besetzt, Interpretationshoheit (wieder) erobert und kulturelle Hegemonie (wieder) hergestellt. Viertens wurde das mühsam erreichte Bündnis gegen den G8 in Heiligendamm zunächst einmal an seinen Sollbruchstellen geknackt. Zur positiven Bilanz gehört die begründete Hoffnung, dass das ein vorübergehender Rückschlag war.