Ich bin wie ein weites Land

Seit fast 50 Jahren ist das Schreiben ihre Berufung, so Gioconda Belli (Managua, 1948). Hier kennen wir sie seit rund 30 Jahren als Autorin spannender Werke wie des Romans „Bewohnte Frau“ (1988) oder der Autobiografie „Die Verteidigung des Glücks“ (2001). In Nicaragua wurde sie durch ihre frühen unbefangenen, erotischen Gedichte bekannt. Deren Verdienst liegt darin, in die Literatur Nicaraguas eine freimütige Sicht der Sexualität eingeführt zu haben. Und dies in einer sexistischen, machistischen Gesellschaft, die die Frau zum Objekt degradiert, ihre „ureigenste Menschlichkeit“ negiert.

Ihre ersten in „La Prensa“ gedruckten Gedichte sorgten für einen handfesten Skandal und machten sie zum „Casus Belli“ zwischen Parteigänger*innen und Gegner*innen. Letztere diffamierten ihr Werk als „Vaginalpoesie“ und regten sich darüber auf, dass eine Frau den männlichen Körper als Gegenstand ihres Verlangens darstellte. Nachzulesen ist dies im Vorwort zu dem neuen Essayband der Autorin, dessen Auswahl und Übersetzung Lutz Kliche für den Peter-Hammer-Verlag besorgt hat. Die vielen Essays und Artikel, die sie als Journalistin verfasste, gründeten, so Belli, auf ihrer Erfahrung als Aktivistin für die Rechte der Frau, als Guerillera und Mitglied der FSLN, als Regierungssprecherin, später als Kritikerin der Sandinistischen Befreiungsfront unter Führung von Daniel Ortega.

Die Texte stammen aus verschiedenen Zeiten und Kontexten. Leider hat der Verlag es versäumt anzugeben, wann und wo die Artikel erstmals erschienen sind. Aus welchen Kontexten sie hervorgegangen sind, bleibt den Leser*innen meist ein Rätsel. Die Texte könnten aber, so Belli, einen Beitrag zur Diskussion heutiger Probleme leisten.
Das Grundproblem für viele Missstände sieht sie in der Ungleichbehandlung von Frauen und Männern. Aus der Ausbeutung der Frauen durch die Männer seien Zustände erwachsen, die ein gewaltloses Zusammenleben zwischen verschiedenen Ethnien, Kulturen und Lebensentwürfen verhinderten. Die Themen der Artikel kreisen um die Beziehungen der Geschlechter, die Liebe der Autorin zu ihrer Heimat, deren Geschichte und Literatur, den Drang zum Schreiben, ihre Identität. Am interessantesten sind die Passagen, die Selbsterlebtes wiedergeben: Erinnerungen an Mutter und Großvater, Erlebnisse aus der Zeit des Kampfes gegen Somoza und aus dem Exil, Episoden aus der Revolutionszeit in den 1980er-Jahren und ihre Zeit in den USA nach der sandinistischen Wahlniederlage 1990.

Im Vorwort geht Belli auch auf die aktuellen Ereignisse in Nicaragua ein. Die Regierung Ortega-Murillo ist „seit April 2018 nach einer Reihe friedlicher Demonstrationen von einem autoritären Regime in eine blutige Diktatur umgeschlagen“, die hunderte Menschen getötet oder ins Gefängnis gesteckt und über 70 000 ins Exil getrieben habe. Kein gutes Haar lässt Belli an Vizepräsidentin Rosario Murillo. Der Machismo könne auch Frauen anstecken, „die männliche Rollen übernehmen und Macht ausüben, dabei zu ‚Machos‘ werden und manchmal noch grausamer damit umgehen als Männer“. Murillo sei eines dieser Beispiele. Sie sei „über den missbrauchten Körper ihrer Tochter Zoilamérica hinweg an der Seite ihres Mannes an die Macht gekommen“.

In Nicaragua hätten, wie in einigen anderen Ländern Lateinamerikas auch, linke Regierungen, die vorhatten, „eine Alternative zum globalisierten Kapitalismus und zum Neoliberalismus zu schaffen, mehr und mehr autoritäre Züge angenommen.“ Es sei unübersehbar, dass es die Linke trotz ihrer Erfolge, etwa bei der Armutsbekämpfung oder der größeren Beteiligung indigener Gruppen, immer noch nicht geschafft habe, sich so zu erneuern, wie es angesichts der Erfordernisse im 21. Jahrhundert notwendig wäre.

Die Stärken des schmalen Bändchens liegen eher in den poetischen und literaturhistorischen Schriften. Dazu passt auch das kurze, aber interessante Nachwort ihres Freundes Sergio Ramírez. Es handelt sich dabei um dessen Rede aus Anlass der Aufnahme Bellis als Ordentliches Mitglied in die nicaraguanische Akademie für Sprache und Dichtung am 20. August 2019. Ramírez liefert darin eine Einordnung ihres Werkes und ihrer Rolle in der nicaraguanischen Literatur, die bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine rein männliche Literatur war. Für eine Frau seien Schreiben und vor allem Veröffentlichen eine Unverfrorenheit gewesen. Erst die 1960er-Jahre brachten die Wende, immer mehr Frauen meldeten sich zu Wort. Bellis Gesamtwerk verorte sich jenseits aller Genres, sei „Teil unseres literarischen Kanons und des Kanons der Weltliteratur“ und habe „die nicaraguanische Literatur unvergänglicher gemacht“. Ein schönes Lob (auch wenn Ramírez wissen müsste, dass man „unvergänglich“ nicht steigern kann, d. Säz), das uns am Ende des Buches die Bedeutung der Dichterin nochmals klar aufzeigt.