Fünf Monate lang waren Politik, Medien und soziale Bewegungen in Argentinien von der intensiven Debatte über den Gesetzentwurf zur Legalisierung der Abtreibung beherrscht. Nach dem 8. August 2018, als im Senat negativ darüber beschieden wurde, ist alles wieder auf Anfang – oder etwa nicht? Einige Stimmen behaupten, dass in Argentinien nichts wie zuvor sei. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Tatsächlich hat die Debatte niemanden kalt gelassen. Sie hat tatsächlich die ganze Gesellschaft erfasst. Und dabei wurde über etwas diskutiert, das bis vor kurzem undenkbar gewesen wäre angesichts des politischen Einflusses der konservativen Kreise. Doch dann änderten viele Leute ihre Meinung und sprachen sich für die Legalisierung von Abtreibungen aus, nachdem sie die Argumente von Expert*innen und Angestellten aus dem Gesundheitsbereich gehört hatten. Die Verteidigung der legalen Abtreibung als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung schien sich durchzusetzen. Die Gesellschaft veränderte sich, vor allem während der hitzig geführten Diskussionen im Abgeordnetenhaus im Juni, bei der sich eine knappe Mehrheit für den Gesetzesvorschlag aussprach. Als er dann im Senat behandelt wurde, war der Umgang damit traditioneller. Und die Lobbyarbeit der ultrakonservativen Kreise war verheerend. Dabei darf nicht vergessen werden, dass im Senat jede Provinz gleich viel Stimmgewicht hat, egal ob sie 300 000 Einwohner*innen hat oder fünf oder zehn Millionen. Und die nördlichen Provinzen zeigten ihren eindeutigen Schulterschluss mit den ultrakonservativen und klerikalen Mächten. In der Hinsicht zeigte die Ablehnung des Gesetzentwurfes im Senat den Abgrund zwischen der demokratischen Haltung der Bevölkerung und dem elitären und ausschließenden Charakter unseres repräsentativen Systems und seiner Vertreter*innen. Das führt unweigerlich dazu, über eine dringend notwendige Reform unserer politischen Institutionen nachzudenken. Und über die ebenso dringliche Trennung von Kirche und Staat.
In Argentinien geschehen gerade so viele Dinge in schwindel-erregender Geschwindigkeit. Und vor dem Hintergrund einer abgrundtiefen Wirtschaftskrise ist es gut möglich, dass sich die Forderung nach der Legalisierung der Abtreibung in den kommenden Monaten verflüchtigen wird. Allerdings denke ich, dass diese Forderung im Vorfeld der nächsten Präsidentschaftswahlen (im Oktober 2019) erneut Thema sein wird.
In einem Ihrer Artikel haben Sie geschrieben, dass die Verabschiedung des Gesetzes einen großen Schritt für die Bürgerrechte bedeutet hätte; können Sie das ein wenig erläutern?
Weil das Thema so gravierend ist, stand hinter dem Gesetzesvorschlag zunächst der Ansatz, Abtreibung als gesundheitliches Problem zu behandeln, weswegen versucht wurde, angemessene Bedingungen für den Weg zur Abtreibung zu ermöglichen. Das Gesetz sieht nicht nur eine Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs vor, sondern legalisiert ihn, indem es dem Staat wieder eine zentrale Rolle in der Gesundheitsversorgung zuweist. Gleichzeitig zeigt das Gesetzesprojekt die große Sorge um die Folgen der heimlichen Schwangerschaftsabbrüche. Sie verstärken die soziale Ungleichheit, denn hier sind die ärmsten Frauen betroffen. An zweiter Stelle hätte das neue Gesetz, so es denn verabschiedet worden wäre, im Hinblick auf die Rechte und die Würde der Frauen sowie auf die Freiheit, über unsere Körper selbst bestimmen zu können, ein anderes Panorama eröffnet. Dabei hätte es das juristische Paradigma der im patriarchalen Gesellschaftsmodell bevormundeten, gar zum Kind gemachten Frau überwinden können, das heute so sehr in der Kritik steht.
Die Senatorin Silvina Larraburu von der peronistischen Frente para la Victoria (FPV) hat gesagt, dass arme Frauen nicht abtrieben und dass der Gesetzentwurf ausländischen Interessen entspreche. Was denken Sie dazu?
Es ist wirklich bedauerlich, wie bestimmte Leute die armen Frauen vor ihren Karren spannen. Was ist nicht alles für ein Unsinn verzapft worden in ihrem Namen! Der Fall der Senatorin Larraburu, die zunächst für das Gesetz war und sich erst wenige Tage vor der Abstimmung im Senat dagegen aussprach, ist besorgniserregend, weil er zeigt, wie die konservativsten Kreise Druck auf die politische Klasse ausgeübt haben. Da gab es noch mehr Fälle. Juan Grabois zum Beispiel, ein renommierter Sprecher der Arbeitslosenbewegung, gleichzeitig treuer Verbündeter von Papst Franziskus, sagte, dass die armen Frauen die Abtreibung nicht wollten. Und ein Priester, der tolle soziale Arbeit in den Villas, den Armenvierteln, betreibt, stellte Abtreibungen auf die gleiche Stufe mit Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds!
Diese Kreise geben vor, die unteren Schichten zu vertreten, verfolgen dabei aber ihr eigenes Interesse, sind höchst tendenziös und führen die Leute in die Irre. Tatsächlich leiden die armen Frauen am allermeisten unter den furchtbaren Folgen von heimlichen Schwangerschaftsabbrüchen. Das Risiko, irreparable Gesundheitsschäden davonzutragen oder gar umzukommen, ist in den ärmsten Bevölkerungsschichten viel höher. Damit werden dramatischerweise die Klassenunterschiede in die Körper der jungen Frauen eingemeißelt, von denen viele fast noch Kinder sind.
Andererseits besteht kein Zweifel daran, dass das Thema Abtreibung in den popularen Organisationen durchaus umstritten ist. Doch die Kreise, die gegen die Frauenrechte agitieren und behaupten, dass „die armen Frauen nicht abtreiben“ oder dass sie „gegen Abtreibungen sind“, versuchen absichtlich die Bewegung zu diskreditieren. So behaupten sie, dass dieses Thema lediglich für weiße Mittelschichtsfrauen interessant sei, also für eine bestimmte Art von Feminismus, was komplett falsch ist. Die Nationalen Frauentreffen, die seit über 30 Jahren stattfinden, haben einen Raum geschaffen, in dem Debatten über Klassengrenzen hinweg stattfinden und eine Solidarität jenseits von Klassen- und Generationenzugehörigkeit entstanden ist, die sogar ethnische Schranken zu überwinden versucht. Seit diesem Jahr nennt es sich dementsprechend „Plurinationales Frauentreffen“, um so den Forderungen der Frauen aus den indigenen Bevölkerungsgruppen nachzukommen, die ebenfalls auf den Treffen vertreten sind. So sind die Kämpfe der popularen und gemeinschaftlichen Feminismen mit aufgenommen worden, die auf die Verteidigung des Territoriums abzielen, die dreifache Achse Körper-Territorium-Natur, und gegen jegliche Art von Neoextraktivismus gerichtet sind.
Das „grüne Lager“, also die Befürworter*innen des Gesetzentwurfes mit ihrem Erkennungszeichen, den grünen Halstüchern, war sehr vielfältig, von Feministinnen mit langer Kampferfahrung über unzählige junge Frauen bis hin zu berühmten Juristinnen, Schriftstellerinnen und Schauspielerinnen. Wie ist diese derart diverse und massive Mobilisierung zu erklären?
Das „grüne Lager“ hat für ein Empowerment im Parlament und auf der Straße gesorgt. Im Parlamentsgebäude traten sowohl im Abgeordnetenhaus wie im Oberhaus zahlreiche Expertinnen auf, die ihr Wissen vortrugen, um die Argumente für das Gesetz bekannt zu machen: von renommierten Juristinnen über scharfsinnige Philosophinnen, Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen mit langjähriger Arbeitserfahrung, mutige Frauenrechtsverteidigerinnen von NRO bis hin zu Schriftstellerinnen und erfolgreichen Schauspielerinnen, die Fotos, Videos und Tweets für den legalen Schwangerschaftsabbruch verbreiteten. Sie alle zeigten ein aufrichtiges Engagement für mehr Frauenrechte. Die beste Rede im Abgeordnetenhaus stammte von einer jungen Abgeordneten aus dem Regierungslager, die all jenen Gerechtigkeit widerfahren ließ, die seit Jahrzehnten für dieses Gesetz kämpfen. Sie nannte alle ihre Namen. Dabei rückte sie Bedeutendes in den Vordergrund: Kontinuität, die Akkumulation von Kämpfen, die Anerkennung einer historischen Schuld.
Draußen, auf der Straße, war und ist die Mobilisierung vor allem generationenübergreifend und derart massiv, dass wir es meiner Meinung nach mit mehr als einer sozialen Bewegung zu tun haben, sondern vielmehr mit einer „Gesellschaft in Bewegung“. In dieser großen Mobilisierung kamen zwei Wellen zusammen: die erste von jenen Frauen und feministischen Kollektiven, die seit Jahrzehnten für mehr Rechte kämpfen; die zweite, die sich in der funkelnagelneuen, antipatriarchalen Vitalität der jungen und superjungen Frauen von heute zeigt, die in den Kampf gegen Feminizide und sexualisierte Gewalt involviert sind. Diese große Welle begann vor drei Jahren mit der Bewegung Ni una menos gegen die Feminizide, der sich vor allem sehr viele junge Frauen und Mädchen anschlossen, viele von ihnen erst zwischen 12 und 15 Jahren alt. Am vergangenen 8. März, am Internationalen Frauentag, trat diese große Welle vor dem Kongress wieder in Erscheinung, schien gestärkt und verwandelt in diese unvergleichliche grüne Flut. Und alles mündete in die massive Forderung nach legalen, sicheren und kostenfreien Schwangerschaftsabbrüchen.
Wie würden Sie die Gegenseite, das „hellblaue Lager“ beschreiben?
Das sind ultrakonservative Kreise, die sowohl mit der katholischen Kirche als auch mit den Pfingstkirchen verbündet sind. Diese Kreise, zusammen mit der ranzigsten Rechten, hatten sich zuvor schon anderen, für die argentinische Gesellschaft wichtigen Gesetzen widersetzt, wie dem Scheidungsgesetz, dem Gesetz zum gemeinsamen Sorgerecht, zur Sexualerziehung, zum Zugang zu Verhütungsmitteln, zur gleichgeschlechtlichen Ehe. All diese Gesetze stehen für eine klare Trennung zwischen Staat und Kirche und für den Versuch, die Veränderungen in den individuellen und kollektiven Subjektivitäten in den juristischen und institutionellen Rahmen zu übertragen, und öffneten damit Transformationswege und Lösungsansätze für lange aufgeschobene Bedürfnisse.
Aber Achtung, es ist nicht nur die katholische Kirche, die heute so sehr in der Kritik steht. Die Pfingstkirchen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle bei den Mobilisierungen gegen die Abtreibung. Und sie werden immer mächtiger. Kurz, das hellblaue Lager sind interreligiöse Kreise, die sich einer Sprache bedienen, die gegen die Bürgerrechte und bestimmte Errungenschaften gerichtet ist. Diese Sprache ist homophob und antifeministisch und deutlich jenen Diskursen zugeneigt, die im Feminismus den „Genderwahn“ sehen und die sogar mit der faschistischen und antidemokratischen Sprache eines Bolsonaro in Brasilien sympathisiert.
In einem Artikel zum Thema erwähnen Sie den „moralischen Imperialismus“ der ultrakonservativen Kreise. Wie haben diese Kreise in den letzten Wochen vor der Abstimmung im Senat agiert?
Diese Kreise haben eine Art nationalen Kreuzzug in Medien und Politik veranstaltet, mit einer starken Lobbyarbeit im Senat, wo vor allem die Provinzen vertreten sind. All das hat das Schlechteste der argentinischen Gesellschaft hervorgekehrt, an den Haaren herbeigezogene, vollkommen irre Interpretationen – etwa Abtreibungen mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen oder auf betrügerische und unverantwortliche Weise zu behaupten, dass Kondome nicht vor AIDS schützen – um gegen das Gesetz Stimmung zu machen. Das nenne ich „moralischen Imperialismus“, weil sich diese Leute als ethisch höherwertig ansehen, weil sie ja „das Leben verteidigen“. Es war sehr anstrengend, dieses Argument samt all seinen Täuschungen zu entlarven und zu zeigen, dass die Antiabtreibungskreise in Wirklichkeit gar nicht das Leben verteidigen, sondern die soziale Heuchelei und die Verfestigung der ungleichen Verhältnisse.
„Wenn es heute nicht klappt, werden wir weiterkämpfen“, das sagen viele. Woher kommt dieser fast schon starrsinnige Optimismus?
Die gewaltige Größe der Frauenbewegung, ihre abrupte antipatriarchale Haltung, ihre spontane Radikalität, kurz, das Aufkommen dieses neuen feministischen Ethos hat uns zu einem Optimismus verholfen, der vielleicht etwas naiv sein mag. Wenn wir nun das lateinamerikanische Panorama betrachten, vor allem das, was gerade in Brasilien passiert, dann wäre ich vielleicht nicht mehr ganz so optimistisch. Erst gestern (am 21. Oktober, die Red.) gab es eine große politische Kundgebung in Luján, in der Provinz Buenos Aires, wo die Forderung lautete: „Frieden, Brot und Arbeit“. Vor Ort waren eine ganze Reihe von sozialen Organisationen, die verschiedenen Kirchen und peronistische Kreise, die heute in der Opposition sind und gerne wieder an die Regierung zurückkehren würden. Abgesehen von den berechtigten sozialen Forderungen angesichts der Sparpolitik war es nun mal so, dass bei dieser Kundgebung diejenigen Kreise anwesend waren, die für die rückschrittlichsten Positionen stehen, was die Rechte der Frauen angeht. Dort waren die reaktionärsten Vertreter der Kirchenhierarchie (es war wie gesagt ein multireligiöser Akt), ebenso der ehemalige Chef der CGT, Hugo Moyano, ein einflussreicher Gewerkschaftsboss, der sich wenige Tage vorher einer offen diskriminierenden, homophoben und antifeministischen Sprache bedient hatte, um seinen Sohn zu verteidigen, gegen den ein Haftbefehl vorliegt wegen seiner Aktionen an der Spitze einer Hooligangruppe. Doch niemand sagte etwas dazu. Und fast niemand schien sich über seine Äußerungen aufzuregen! Wir müssen uns klar darüber sein, dass die Geschichte von rekursiven Dynamiken geprägt ist, dass es mal vor- und mal zurückgeht. Ich glaube zwar, dass das Gesetz für legale und kostenfreie Schwangerschaftsabbrüche eines Tages kommen wird, doch es ist gut möglich, dass wir in naher Zukunft erst einmal wieder Rückschritte erleben werden.
Wenn wir es mit einer neuen Welle des Feminismus zu tun haben. Worin unterscheidet der sich von früheren Feminismen?
Meine Hypothese lautet, dass sich der Unterschied an der Frage festmacht, wie und bis zu welchem Punkt eine Denaturalisierung der patriarchalen Macht stattgefunden hat. Heute ist der König nackt. Der aktuelle Feminismus fordert die Autonomie der Körper ein und geht dabei von einer anderen Beziehung zum Körper, zur Sexualität und zur patriarchalen Macht aus. Für die Jüngsten darunter ist die Tatsache, dass weiße, heterosexuelle Männer über 50 oder 60 über unsere Schicksale entscheiden, ein unerträglicher Akt symbolischer Gewalt. Anders ausgedrückt: Was wir Frauen aus meiner Generation verinnerlicht haben, ist heute bei den jüngsten Frauen komplett entnormalisiert, die völlig ungezwungen und hyperkritisch sind, und dies mit einer Freude und einer unübersehbaren Courage in ihren antipatriarchalen Gesängen. Und das machen sie alles inmitten der schlimmsten Welle von Feminiziden, die wir jemals in der Geschichte hatten.
Papst Franziskus hat vor kurzem Frauen, die abtreiben, mit „Auftragsmördern“ gleichgesetzt. Welche Reaktionen gab es in der argentinischen Gesellschaft auf diesen hanebüchenen Vergleich?
Noch einer, der im Rahmen des moralischen Imperialismus das Schlechteste von sich selbst hervorgekehrt hat! Aber seine Behauptungen sind nicht besonders überzeugend. Viele reagierten sehr skeptisch und meinten, er hätte ebenso kritisch gegenüber den Verbrechen der pädophilen Priester sein müssen, deren Aufdeckung gerade die katholische Kirche erschüttert, oder gegenüber den Priestern, die sich zu Komplizen der schlimmsten Folterknechte während der letzten Militärdiktatur gemacht haben.