Hierarchisierung des Gemeinwohls auf Kosten des Eigennutzes

Um es vorwegzunehmen: Cuba hat keine indigene Bevölkerung, sondern ist eine Kombination von armen, vor allem spanischen, EinwanderInnen, schwarzafrikanischen SklavInnen mit einigen Sprenkeln chinesischer ArbeiterInnen, Flüchtlingen aus dem von der Sklaverei befreiten Haiti und wenigen indigenen Genen, vor allem auf Grund kolonial-sexueller Gewalt. Somit sind buen vivir und pachamama hierzulande keine Stichworte der politischen Diskussion. Aber die nichtmaterielle und ökologische Seite des Wohlstandes sind auf der Karibikinsel durchaus ein Thema.

Cuba ist das einzige Land weltweit, das laut einer Untersuchung des nicht linksverdächtigen World Wide Fund For Nature (WWF) hohe soziale Standards mit seinem ökologischen Fußabdruck in Einklang gebracht hat (WWF, 2006). Mit fünf Prozent des CO2-Ausstoßes der USA haben die CubanerInnen dieselbe Lebenserwartung und eine geringere Kindersterblichkeit wie ihre nördlichen NachbarInnen. Ein mit einer schwarzafrikanischen Frau verheirateter Nordeuropäer hat vor Kurzem erzählt, wie angenehm es war, als Paar Hand in Hand durch Havana zu laufen, und niemand guckte komisch oder abschätzig. Auch die meisten europäischen Eltern in Cuba sind sich einig: Die Lebensqualität für Kinder in Cuba ist sehr hoch, nicht wegen materieller Werte, sondern wegen der hohen sozialen Stellung der Kinder in der Gesellschaft und des kollektiven Sicherheitsbefindens für die Kleinen, „auf die das ganze Viertel aufpasst“.

Seit Beginn der Revolution wurden die Personen als InhaberInnen von Rechten betrachtet, wobei der Staat die Verpflichtung hat, diese zu gewährleisten (Bildung, Gesundheit, Sozialversicherung, Kultur, etc.), also ein Wohlfahrtsstaat mit einem dichten sozialen Netz. Dabei war die monetäre Spähre nicht unbedingt dominant, da die garantierten Dienstleistungen (inklusive einem Großteil der Grundnahrungsmittel) nicht an den Lohn für bezahlte Arbeit gekoppelt waren. Es waren dies die hierzulande hochgelobten Achtzigerjahre, in denen „Geld kein Problem war, eigentlich hatten wir davon immer genug“, wie viele aus dieser Zeit erzählen. Zwar waren auch diese Jahre nicht vom extremen Konsumismus geprägt, aber ökologisch und ökonomisch alles andere als nachhaltig. 

Die grüne Revolution und realsozialistische Technologie bedeuteten Energieineffizienz (eben genau nicht, sondern maßlose Energieverschwendung – d. Säz.) und ökologischen Raubbau, zum Beispiel an landwirtschaftlichen Böden, die bis heute darunter leiden (Verdichtung, Versalzung etc.). Nach dem Wegfall der speziellen Warentauschabkommen mit dem Ostblock schrumpfte die Wirtschaft in zwei Jahren um ein Drittel, eine Krise, von der sie sich bis heute nicht völlig erholt hat. Somit war dieses Glücksgefühl zwar sozial nachhaltig (hohe Lebenserwartung, soziale Sicherheit, niedrige Kriminalität, Stabilität, etc.), hatte aber seine Achillesferse.

Die Frage, ob in einer Welt, in der soziale und ökologische Kosten aus den volkswirtschaftlichen Berechnungen systematisch ausgeklammert werden, buen vivir überhaupt möglich ist und mit Scheinkosumwelten aus den Telenovelas mithalten kann, scheint berechtigt. An wem messe ich mich, was ist mein Referenzpunkt, dies ist eine häufige Debatte in Cuba. Derweil wir sagen, dass Cuba so lange ein Referenzpunkt bleibt, wie die große Mehrheit der Leute hier besser lebe als in anderen Ländern Lateinamerikas, antworten viele CubanerInnen, dass sie es satt haben, kaum ein paar Bier von ihrem Arbeitslohn trinken zu können, und verweisen auf Miami und Spanien (aus dem TV, nicht aus den Arbeitlosenstatistiken und Kriminalitätsraten) als ihre Referenzpunkte. Das Argument, dass Cuba eben von dem lebt, was es erarbeitet, nicht was andere in Schwitzbuden, Plantagen und Minen für Konzernzentralen erschuften, ist ein schwacher Trost, wenn der Monatslohn nach 15 Bildungsjahren nicht dazu reicht, um auch mal ein Kollektivtaxi zu nehmen, statt lange auf den überfüllten Bus zu warten. Und genauso wenig wie anderswo sind die Leute hier damit zu überzeugen, dass die ökologischen Grenzen überbordenden Privatverkehr eben nicht zulassen.

Politisch genießt das Problem hohe Priorität. Bereits auf dem Weltumweltgipfel in Rio de Janeiro 1992 mahnte Fidel Castro, dass eine Spezies vom Aussterben bedroht sei, der Mensch. Es war nicht nur der Zusammenbruch des realen Sozialismus, der die Energieeffizienz Priorität werden ließ, und seit ein paar Jahren auch den Klimawandel und was dagegen zu tun sei. Cuba verfolgt das Ziel, seinen Energieverbrauch im Vergleich zu 1990 auf ein Drittel zu senken, je zu 50 Prozent mittels effizienterer Technologie und durch Sparen. So mancher Funktionär beklagt sich, dass die Klimaanlage nicht mehr ständig auf 18 bis 20 Grad runtergefrieren darf, aber für die Mehrheit ohne dieses Kühlaggregat ist dies durchaus unterstützenswürdig, genauso wie die Kürzung der Benzinzuweisung für die Benutzung staatlicher Autos. Wieso hat Cuba geschafft, was die EU bis heute nicht hingekriegt hat – alle Glühbirnen sind stromsparend und dies seit Jahren? Starker Staat und politischer Wille lautet ein Teil der Antwort und dass es die Frage ist, ob Treibstoff zur Stromerzeugung für Klimaanlagen oder Pulvermilch für die Kleinkinder gekauft werden soll, nach sozialen und nicht nach markwirtschaftlichen Kriterien beantwortet wird, ein anderer Teil.

Die Vergöttlichung des Materiellen ist an den CubanerInnen nicht spurlos vorbeigegangen, woran auch die 2,5 Millionen kamerabehangener TouristInnen einen Anteil haben. Wie eingangs klargestellt kann Cuba auch nicht auf einen historischen Hintergrund zurückgreifen, das Land ist nicht homogen und nur gut 100 Jahre jung, viele Großeltern der heutigen Generation haben ihren Enkeln in jungen Jahren noch von der Sklaverei erzählt. Der cubanische Beitrag zum buen vivir könnten die gemeinsamen Werte eines jungen sozialen Gefüges sein, die erst mit der Revolution gestärkt wurden: Solidarität, Menschenwürde, gleiche Rechte für alle, Gelegenheiten, einen Beitrag zu leisten – dieses Wertegerüst hat es erlaubt, den materiellen Zusammenbruch Anfang der neunziger Jahre vergleichsweise unbeschadet zu überstehen und geht anders als in den europäischen Sozialstaaten der jüngeren Vergangenheit über die nationalen Grenzen weit hinaus.

Politischer Wille und sozialer Rückhalt aufgrund einer gemeinsamen Werteplattform könnten die Elemente der Gleichung sein, die es Cuba erlaubt haben, in der heutigen Form zu überleben und ein erstaunliches Maß an sozio-ökologischer Nachhaltigkeit, also buen vivir, zu erlangen. Dass dies auf Kosten persönlicher „Freiheiten“ oder „Verwirklichungen“ geht, ist sowohl in indigenen Strukturen wie in Cuba ähnlich, die Hierarchisierung des Gemeinwohls auf Kosten des Eigennutzes ist ein gemeinsames Element. Genauso wie jedeR Deutsche, InderIn, IndonesierIn oder wer auch immer auf der Welt hätte der/die CubanerIn auch gerne einen Privatwagen. Aber mittlerweilen wissen wir ja alle, dass pachamama das nicht aushält, und somit schielt der/die CubanerIn auf den weltweiten Mittelstand mit diesen und ähnlichen materiellen Standards, die aus ökologischen Gründen schlicht nicht für alle zu haben sind und wo der Staat Grenzen setzt. Viele CubanerInnen beklagen sich lauthals und oft über die materiellen Beschränkungen (aber fast noch öfter über die Unfähigkeit der eingerosteten Bürokratie), aber trotzdem unterstützt die überwiegende Mehrheit das System als solches und die Werte, die es vertritt, wie Gesundheit für alle, zetert dabei zwar über die Unzulänglichkeiten im Gesundheitswesen und ist sich doch im Klaren, dass die Alternativen nicht in einer Medizin nach Zahlungsfähigkeit liegen.

Nach Jahrzehnten ökologischer Debatte und furchtbaren Anzeichen der natürlichen Grenzen des Planeten gibt es kaum Beispiele von massivem und freiwilligem Konsumverzicht auf ein nachhaltiges Maß ohne gesetzlichen Zwang und politischen Willen. Das Streben nach unendlichem Profit und materiellem Wohlstand, ohne die sozialen und ökologischen Kosten zu berücksichtigen, wird ohne Autorität (Ältestenräte, Regierungen etc.) und veränderte Werte (und wer die mit welchem Ziel fördert) nicht aufhören und die Menschheit in den Abgrund reißen. Die globale Oberschicht und Mittelklasse wird keinen freiwilligen substanziellen Konsumverzicht leisten und die Besitzer der Produktionsmittel werden niemals von sich aus zu nachhaltiger Nutzung der natürlichen Ressourcen statt hoher kurzfristiger und zerstörerischer Profite die Hand bieten.

„Nur Stämme werden überleben“, haben StadtindianerInnen in den 80er Jahren auf europäische Hausmauern gesprüht. Stämme, in denen alle wichtig sind, Alte und Junge, Gesunde und Kranke. Stämme, in denen gearbeitet wird, um zu leben, und nicht gelebt wird, um zu arbeiten. Stämme, die auf ein gemeinsames Wertegerüst zurückgreifen, in dem sich kollektive und individuelle Interessen zumindest die Waage halten, indem die sozialen Interessen dem Markt klar übergeordnet sind (und in denen alle Nichtstammesmitglieder systematisch ausgeschlossen sind und als Nichtmenschen gelten – d. Säz.). An vielen Orten hat diese „Kraft der Menschenwürde“ ungeahnte Energien freigesetzt und ist für viele Menschen zu einem Orientierungspunkt geworden, einer Hoffnung auf eine bessere Zukunft. 

Cubanische EmigrantInnen haben zwei wesentliche Vorteile. Erstens bringen die meisten zehn Schuljahre und eine solide Ausbildung mit, im Unterschied zu mexikanischen LandarbeiterInnen oder indigenen Frauen, und haben deshalb mehr Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Eingliederung. Zweitens haben sie mit einem Fuß auf US-Gebiet als einzige Nationalität der Welt eine Aufenthaltsbewilligung und Arbeitserlaubnis (und ganz viele spanische Urahnen, was sie zu einem EU-Pass berechtigt). Und obwohl Zehntausende das Land verlassen – mit dem Traum des globalen Mittelstandes mit nicht nachhaltigem, materiellem Wohlstand – sind es Hunderttausende, die bleiben. Und von denen, die gehen, kommen nicht wenige wieder zurück und erzählen von hektischen Arbeitsalltagen, Kriminalität und rauem Klima, was die meisten der Hiesigen kaum glauben, ehe sie es nicht selber erfahren haben.

Cuba ist genauso wenig ein Paradies wie die Schweiz oder sonst ein Land, aber das einzige, das es geschafft hat, ohne seine ökologischen Grenzen zu überschreiten, Gesundheit, Bildung, ein Dach über dem Kopf, ein universelles Sozialversicherungssystem und anderes mehr zu gewährleisten. Und dies mit offener Feindschaft des mächtigsten Landes der Welt in unmittelbarer Nähe, bis hin zu Söldnerinvasionen und biologischem Krieg. Wenn dann nach langen und gerechtfertigten Lamenti über das Transportwesen, die fehlenden Wegwerfwindeln, die tiefen Löhne und das teure Bier die Diskussion auf mögliche Alternativen kommt, ist für die große Mehrheit klar: Sie wollen das hiesige verbessern, aber in den Wildwest- und Kasinokapitalismus, in dem sie bestenfalls ZuträgerInnen sind, wollen sie keinesfalls (wieder).