In Ernestos Terminplan eine Lücke zu finden ist manchmal nicht einfach und so haben wir mehrmals die Gelegenheit genutzt, ihn bei Veranstaltungen und bei Lesungen aus seinem Buch „Exil in der Heimat – Heim ins Exil“ zu treffen. Trotz aller Wiederholung: Langweilig war das nie. Obwohl wir das Buch gut kennen und inzwischen auch wissen, welche Passagen er daraus gerne vorliest: Wie er als Maschinenschlosserlehrling die Fabrik und die „Welt der Arbeit“ kennengelernt hat, wie er durch die „Kameraden“ und die Lektüre von Marx politisiert wurde, wie er für den Generalstreik agitiert und sich im antifaschistischen Untergrund organisiert hat.
Minutiös beschreibt er, wie sie sich als Liebespaare getarnt haben, um nachts Plakate gegen die Nazis zu kleben. Während die scheinbar knutschenden Pärchen in den Hauseingängen die Plakate anbrachten, beobachteten Radfahrer aus der Gruppe – wie Ernesto – die Gegend. Für Notfälle waren verschiedene Klingelzeichen ausgemacht, die den Pärchen signalisierten, dass und in welche Richtung sie abhauen mussten. Am Ende der Aktion mussten die Radfahrer in einer Kneipe „melden“, dass alles gut gegangen war – indem sie ein Bier tranken und eine Zigarette rauchten: „Das Finale in der ‚Kräuterbar’ war für mich das Schwerste, fast eine Zumutung. Niemals im Leben hatte ich Bier getrunken, niemals eine Zigarette geraucht. Bei den ‚Kameraden’ waren Alkohol und Nikotin gegen unsere Prinzipien gegangen. Beides war für mich ein ‚politisches Opfer’. Das ‚Bieropfer’ allerdings sollte ich in meinem späteren Leben des öfteren und sogar mit Genuss bringen. Das der Zigarette hingegen wiederholte ich nur wenige Male, und stets war es ein wahres Opfer.“
1934 wird Ernesto von der Gestapo verhaftet und nach der Haft ins KZ Lichtenburg verschleppt. „Das Schlimmste in Lichtenburg war die Unberechenbarkeit. Nicht allein, dass es keinen Termin gab, an dem man entlassen wurde: Niemand wusste, was ihm am nächsten Tag oder auch nur eine Stunde später passieren konnte…Die Angst, was uns täglich erwartete, blieb unser ständiger Begleiter. Das war wohl letzten Endes auch die Absicht dieser Menschenschinder. Nicht nur uns, ihre politischen Widersacher, physisch kaputtzumachen, sondern auch unsere Menschenwürde niederzutrampeln. Wir sollten nur noch ein Nervenbündel voller Ängste sein. Waschlappen, die sie – ‚Herrenmenschen’ – verachten konnten.“
Anfang 1937 kommt er unter der Auflage frei, Deutschland zu verlassen. Nach einer Zwischenstation in Jugoslawien emigriert er schließlich nach Uruguay. „Damals war ich verzweifelt. Mochten andere Emigranten deprimiert gewesen sein, weil sie ihr Hab und Gut, ihren gesellschaftlichen Status verloren hatten und in fortgeschrittenem Alter noch mal von vorne anfangen mussten oder weil sie drüben einen akademischen Titel erworben hatten, hier aber als Würstchen- oder Fruchteisverkäufer durch die Straßen ziehen mussten, so war das Golgatha meines Exils, dass ich, in ein fremdes Milieu versetzt, mich als Mensch und Mann nicht darin zurechtfand.“ Ein Freund wollte ihm beibringen, wie er mit piropos, mit albernen Komplimenten, zu einer Freundin käme. „Einmal wandte ich bei einem Mädchen ein so gelerntes Sprüchlein an. ‚Hauen Sie ab, Sie Scheißrusse!’ war die erzürnte Antwort der Holden. Mit meinem unspanischen Gaumen-‚R’ und wenig graziösen Manieren musste die Methode des ‚Hageren Landon’“ scheitern. Ich wandte sie auch nicht mehr an.“
Ernesto engagiert sich in der Kommunistischen Partei. In einem Armenviertel, dem Barrio Sur, bekommen er und einige seiner GenossInnen 1954 mit, dass 28 Familien zwangsgeräumt werden sollen. Sie gründen eine Bürgerinitiative. „Für mich begann damit meine sozial und politisch fruchtbarste Periode. Wie nie zuvor lernte ich einfache Menschen kennen und schätzen und erkannte die verborgenen enormen Chancen, die sich ihnen boten, wenn sie zusammenstanden. Eine bereichernde Erfahrung.“ Gegen diese enormen Chancen treten in Uruguay 1973 die Militärs auf den Plan und errichten die Diktatur, die Ernesto später in sein zweites Exil treiben wird. In seinen Lesungen spricht er aber lieber von dem beeindruckenden Widerstand, den die ArbeiterInnen Uruguays den Militärs mit einem 15-tägigen Generalstreik entgegensetzten, und der letzten großen Demonstration: „Schon seit den Morgenstunden wiederholte der Rundfunksender CX30 immer wieder das Gedicht von Federico García Lorca zum Gedenken an die Ermordung des spanischen Dichters Ignacio Sánchez Mejías durch die Franco-Truppen: Am Nachmittag um fünf Uhr. Stefan Zweig hat von den großen historischen Ereignissen als Sternstunden der Menschheit geschrieben. Für mich war diese um fünf Uhr nachmittags eine solche. Die ‚18 de Juli’ (Hauptstraße Montevideos – Die Red.) war, seit der Generalstreik ausgerufen und das Geschäftsleben zum Erliegen gekommen war, menschenleer. Plötzlich, Punkt fünf Uhr, quollen aus allen Seitenstraßen wie aus hundert Nebenflüssen immense Menschenmassen hervor, füllten in wenigen Minuten die Hauptstraße, und die Rufe Nieder mit der Diktatur!, Es lebe die Demokratie! hallten durch die breite Avenida wider. Es dauerte nicht lange, da fuhren Panzerwagen und Schützenpanzer auf. Tränengasgranaten explodierten. Auch unsere vorher angefeuchteten Taschentücher vor Mund und Nase zu halten, half nicht viel. Ein nichtendenwollender Husten überkam mich. Ich rannte zum ‚Brunnen des Wirrwarrs’ – ein Denkmal berittener Gauchos in verworrenem Kampf – und steckte meinen Kopf ins Wasser. Ein wenig erleichtert liefen wir – ich und einige compañeros unseres Betriebs – zurück an den ‚Kriegsschauplatz’. Die Milicos und die Rauchschwaden hatten sich verzogen, und wir schrieen uns von neuem heiser, bis die Panzer wiederkamen. Die letzten Rufe nach Freiheit verhallten unter den Schüssen, die die Schützenpanzer über die Köpfe der Menge hinwegfeuerten.“
Das Buch und die Lesungen enden mit der Rückkehr aus Deutschland nach Uruguay, nach dem Ende der Militärdiktatur, und der Frage: „Wird das hier mein letztes Exil gewesen sein? Und drüben meine letzte Heimkehr?“ Die Geschichte ist noch nicht zu Ende und Ernesto mischt weiter mit. Er tritt nicht nur mit diesen Lesungen auf, er berichtet ebenso gerne über die aktuellen Konflikte im paisito, im Ländchen Uruguay. Seine Erzählungen bei den Lesungen klingen nicht wie Geschichten eines alten Mannes, der nostalgisch zurückblickt. Er gibt Erfahrungen weiter – ohne belehrend zu wirken – und er vermittelt die Hoffnung und den Mut, dass selbst in anscheinemd aussichtslosen Situationen und Phasen größter Repression doch noch was geht. Man muss mit Ernesto nicht immer einer Meinung sein – über einige Fragen wie z.B. die Arbeitsmoral oder die Notwendigkeit, sich an Wahlen zu beteiligen, werden wir uns wohl nicht mehr einigen. Aber Ernesto zuzuhören und mit ihm zu diskutieren ist immer ein Gewinn.
Vor ein paar Jahren haben wir uns in Köln verabredet, um zu einer Demonstration zu gehen. Ernesto war aus Frankfurt angereist und wir hatten uns zuvor wohl ein Jahr nicht gesehen. Aber er wollte sich nicht mit langem „Hallo“ oder „Wie geht’s“ aufhalten. Er kam typischerweise direkt zur Sache: „Was mir hier in Deutschland am meisten auffällt, ist die Indifferenz der Leute.“ Besser kann man es auch heute nicht zusammenfassen. Indifferenz: Unbestimmtheit, Unentschiedenheit, Teilnahmslosigkeit, Gleichgültigkeit. Das passende Wort und die richtige Beobachtung zumindest für die Mehrheit und den mainstream in dieser Gesellschaft.
Dass Ernesto mit einer derartigen Nicht-Haltung rein gar nichts zu tun hat, ist klar, und war auch anschließend bei der Demonstration gegen den G8-Gipfel zu sehen. Während die Demo tendenziell eher ruhig verlief, ließ es sich die Staatsgewalt wie üblich nicht nehmen, an irgendeiner Kreuzung auf die üblichen Verdächtigen einzuknüppeln. Da die folgende Rangelei kurz vor uns ablief, haben wir Ernesto gefragt, ob wir uns eventuell in eine etwas ruhigere Ecke innerhalb der Demo zurückziehen sollten. Aber da war Ernesto schon auf dem Weg nach vorne, um sich einen unmittelbaren Überblick zu verschaffen. „Also das ist doch hier die reine Provokation durch die Polizei!“ – so sein Fazit. Unser damals schon 82-jähriger Freund lieferte kurz danach übrigens noch ein weiteres Beispiel für seine bewundernswerte Kondition, trotz aller gesundheitlichen Einschränkungen. Als sich das Ende der Demonstration bei hochsommerlichen Temperaturen immer weiter hinauszögerte, weil noch diverse langweilige Runden durch ruhige Kölner Stadtteile zu absolvieren waren, kamen wir auf die Idee, eine Abkürzung zu nehmen, um schon mal was zu trinken und dann zur Kundgebung zu gehen. Aber das ist nichts für Ernesto. Selbstverständlich bleibt man bis zum Schluss und auch auf den letzten Kilometern noch dabei…
Mag sein, dass Ernesto, wie er selbst sagt, ein veraltetes Deutsch spricht. Aber immer, wenn wir uns in den letzten Jahren in Uruguay oder hier getroffen haben, fällt uns seine Neugier und sein Interesse an allem Neuen auf. Und wie selbstverständlich reden wir dann über seine und unsere zukünftigen Projekte und Pläne. Ernesto ist wohl auch deswegen jung geblieben, weil er zwischen den beiden Welten wandert und sich den Blick von außen auf die jeweiligen Länder bewahrt hat. Ein guter Schutz davor, sich in der einen oder anderen politischen oder kulturellen „Provinz“ – dort oder hier – allzusehr einzurichten, und stattdessen wach und kritisch zu bleiben, auch dem eigenen Umfeld gegenüber. Ernesto hat immer auf die kleinen Leute gesetzt und so hat er weiterhin ein offenes Ohr für kleine Geschichten von kleinen Kämpfen – aus Betrieben, aus der Antifa oder anderen Bewegungen. Er interessiert sich für die heutigen AktivistInnen, auch wenn sie mehrere Generationen jünger sind als er, und er hört ihnen zu. Bei seinen Lesungen und den politischen Veranstaltungen hierzulande ist gut zu beobachten, dass sie das spüren. Und so ist Ernesto uns und diesen noch wesentlich Jüngeren nahe geblieben. Näher als mancher Ältere oder vermeintlich Junge, denen solche Einsichten aus seiner Biografie zu wünschen wären: „Ich zum Beispiel liebe Mozart oder Beethoven, auch Bach, bei Strawinsky muss ich mich schon anstrengen, was auf Kosten des Genusses geht. Aber ich akzeptiere, dass den jungen Leuten die Rockmusik gefällt, auch wenn sie mir das Trommelfell verletzt. Ich werde mich hüten, Werturteile aus meiner subjektiven Verkalktheit zu fällen.“
Respekt!