Heute werden sie kommen und uns alle umbringen!

Warum schickt CAPISE BeobachterInnen in den Norden von Chiapas?

In der Region um die Wasserfälle von Agua Azul leben Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen politischen und ökonomischen Interessen. Die Drohungen und paramilitärischen Angriffe von Mitgliedern der regierungsnahen OPDDIC (Organisation zur Verteidigung der indigenen und bäuerlichen Rechte) auf zapatistische Gemeinden haben in den letzten Monaten ein so besorgniserregendes Maß angenommen wie seit zehn Jahren nicht mehr: Sie erinnern an die Übergriffe, die dem Massaker von Acteal am 22. Dezember 1997 vorausgingen, bei dem 45 Menschen ermordet wurden.

Am 29. Dezember 2007 wurde der Zapatist Pablo Silvano Jiménez aus Betel Yochib von zwei Polizisten und einem OPDDIC-Mitglied angeschossen. Die zivilen Beobachtungsbrigaden sollen durch ihre Anwesenheit den massiv bedrohten UnterstützerInnen der EZLN Schutz bieten.

Am 1. Februar gab es einen bewaffneten Übergriff auf zwei EZLN-UnterstützerInnen aus Betel Yochib. Die Staatsanwaltschaft erklärte, zwei mutmaßliche Aggressoren hätten versucht, einen Touristenbus auszurauben. Um sie an der Flucht zu hindern, habe die Polizei schießen müssen. Was ist tatsächlich vorgefallen?

Am Abend des 31. Januar gab es laut Polizei einen versuchten Überfall auf einen Bus. Zwei Betrunkene wurden am Tatort festgenommen und gezwungen, gegen drei ZapatistInnen auszusagen. Am nächsten Morgen wurden Eliseo Silvano Jiménez und sein Sohn Eliseo Silvano Espinosa verhaftet. Dabei schossen die Polizisten mehrmals auf sie und trafen Eliseo Senior in den Fuß. Nach Angaben der Gefangenen fesselten die Polizisten beide und schlugen die ganze Fahrt über auf sie ein. 

Im Gefängnis von Palenque wurden sie acht Stunden lang brutal gefoltert und gezwungen, sich mit Schusswaffen fotografieren zu lassen. Somit hatten die Polizisten ein konstruiertes Delikt vorzuweisen – eine gängige Praxis im Kontext der Aufstandsbekämpfung in Mexiko. Eine Woche lang waren sie mit ihren Folterverletzungen ohne medizinische Versorgung im Gefängnis. Eine anwesende internationale Menschenrechtskommission sowie CAPISE und das lokale Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas erreichten ihre Freilassung auf Kaution.

Die Situation in der Region ist seit Monaten stark angespannt. Welche Erfahrungen haben Sie persönlich als Teilnehmerin der Brigade gemacht?

Bereits als wir am 27. Januar in Betel Yochib ankamen, sagten Mitglieder der OPDDIC, dass sie uns dort nicht sehen wollten und uns die Polizei auf den Hals hetzen würden. Am nächsten Abend hielten die 63 Familien aus Betel, die der OPDDIC angehören, zusammen mit drei OPDDIC-Führern aus Agua Azul eine Versammlung ab, auf der sie berieten, wie sie mit uns verfahren würden. Einige besonders aggressive Personen schlugen vor, einfach alle umzubringen – sowohl uns internationale BeobachterInnen als auch die EZLN-UnterstützerInnen.

Jemand, der die Beratung mitgehört hatte, berichtete das unseren GastgeberInnen. Diese weckten uns aufgeregt mit den Worten: „Heute werden sie kommen und uns alle umbringen!“ Außerdem hatte vorher jemand gehört, wie ein OPDDIC-Mitglied zu einem anderen sagte: „Wir werden die Frauen der Brigade beim Baden am Fluss vergewaltigen.“ In dieser Situation haben wir die Angst, in der die Zapatistas Tag für Tag leben müssen, am eigenen Leib gespürt. Die Menschenrechtsbeobachtung in Chiapas wird trotzdem fortgesetzt, denn sie hat nachweislich zur Gewaltvermeidung beigetragen.

Die Regierung bezeichnet die massiven Menschenrechtsverletzungen immer wieder als die Konsequenz lokaler Konflikte. Doch welche Interessen stehen dahinter?

Hintergrund ist der Ausbau des Tourismus in der Region zwischen Agua Azul und den bedeutenden Maya-Pyramiden von Palenque. Die chiapanekische Regierung will das Biosphärenreservat um Agua Azul ausweiten, um weitere Tourismusprojekte in dem Regenwaldgebiet zu realisieren. Da die Zapatistas dem Massentourismus nicht freiwillig weichen wollen, hetzt die Regierung die OPDDIC-Mitglieder gegen sie auf, indem sie ihnen höhere Profite aus dem Tourismus verspricht und sie, wie CAPISE vermutet, mit Waffen ausstattet.

Was kann die solidarische internationale Zivilgesellschaft zu einer Entschärfung der Lage beitragen?

Das mediale Schweigen zu brechen ist ein Anfang. Das können wir erreichen, indem wir Informationen verbreiten, z. B. über Veranstaltungen oder öffentlichkeitswirksame Aktionen vor mexikanischen Vertretungen. Auch Tourismusmessen sind ein Ansatzpunkt. Darüber hinaus gibt es immer wieder Protestschreiben (Emails, Faxe oder Briefe) an mexikanische Behörden. Auch der Einsatz als MenschenrechtsbeobachterIn ist äußerst sinnvoll. Die internationale Aufmerksamkeit kann die Arbeit der MenschenrechtsaktivistInnen vor Ort politisch unterstützen. Auch Spenden an lokale Organisationen und Kollektive vergrößern den Handlungsspielraum.