„Die Schwachen kämpfen nicht. Die Stärkeren kämpfen vielleicht eine Stunde lang. Die noch stärker sind, kämpfen viele Jahre. Aber die Stärksten kämpfen ihr Leben lang. Diese sind unentbehrlich.“
Bertolt Brecht
Wenn Ernst und seine Lebensgefährtin Eva Weil einmal im Jahr bei ihrer Europa-Reise zur ila-Redaktionssitzung kommen, ist es so, als seien sie immer bei den Treffen dabei und wir würden die Diskussion vom vorangegangenen Dienstag fortsetzen. Sie erzählen dann von den politischen Kämpfen in Uruguay, in denen sie gerade drinstecken. Sehr sachlich, aber gleichzeitig voll engagiert, berichtet Ernst dann, warum und wie sie für ein Referendum gegen die Teilprivatisierung der Telefongesellschaft mobilisieren oder den Kampf der ArbeiterInnen einer Glasfabrik unterstützen, die nach der Schließung des Unternehmens den Betrieb besetzt halten. Und dann fragt er, was wir gerade machen, was wir zu diesem oder jenem Thema denken, ob man z. B. die Grünen völlig abschreiben könne, oder ob es innerhalb der Partei noch kritische Leute gäbe, ob wir in der PDS eine linke Alternative sähen und was wir täten, um endlich wieder eine breitere politische Bewegung in diesem Land auf die Beine zu stellen.
Ernst sagt öfter, die deutsche Linke agiere zu sektiererisch und sei dabei ängstlich bemüht, ihren jeweiligen ideologischen Vorgarten sauber zu halten, anstatt überflüssige Spaltungen zu überwinden. Er selbst kämpfte in Uruguay schon für ein breites Linksbündnis, als es die Frente Amplio (Breite Front – 1971 gegründete Allianz linker Parteien und Organisationen, heute stärkste politische Kraft in Uruguay) noch nicht gab.
Obwohl Ernst sehr realistisch ist, keineswegs zu Euphorie neigt oder sich irgendwelchen Illusionen hingibt, besteht er immer darauf, dass politische Veränderung möglich ist. Defätismus ist seine Sache nicht. Vieles gehe nur sehr langsam und natürlich gäbe es auch herbe Rückschläge. Kritisch sieht er unser Verhältnis zur politischen Macht, in deren Erringung wir keine Perspektive sehen. Obwohl er selbst in siebzig Jahren politischen Engagements nie Ämter und Führungspositionen angestrebt oder übernommen hat, kämpft er mit all seiner Kraft dafür, dass die Frente Amplio in Uruguay an die Regierungsmacht kommt. Nur so könnten doch endlich überfällige Reformen im Interesse der Bevölkerungsmehrheit eingeleitet werden. Nur so könnte sich den Jugendlichen, die heute nur daran dächten, wie und wohin sie auswandern könnten, eine Perspektive in ihrem Land auftun. Was eine fortschrittliche Regierung in einem Land wie Uruguay denn ausrichten könne, fragen wir dann nach, die Leute hätten große Erwartungen, aber die wirtschaftspolitischen Entscheidungen, von denen es abhinge, was und wieviel es in Uruguay zu verteilen gibt, fielen anderswo, in Buenos Aires, mehr noch in Brasilia, vor allem aber in Washington, Brüssel oder New York. Dann packt Ernst seine kleinen Spickzettel aus, auf der er sich immer seine Notizen macht, und rechnet vor, wie die Einkommensverteilung in Uruguay ist und um wie viel besser es den ärmeren Bevölkerungsschichten gehen könnte, würde eine sozial gerechte Steuerreform – die keineswegs revolutionär wäre – angepackt. Auch gäbe es durchaus Mittel, um Arbeit zu schaffen, nicht durch verstärkte Weltmarktintegration, sondern durch die Förderung des Binnenmarktes. Auf unsere skeptischen Verweise, auf die Begrenztheit des Binnenmarktes in einem Land mit knapp drei Millionen EinwohnerInnen, rechnet er vor, dass es doch genau dieser Binnenmarkt sei, auf dem noch heute 90 Prozent der Uruguayos/as ihr Auskommen fänden.
Die Sache mit den Flaschen
Dann erzählt er von der einzigen Glasfabrik Uruguays, die die Wasser- und Bierflaschen für das gesamte Land produziert hatte. Alles ökologisch einwandfreie Mehrwegflaschen. Was sei geschehen? Die EU hätte gesagt, die Fabrik sei nicht produktiv, die Stückzahlen seien viel zu niedrig und die Flaschen zu teuer. Mit EU-Geldern sei eine Produktionsanlage errichtet, d.h. in Europa gekauft worden, wo eine Handvoll Arbeiter nun Plastikflaschen produzierten. Das sei angeblich produktiver. In Uruguay hätte freilich niemand etwas davon, die Plastikflaschen seien letztlich teurer, weil sie viel seltener bzw. nur einmal benutzt würden, ökologisch sei es eine Schweinerei und das Glasflaschenmehrwegsystem habe in Produktion, Einsammeln, Reinigen der Flaschen gegenüber der Plastikflaschenanlage ein Vielfaches an Leute beschäftigt, und die Bezahlung sei in der Plastikflaschenfabrik auch nicht besonders gut. Die Arbeiter der Glasfabrik hielten die stillgelegte Produktionsanlage besetzt und instand, damit sie wieder loslegen können, wenn es das dafür notwendige Geld gibt. Für sie hat sich Ernst bei seinem letzten Besuch in Deutschland über die Produktivität und die Kosten entsprechender Betriebe hier informiert und hat ihnen Unterlagen mitgebracht, die belegen, dass Montevideos Flaschenfabrik keineswegs unproduktiv und zu teuer war. Aber ein europäisches Unternehmen wollte eine Plastikflaschenproduktionsanlage vertickern, die EU fördert ihre Unternehmen und in Uruguay hat eine Finanzgruppe eine Investition getätigt, die entsprechende Rendite garantiert. Das bedeutet Globalisierung konkret, eine Handvoll GewinnerInnen und einige Tausend VerliererInnen, ökologische Kosten nicht eingerechnet.
Wenn Ernst solche Beispiele erzählt – immer fundiert und gut recherchiert – wird greifbar, was kapitalistische Globalisierung heißt. Es ist keine abstrakte Kategorie, es sind die Flaschen von Montevideo. Politische Arbeit heißt für ihn mit den Leuten kommunizieren, sie aufzuklären darüber, was sich für sie hinter blumigen Vokabeln wie Globalisierung, Modernisierung, Flexibilisierung verbirgt, welche Interessen hinter bestimmten Projekten und Entscheidungen stehen. Links sein heißt dabei für ihn, stets die Frage zu stellen, was die Leute – damit meint er die ArbeiterInnen, Arbeitslosen, StraßenhändlerInnen, kleinen Angestellten, MüllsammlerInnen und TagelöhnerInnen – von bestimmten Maßnahmen haben, ob sie ihnen nutzen oder schaden. Das klingt sehr pragmatisch, aber Ernst ist sehr wohl ein marxistisch geschulter Analytiker, aber er diskutiert keine abstrakten Kategorien, sondern sieht immer die Leute, um die es geht.
Die Stadtteilzeitung und eine Plakatwand
In ihrem Barrio, wo ArbeiterInnen und Leute aus der unteren Mittelschicht leben, kennt jedeR die „Alemanes“. Bei Eva, die als Kind mit ihren jüdischen Eltern nach Montevideo kam, hört man ihre europäische Herkunft nicht heraus, Ernst, der als 21-Jähriger kam, hat seinen deutschen Akzent nie ganz abgelegt. Die beiden engagieren sich im Nachbarschaftskomitee, verhandeln mit den Leuten der linken Stadtverwaltung darüber, dass die Straße endlich repariert wird, packen mit an, wenn ein regensicheres Wartehäuschen an der Bushaltestelle gebaut wird. Eva hat mit städtischer und ein bisschen europäischer Unterstützung eine Kindertagesstätte ins Leben gerufen, Ernst macht die Stadtteilzeitung der Frente Amplio. Natürlich kennt jedeR im Viertel ihre politische Einstellung. Wenn in Vorwahlen die KandidatInnen für die Frente Amplio gewählt werden, dient das Wohnzimmer von Eva und Ernst auch schon mal als Wahllokal.
Und dann gibt es auch noch die Plakatwand. An seiner Straße hat Ernst ein Holzgestell gezimmert und gestaltet jeden Monat ein neues Plakat – etwa 1,20 Meter hoch und 80 Zentimeter breit. Meistens geht es um wirtschaftliche Fragen, die Folgen von Neoliberalismus und Globalisierung für die Leute des Barrios nachvollziehbar gemacht. Manchmal geht es auch um politische oder soziale Mobilisierungen, für ein Referendum, für die Aufklärung des Schicksals der während der Diktatur Verschwundenen, die nächsten Wahlen oder den internationalen Frauentag. Im Gartenhäuschen lagern die alten Plakate. Bei meinem letzten Besuch fragte ich Ernst, ob ich sie fotografieren dürfe, ein paar davon sind auf diesen Seiten abgebildet.
Ein Leben auf der Linken
Seit seinem 15. Lebensjahr ist Ernst politisch aktiv. Er wurde 1917 als Kind jüdischer Eltern in Breslau geboren. Als Jugendlicher begeisterte er sich für die Jugendbewegung und schloss sich dem deutsch-jüdischen Jugendbund „Kameraden“ an. Als der 1932 in eine deutschnationale, eine zionistische und eine sozialistische Richtung zerfiel, schloss Ernst sich der Letzteren an und wurde Mitglied der Kommunistischen Jugend Opposition (KJO), der Jugendorganisation der KPO, einer antistalinistischen Abspaltung der KPD. Nach der Machtübernahme durch die Nazis beteiligte er sich an antifaschistischen Widerstandsaktionen. Am 9. November 1934 wurde er verhaftet und wegen „Vorbereitung zum Hochverrat” zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Verbüßung seiner Haftstrafe wurde er im Mai 1936 ins KZ Lichtenburg überstellt, wo er bis Anfang 1937 bleiben musste. Dann wurde er unter der Bedingung, Deutschland innerhalb von zehn Tagen zu verlassen, aus dem KZ entlassen. Er ging zunächst nach Jugoslawien, von dort über Italien und Frankreich Ende 1938 nach Uruguay. In Montevideo fand er schnell Arbeit – er hatte vor seiner Verhaftung in Deutschland eine Lehre als Maschinenschlosser gemacht – und engagierte sich in der Metallarbeitergewerkschaft. Außerdem war er im „Deutschen Antifaschistischen Komitee“ aktiv.
Seine Versuche, den Eltern die Emigration nach Uruguay zu ermöglichen, vereitelte der Zweite Weltkrieg. Die Eltern wurden von den Nazis ermordet, seinen Geschwistern gelang die Flucht nach Palästina. Nach der Zerschlagung des Faschismus in Deutschland wollte er in die sowjetische Besatzungszone übersiedeln, weil er dort ein neues sozialistisches, antifaschistisches Deutschland im Entstehen sah. Doch die sowjetische Botschaft in Montevideo verweigerte ihm – dem oppositionellen Kommunisten – das Visum. Daraufhin entschied er sich, in Uruguay zu bleiben, heiratete und wurde – trotz einiger ideologischer Bedenken – Mitglied der Kommunistischen Partei. Seine gewerkschaftliche und politische Tätigkeit machte ihn nach dem Militärputsch 1973 zu einer gefährdeten Person. Er wurde verhaftet, nach einigen Wochen aber wieder auf freien Fuß gesetzt (sein Sohn Peter war von 1973-79 als politischer Gefangener im Knast, in dieser Zeit starb seine Mutter, Ernsts Frau Coca, an einem Krebsleiden). Ernst beteiligte sich am Aufbau der Untergrundstrukturen der Metallarbeitergewerkschaft. Als seine Verbindungsfrau zur Gewerkschaftsführung verhaftet wurde und er damit ebenfalls gefährdet war, floh er 1980 über Brasilien in die Bundesrepublik Deutschland.
Er, der einst Deutschland verlassen musste, kam nun als Flüchtling in eben dieses Land. Obwohl er sich in Frankfurt am Main gut einlebte, war für ihn klar, dass er nach Uruguay wollte, sobald dies wieder möglich würde. 1985 – nach Ende der Militärdiktatur, zog er mit Eva zurück nach Montevideo. Obwohl er damals bereits 68 Jahre alt war, nahm er seine Arbeit in der Fabrik für Dampfkessel wieder auf. Und natürlich auch seine politischen Aktivitäten, in der Gewerkschaft, der Frente Amplio (aus der Kommunistischen Partei ist er wegen deren orthodoxer Haltung ausgetreten) und im Bertolt-Brecht-Haus. Das war früher ein von der DDR unterstütztes Kulturinstitut, das aber als uruguayischer Verein funktionierte. Nach dem Ende der DDR entschieden die Vorstandsmitglieder, das Projekt weiterzuführen. Hier kann man heute immer noch Deutsch lernen, und es finden regelmäßig Seminare und Veranstaltungen statt, häufig zu ökologischen Themen, Fortbildungen für MitarbeiterInnen von Nachbarschafts- gruppen und Stadtteilzeitungen, Lesungen oder philosophische Diskussionsabende.
Seit Ernst über 70-jährig in Rente ging, hat er mehr Zeit für Politik und seine zweite Leidenschaft, das Schreiben. Er hat insgesamt acht Bücher veröffentlicht, Erzählungen, Sachbücher und eine Autobiographie, drei davon auf Deutsch in der Bundesrepublik, fünf auf Spanisch in Uruguay. Außerdem schrieb und schreibt er für Zeitungen, u.a. für die „Weltbühne“, den „Freitag“ und seit nunmehr zwanzig Jahren auch für die ila. Sein bisher letzter Artikel über die Rentenprivatisierung in Uruguay erschien gerade erst in der Dezember-Ausgabe. Einige seiner Texte gehören zu den absoluten Highlights unserer Zeitung, etwa sein historischer Essay über Wohnen in Montevideo in der ila 217 oder seine Collage zum 100. Geburtstag von Annemarie Rübens in der ila 235.
Wanderer zwischen den Welten
Heute leben Ernst und Eva den größten Teil des Jahres in Uruguay. Wenn dort Winter ist (Mai bis September) kommen sie jedoch für ein paar Monate nach Europa. Dann haben sie ihren Standort in Frankfurt, reisen viel (immer mit Rucksack!) und besuchen Verwandte und Freunde in verschiedenen deutschen Städten, in den Niederlanden und in Israel. Sie sind Wanderer zwischen den Welten. Wenn Ernst und Eva in Deutschland sind, sehen sie es als ihre Aufgabe an, über Lateinamerika und besonders über Uruguay zu informieren. In Uruguay machen sie es im Brecht-Haus umgekehrt. 1987 veröffentlichte Ernst in Deutschland ein Buch mit Geschichten aus Lateinamerika „Südamerikanisches Domino“. Einige Jahre später brachte er in Uruguay auf Spanisch eine Sammlung mit Erzählungen über Deutschland heraus „Los Alemanes del Milagro y los otros“ – Die Deutschen des (Wirtschafts-)Wunders und die anderen. In beiden Büchern ging es ihm darum, seinen jeweiligen Landsleuten das Leben auf der anderen Seite des Ozeans näher zu bringen.
Wie vieles andere in seinem Leben, hat Ernst auch das Exil keineswegs nur als Verlust gesehen, sondern als Chance, etwas Neues kennen zu lernen und neue Erfahrungen zu machen. Diese Neugier und die Offenheit hat er sich bis heute bewahrt, deshalb fällt es ihm so leicht mit Leuten aus ganz unterschiedlichen Altersgruppen und Kulturkreisen zu kommunizieren.
Wir wünschen unserem so viele Jahre jung gebliebenen Ernst zum Geburtstag von Herzen alles Gute, „Cumpleaños Feliz“ oder „Herzlichen Glückwunsch“ am besten eine Mixtur aus beiden:
„Herzlichen Cumpleaños“!