Die Reportagen des salvadorianischen Journalisten Oscar Martínez, die als „eine Geschichte der Gewalt“ auf Deutsch erschienen sind, kreisen allesamt um das Thema Drogenkriminalität, lassen Mittelamerika als Hölle auf Erden erscheinen und sind dennoch mehr als ein weiterer Beitrag zum Negativbild, das hier von der Region meist gezeichnet wird. Hinter den Chroniken stecken hartnäckige, monatelange Recherchearbeiten, sie berichten nicht nur von Tätern und Opfern, sondern auch von Menschen, die gegen die Zustände in ihren Ländern ankämpfen. So zum Beispiel Israel Ticas, Gerichtsmediziner in El Salvador, der nicht aufgibt und über Monate hartnäckig versucht, Mordopfer aus einem tiefen Brunnenschacht zu bergen, damit die Täter ihrer gerechten Strafe zugeführt werden können. Martínez portraitiert mutige Bandenmitglieder wie El Niño, die dem Verbrechen abschwören, sich in den Dienst der Strafverfolgungsbehörden stellen und gegen ihre alten Kameraden aussagen, oder Alfredo Che, den guatemaltekischen Bauernführer, der für die Rechte der Quekchi-Bauern im Petén eintritt, die in den Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Behörden und Verbrecherbanden zerrieben werden.
Martínez zeigt auf, wohin die mangelnde staatliche Entwicklung Mittelamerikas führt. Die Institutionen sind zu schwach, böse Zungen sprechen bereits von gescheiterten Staaten. Die Gesellschaften weisen enorme Ungleichheiten auf. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist marginalisiert und lebt in extremer Armut, während andererseits der immense Reichtum einiger weniger offen zur Schau getragen wird. All dies und die Nähe zu Mexiko und den USA machen empfänglich für organisierte Drogenkriminalität, die Korruption und Straflosigkeit zur Folge hat. Sie sorgt für eine allgemeine Verrohung, für blutige Konflikte und Gewaltexzesse, höchste Mordraten und Verbrechen an MigrantInnen, Frauen und Kindern. All dem hat ein bewusst neoliberal verfasster, schlanker Staat mit schwach gehaltenen Institutionen (Staatsanwaltschaften, Polizeibehörden, Gerichtsmedizin) kaum etwas entgegenzusetzen.
Drogenbanden und kriminelle Jugendgangs wie die salvadorianische Mara Salvatrucha bekämpfen den Staat und tyrannisieren die Gesellschaft. Sie missbrauchen ihre Länder als Einfallstor für Drogen nach Mexiko und in die USA und leisten mit ihren unvorstellbaren Gewaltexzessen und der Korrumpierung von Politik, Polizei und Strafverfolgungsbehörden ihren Beitrag zur Abwanderung von Millionen von Menschen, die sich auf nach Norden machen, um Gewalt und Verelendung zu entgehen. Und dies trotz der hohen Risiken für Leib und Leben, die sie auf dem Weg durch Mexiko auf sich nehmen, wo sie von Verbrecherbanden entführt, erpresst oder ermordet werden.
Oscar Martínez schreibt für ElFaro.net, die erste Online-Zeitschrift Lateinamerikas, und gilt als einer der renommiertesten investigativen Journalisten Mittelamerikas. In der genuin lateinamerikanischen Gattung der Crónica legt Martínez Zeugnis ab von den Zuständen in Mittelamerika. Sein Buch vereint Chroniken, die zwischen 2011 und 2015 erschienen sind. Es ist in drei Teile gegliedert: „Einsamkeit“, der erste Teil, steht für den abwesenden Staat, der ganze Regionen längst aufgegeben und der organisierten Kriminalität überlassen hat, der die Bevölkerung im Stich lässt und sie der Willkür von Kriminellen ausliefert. „Wahnsinn“ berichtet von der daraus resultierenden alltäglichen, sinnlosen Gewalt, vom brutalen Vorgehen der Jugendbanden, von ihren Rachefeldzügen gegen gegnerische Banden und gegen die wehrlose Bevölkerung, von Kronzeugen, die vom Staat im Stich gelassen werden, weil er nicht die Mittel hat oder willens ist, sie zu schützen. Teil 3, „Flucht“, berichtet von den Menschen, die der Hölle auf Erden entkommen wollen, sich Coyotes genannten Schleppern anvertrauen und sich auf den strapaziösen, teuren und gefährlichen Weg nach Norden begeben, von jungen Salvadorianern, die in Mexiko einem Massaker zum Opfer fallen, Frauen, die verschleppt und sexuell ausbeutet werden, von vielen dramatischen gescheiterten Fluchten und geplatzten Träumen.
Die spannenden Berichte erinnern an Reportagen und Erzählungen eines García Márquez, sie sind Zwitterwesen zwischen Fiktion und Realität, erzählendem Journalismus oder realistischer Erzählung. Dennoch erzählen sie nur das, was der Autor sieht, hört, recherchiert. Sie sind unbestechlich und schonungslos, für manche sicherlich eine Zumutung, vor allem aber unerlässliche Aufklärung. Denn Martínez legt den Finger in die Wunde, zeigt die Fehlentwicklungen in Guatemala, El Salvador, Honduras und Nicaragua auf, erklärt uns in erschreckenden Einzelheiten, warum die Menschen massenhaft die Flucht ergreifen.
Hölle auf Erden
Rezension zu „Eine Geschichte der Gewalt. Leben und Sterben in Zentralamerika“
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