Pieter, wann und wie bist Du in Dein Exilland Argentinien gekommen?

Zunächst einmal  war mein Vater, August Siemsen, als bekannter Antifaschist, ehemaliger sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter und später Führungsmitglied der SAP, der Sozialistischen Arbeiterpartei, nach der Machtübernahme durch die Nazis persönlich bedroht und gezwungen zu emigrieren. Er floh im April 33 in die Schweiz, meine Mutter und ich folgten ihm einige Tage später. Ich war dann vorübergehend in Südfrankreich als landwirtschaftlicher Gehilfe tätig, bin dann in die Schweiz zurückgegangen, wurde dort im Herbst 1934 wegen angeblicher „Belastung des schweizerischen Arbeitsmarktes“ ausgewiesen und mußte nach Deutschland zurück. Dort wurde ich zur Bewährung dem Arbeitsdienst zugeführt. Damals war ich Hilfsarbeiter in einer Fabrik, bis ich zum Militärdienst eingezogen wurde. Während meiner Zeit beim Militär ließ mir mein Vater, der inzwischen in Argentinien war, die Mitteilung zukommen, daß ich Deutschland so bald wie möglich verlassen möge, da die Nazi-Botschaft in Buenos Aires Recherchen über ihn und seine Familie anstelle und ich dadurch unmittelbar gefährdet sei. Als ich auf dem argentinischen Konsulat ein Visum beantragte, verlangte man dort ein lückenloses polizeiliches Führungszeugnis über die letzten 10 Jahre meines Lebens. Das konnte ich nicht beibringen, da ich in den vergangenen Jahren ja in verschiedenen Ländern gelebt hatte. Dann sei die Erteilung eines Visums nicht möglich, es sei denn, ich brächte ihnen einen Auszug aus dem Strafregister meiner Heimatgemeinde bei – alle Strafen, die man bekommen hat, werden dorthin  gemeldet –, das würde auch genügen. Das war für mich aber praktisch unmöglich zu beschaffen, denn das konnten nur Staatsanwälte oder Gerichte auf dem Dienstweg bekommen. Da ergab es sich, daß ich als Wehrpflichtiger in meiner Eigenschaft als Sanitätsgehilfe einen hohen Offizier, der in der Militärjustiz tätig war, eine Therapie geben mußte. Der interessierte sich scheinbar für mich und fragte, wo ich denn herkäme, wo meine Eltern lebten. Ich antwortete, die seien in Argentinien. Darauf fragte er, warum sie denn nicht zurück nach Deutschland kämen. Ich sagte, sie seien in Argentinien sehr bemüht, das Deutschtum zu vertreten, aber sie würden sich wahrscheinlich nicht mehr an die neue Zeit in Deutschland gewöhnen und seien da besser aufgehoben bzw. könnten für unsere deutsche Sache dort besser tätig sein. Darauf sagte er: „Ach reden Sie keinen Quatsch, Siemsen, ich hab Sie längst durchschaut, wissen Sie, wenn ich mal frische Luft atmen will, dann fahre ich in die Ferien nach Holland.“ Als er nachfragte, ob ich denn nicht zu meinen Eltern wollte, erzählte ich ihm, warum ich kein Visum bekommen könne, worauf er sagte, diese Bescheinigung aus meiner Heimatgemeinde Osnabrück könne er mir beschaffen. Die wurde dann tatsächlich auf dem Dienstweg herangeschafft, und ich bin durch diesen Mann, der sicher Anti-Nazi war, aber wahrscheinlich durchaus konservativ, im Herbst 1937 legal aus Deutschland herausgekommen. Die ganze Zeit meines Lebens in Nazideutschland zwischen 1934 und 1937 war ich entsprechend meinen Möglichkeiten im antifaschistischen Widerstand tätig und es grenzt an ein Wunder, daß ich den Nazis entkommen konnte. Ich wurde übrigens später zweimal von den Nazis ausgebürgert, einmal als Sohn meines Vaters, einmal in eigener Sache.

Was hast Du dann in Argentinien gemacht bzw. wie hast Du Dich in Argentinien integriert?

Ich hatte ja keine Berufsausbildung, ich hatte nur die Oberprima-Reife der Schule. In Argentinien bestand zu dieser Zeit noch ein ziemlicher Zusammenhalt unter den Emigranten. Im Juni 1937 war die Organisation „Das Andere Deutschland“ gegründet worden, deren Leiter mein Vater war. Einer der Emigranten aus diesem Kreis, Heinrich Bertzky, hatte ein kleines Unternehmen in der Heizungsbranche und stellte mich als Hilfsarbeiter ein. Ich war da eine ganze Weile, bis ich die Möglichkeit bekam, in einer Druckerei als Maschinensetzer angelernt zu werden. Das war der Betrieb von Ernesto Alemann, der das bürgerlich-antifaschistische „Argentinische Tagblatt“ herausgab und gleichzeitig auch der Organisator der Pestalozzi-Schule war, an der mein Vater unterrichtete. Da arbeitete ich eine längere Zeit, wobei man sagen muß, daß das Tagblatt ständig im Konflikt mit der Druckergewerkschaft stand, weil es die Gewerkschaft nicht als Verhandlungspartnerin akzeptierte und den Mitarbeitern des Betriebs die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft nicht erlaubte.

Schließlich hat die Gewerkschaft einen Streik gegen das Tagblatt und die Druckerei Alemann ausgerufen. Ich hatte damals die Leute von der Gewerkschaft gewarnt, ich habe ihnen gesagt, es habe gar keinen Sinn, einen Streik zu machen, der könne nie gelingen, weil die meisten Leute, die bei Alemann arbeiteten, Emigranten seien und kaum eine Chance hätten, woanders unterzukommen. Trotzdem mußten wir streiken, die Gewerkschaft verlangte es. Aber es war außer mir nur ein anderer, der dem Streikaufruf folgte. Wir wußten, daß es schiefgehen würde und wir unsere Arbeit verlieren würden. Ich fühlte mich aber verpflichtet, im Sinne des Internationalismus der Arbeiterbewegung der Gewerkschaft in Argentinien die Treue zu halten, aber in diesem besonderen Fall war es vielleicht doch nicht richtig, im nachhinein kann man das sagen, weil es ganz sinnlos war. Zudem war das „Argentinische Tagblatt“ unser Alliierter im Kampf gegen Hitler, unsere Zeitschrift wurde dort gedruckt und es gab auch sonst eine Zusammenarbeit. Es war also eine denkbar ungünstige Konstellation. Auf jeden Fall flog ich raus bei Alemann und arbeitete dann in verschiedenen Druckereien, war auch vorübergehend mal Lagerarbeiter in einer Kunststoffabrik, die einem jüdischen Emigranten gehörte.

Politisch habe ich mich – im Gegensatz zu vielen anderen Emigranten – gleich in die argentinische Arbeiterbewegung integriert, das ergab sich schon durch meine Arbeit. Ich war gewerkschaftlich tätig und Mitglied der Juventud Socialista Argentina, Sektion 13, das war eine bei den Parteigremien „berüchtigte“ Sektion, weil sie prosowjetisch und marxistisch orientiert war. Dann war ich natürlich Mitarbeiter des Anderen Deutschland. Ich habe mich mit einigen anderen Genossen besonders der Jugendarbeit gewidmet. Wir haben eine Jugendzeitschrift herausgegeben, „Heute und Morgen“, die zunächst hektographiert erschien, mit Originalschnitten und -graphiken des Malers Clement Moreau/Karl Meffert, mit dem wir sehr befreundet waren. Wir machten die in der Auflage von 200 Stück im Monat, „Heute und Morgen“ wurde dann später zeitweilig als Beilage in das Andere Deutschland integriert. Außerdem hatten wir eine sehr fruchtbare und aktive Kabarettgruppe, die „Truppe 38“, die sowohl vor argentinischem Publikum als auch vor antifaschistischen Deutschen auftrat. Die Veranstaltungen waren immer sehr gut besucht, es kamen bisweilen einige hundert Leute zu unseren Aufführungen. Eingenommene Eintrittsgelder überwiesen wir an das Hilfskomitee für die in Frankreich internierten Spanienkämpfer und auch an deutsche Antifaschisten, soweit man an die herankam.

Welches politische Spektrum war im Anderen Deutschland vertreten?

Zunächst war das Andere Deutschland im Sinne der Volksfront organisiert. Da waren drin die Kommunisten, ich möchte heute sagen die, die sich Kommunisten nannten, linke Sozialisten, wie mein Vater beispielsweise, Sozialdemokraten, Leute vom ISK, dem Internationalistischen Sozialistischen Kampfbund, ursprünglich eine sehr linke Gruppe der SPD, die sich dann aber immer mehr nach rechts entwickelte, ehemalige Sozialdemokraten, fortschrittliche bürgerliche Demokraten, die aber nicht aus der Arbeiterbewegung kamen, und schließlich noch eine Gruppe österreichischer Sozialisten, die auch in der Zeitschrift eine eigene Sektion und eigene Seiten hatten, also es war ein breites Spektrum antifaschistischer Emigranten.

Dies änderte sich mit dem Stalin-Hitler-Pakt, als die sogenannten Kommunisten das Ansinnen stellten, wir müßten nun die Agitation gegen Hitler einstellen, was natürlich ein Wahnsinn war, wir waren Emigranten, antifaschistische Emigranten, unsere Hauptaufgabe war es, soweit wir das aus der Entfernung konnten – wir haben unsere Bedeutung nicht überschätzt –, den antifaschistischen Kampf zu unterstützen. Und außerdem sagten die Kommunisten, wir müßten nun unseren Kampf gegen die britischen und französischen Imperialisten konzentrieren. Wir wußten zwar, daß das imperialistische Länder waren, aber sie waren in der Anti-Hitler-Koalition und deshalb konnten sie natürlich nicht unser Feinde sein, sondern waren damals Verbündete im Kampf gegen die Nazis. Also jedenfalls haben wir dem Ansinnen der Kommunisten nicht stattgegeben, sondern betrachteten den Kampf gegen Hitler weiterhin als unsere Hauptaufgabe. Wir sahen damals diesen berüchtigten Stalin-Hitler-Pakt als die logische Antwort der Sowjetunion auf die Politik von München, das heißt auf den Versuch Englands und Frankreichs, Deutschland gegen die Sowjetunion aufzurüsten mit dem Ziel, daß die Nazis die Sowjetunion besiegen, also die bolschewistische Gefahr liquidieren sollten, und nach einem solchen Krieg selber so geschwächt wären, daß sie innerhalb der kapitalistischen Welt keine ernsthafte Konkurrenz mehr darstellen würden. Wir waren damals der Meinung, die Sowjetunion habe diesen Pakt geschlossen, um das zu vereiteln, haben also die sowjetische Politik durchaus verstanden, daraus aber natürlich nicht den Schluß gezogen, im Kampf gegen den Nationalsozialismus nachzulassen. Jedenfalls verließ die kleine Gruppe der Kommunisten, eine Gruppe von Sektierern, die Volksfront des Anderen Deutschland und gabe vorübergehend eine eigene Zeitung, das „Volksblatt“, heraus.

Neben den politischen EmigrantInnen gab es ja in Argentinien sehr viele jüdische Flüchtlinge, die das Gros der EmigrantInnen stellten. Wie war Euer Verhältnis zu ihnen?

Also zunächst mal, ein Teil der jüdischen Emigration, der politisch aktive, war ja bei uns. Es gab natürlich die ganz große jüdische Emigration, die an sich unpolitisch war, die der Arbeiterbewegung, aus der wir ja kamen, fern stand. Ein Teil dieser Emigranten wurde durch die Ereignisse, dadurch daß die Nazis eben die Juden ausrotten wollten und eine große Gefahr für die Juden darstellten, in eine Richtung politisiert, in die sie sonst nie gekommen wären, so daß auch das Andere Deutschland von jüdischer Seite, auch von alteingesessenen jüdischen Geschäftsleuten, unterstützt wurde. Ohne deren finanzielle Beihilfen hätten wir das gar nicht aufrecht erhalten können, obgleich wir alle ehrenamtlich arbeiteten. Die jüdische Emigration hatte eine Reihe von Organisationen und Gesellschaften dort, zu denen wir entweder gar kein Verhältnis hatten, weil die sich für unsere politische Arbeit nicht so interessierten, oder aber ein gutes Verhältnis. Die jüdischen Emigranten Friedländer und Swarsensky gaben die deutschsprachige Jüdische Wochenschau „Semana Israelita“ heraus. In der Jüdischen Wochenschau erschienen nach Kriegsende einige Beiträge, die die Kollektivschuld aller Deutschen vertraten, eine Position, die wir immer verneint haben, weil es doch sehr viele Deutsche gab, die unter den Nazis gelitten und Widerstand geleistet hatten. In einem dieser Artikel hieß es, die Tatsache, daß August Siemsen ein anständiger Mensch sei, könne nicht als Feigenblatt für die deutsche Nation gelten. Daran kannst Du sehen, daß August Siemsen auch von den jüdischen Emigranten geschätzt wurde, die seinen Positionen fern standen.

Insgesamt war das Verhältnis zu der jüdischen Emigration wie gesagt gut. Ich selber bin mit einer Jüdin verheiratet gewesen, meine Frau war dort geboren, aber ihre Eltern waren österreichische Juden. Ich kam auch sehr viel mit Juden zusammen, meine besten Freunde waren damals eigentlich alle jüdischer Herkunft. Auch in Deutschland hatte ich schon mit vielen Menschen jüdischer Herkunft Kontakt, war mit ihnen im Widerstand tätig. Meine Freundin war Jüdin, sie wurde später von den Nazis als Widerstandskämpferin ermordet, ich konnte sie nicht retten.

Nach Ende des Krieges und dem Fall Hitlers ließ die jüdische Unterstützung für das Andere Deutschland dann sehr rasch nach. Da kamen natürlich die verschiedenen Ideologien oder Ziele zum Ausdruck. Wir waren Sozialisten, die Mehrheit der jüdischen Emigranten, vor allem die Wohlhabenden, waren natürlich keine Sozialisten, das ist ganz klar.

In Buenos Aires gab es traditionell eine starke deutsche Kolonie. Wie war sie politisch orientiert, und wie standet Ihr zu denen oder die zu Euch?

Es gab sehr viele Deutsche in Buenos Aires, in ganz Argentinien. Wir hatten zu der deutschen Kolonie, sagen wir mal zu der offiziellen deutschen Kolonie, gar keine Beziehung. Es ist ja so, daß die Auslandsdeutschen noch nationalistischer, noch chauvinistischer sind als die Deutschen in Deutschland selbst. Die überwältigende Mehrheit der deutschen Kolonie war damals profaschistisch und hatte Sympathien für Hitler. Aber es gab auch alteingesessene Deutsche, die liberal waren, fortschrittlich eingestellt, mit denen haben wir schon Kontakt gehabt, die haben uns auch unterstützt.

Am Ende des Krieges wurde das Andere Deutschland in Argentinien zur Entnazifizierung berufen. Dann kamen viele, viele Deutsche zu uns, die von uns einen Persilschein haben wollten. Wir hatten damals vorübergehend das Sekretariat voll von Leuten, die von uns entnazifiziert werden wollten, das war aber nur eine kurze Zeit, dann konsolidierten sich ja die alten Kräfte wieder.

Wie war das Verhältnis des Anderen Deutschland zur argentinischen Linken? Gab es da überhaupt ein Verhältnis?

Da gab es Kontakte, persönlicher Art. Wir haben uns in die argentinische Politik natürlich nie eingemischt, d.h. ich als Person schon innerhalb der sozialistischen Jugend, aber sonst offiziell niemals, das war klar. Wir hatten aber Kontakte zur Sozialistischen Partei und zu anderen Gruppierungen des Antifaschismus. Damals gab es eine große Zeitung in Buenos Aires, die „Crítica“, das war die größte und meistgelesene Zeitung, man würde sagen ein Boulevardblatt, aber sehr gut gemacht und mit sehr vielen linken Redakteuren, das war für uns eine Art Sprachrohr, die haben oft Beiträge von uns gegen Nazideutschland veröffentlicht.

Nach der Niederschlagung des Faschismus stand ja für alle Emigrantinnen und Emigranten die Frage an, ob sie zurückkehren sollten. War es für dich klar, daß Du zurückgehst und war es auch klar, daß Du in die DDR wolltest?

Für mich war das zunächst nicht klar. An sich war die Tendenz schon da, daß ich mit meiner Frau und meinen inzwischen geborenen Kindern, zwei Mädchen, nach Deutschland gehen wollte, das war an sich unser Ziel. Wir hatten uns allerdings schon in Tucumán in Nordargentinien, wo wir hin verschlagen worden waren, ein Häuschen gebaut mit der Absicht, vorübergehend dort zu bleiben und meine Eltern, die noch in Buenos Aires lebten, zu uns zu holen. Also die Option, in Argentinien zu bleiben, war auch drin, es war noch nichts fest entschieden. Aber dann ging unsere Ehe in die Brüche, meine Frau ließ sich von mir scheiden. Nach der Trennung war natürlich erst recht klar, daß ich nach Deutschland zurückwollte. Meine Töchter machen mir heute einen gewissen Vorwurf, daß ich damals nach der Scheidung weggegangen bin und sie verlassen habe. Ich hing sehr an Argentinien, die Mentalität der Menschen dort sagte mir sehr zu. Ich habe mich dort sehr wohlgefühlt und die 13 Jahre in Argentinien waren sicher die produktivste Zeit in meinem Leben. Klar war für mich von vornherein, wenn nach Deutschland, dann in die DDR. Meine Eltern hatten ja auch die Absicht, nach Deutschland zurückzukehren, konnten aber zunächst nicht reisen, weil mein Vater einen schweren Herzinfarkt hatte und reiseunfähig war. Als er wieder reisefähig war, siedelten sie 1952 nach Osnabrück über. 1955 sind sie ja dann aus Enttäuschung über die Restauration und Remilitarisierung in Westdeutschland auch in die DDR gekommen. Er ist 1958 in Ost-Berlin gestorben.

Wann bist Du in die DDR gekommen?

Anfang 1953. 1952 kam ich aus Argentinien nach West-Berlin, aber in die DDR kam ich erst 1953. Das war gar nicht so einfach. Ich bin da zuerst gegen Mauern gerannt, die DDR wollte mich gar nicht haben. Das war ja damals zur Stalinzeit, da war all das, was aus dem Westen kam, verdächtig. Letzten Endes bin ich schließlich nur durch Heirat in die DDR gekommen. Als ich 1952 ankam, waren noch vier andere Emigranten mit hier, die auch in die DDR wollten, u.a. Heinrich Bertzky, mein ehemaliger Chef in der Heizungsbranche. Es war gerade 1. Mai und wir wollten zur Maidemonstration nach Ost-Berlin. Ich schlug vor, ein Transparent zu machen, daß wir in die DDR aufgenommen werden wollen. Wir gingen dann tatsächlich zu fünft unter dem Transparent mit der Aufschrift „Wir bitten um Aufnahme in die DDR“. Unterwegs wurden wir mit großem Beifall bedacht, die Leute dachten natürlich, das wäre bestellt, kein Mensch hat geglaubt, daß das echt war, das war ja die Zeit, wo die große Auswanderung aus der DDR war. Ich war übrigens der einzige von den fünf, der schließlich in die DDR kam, die anderen sind zurückgegangen nach Argentinien.

Hier habe ich dann lange Zeit in einem großen Verlag als Spanisch-Redakteur gearbeitet, war zeitweilig verantwortlich für die Herausgabe einer Wirtschaftszeitung, dann habe ich in verschiedenen Ministerien Spanisch-Unterricht gegeben, war auch mal freiberuflich tätig, habe immer Dinge gemacht, die mit der spanischen Sprache zu tun hatten. Ich bin auch verschiedene Male nach Südamerika gefahren, als Begleiter, Übersetzer bzw. Presseverantwortlicher für DDR-Wirtschafts- und Messedelegationen und 1968 als Begleiter der ersten DDR-Olympiamannschaft in Mexiko.

Hattest Du außer Deiner beruflichen Tätigkeit auch weiterhin Bezug zu Lateinamerika und LateinamerikanerInnen?

Ich habe mich immer engstens mit Lateinamerika verbunden gefühlt und habe diesen Kontakt stets in den Vordergrund meines Lebens gestellt. Ich hab mich eigentlich auch immer als Lateinamerikaner gefühlt. Ich hatte hier stets Kontakt zu lateinamerikanischen Kreisen, vor allem zu Studenten, die wir ein wenig betreut haben. Hier bei uns waren ständig Südamerikaner zu Besuch. Siemsen war eine bekannte Adresse in Berlin, wenn man mal nicht unterkommen konnte, kam man hier unter. Dann kam ich 1960 mit den Kubanern zusammen, das war zu der Zeit, als die Kubaner hier nur eine Handelsmission hatten. Ich hatte mich damals mit dem Leiter der Handelsmission angefreundet, und wir haben dann hier eine Zeitschrift gemacht: „Kuba-Information“, die ich ehrenamtlich redigiert habe. Das war eine sehr ansprechend gemachte Zeitung mit vielen Fotos und interessanten Textbeiträgen. (Der Interviewer, der einige Exemplare gesehen hat, kann das nur bestätigen – G.E.) Aber das ist mir im Grunde in der DDR übelgenommen worden, wie ich später erfahren habe, denn an sich durfte ich das gar nicht, ich war ja gar nicht befugt, da ich keine bestimmte Funktion hatte und nicht zu einer bestimmten Kategorie, zu einer bestimmten Nomenklatur gehörte. Wenn man mich heute fragen würde, was war denn die DDR, eine Republik, eine Diktatur oder was, dann würde ich sagen ein Nomenklaturenstaat mit einem übersteigerten Personenkult, und wenn man zu einer bestimmten Nomenklatur nicht gehörte, hatte man auch kein Recht, bestimmte Dinge zu tun.

Das klingt verbittert. Hast Du Deine Übersiedlung in die DDR bereut?

Als ich nach meiner Rückkehr aus Argentinien nach Berlin kam und die rote Fahne über dem Brandenburger Tor sah, da kamen mir die Tränen. Aber dann habe ich die Erfahrung machen müssen, daß es in der DDR eben nicht wo war, wie ich mir das vorgestellt hatte. Es hat sich dann mit der Zeit auch herausgestellt, daß ein großer Teil meiner Arbeit hier an sich sinnlos war. Ich möchte heute sogar soweit gehen zu sagen, daß die von mir enthusiastisch, mit Emotion betriebene und mit gewaltigen Ideen und Gedanken verbundene Übersiedlung in die DDR das Ende meiner schöpferischen politischen Tätigkeit war. Ich hab immer davon geträumt, in einem Kollektiv, in einem guten Kollektiv für den Sozialismus arbeiten zu können. Ich bin einem Irrlicht nachgerannt. Ein großer Teil meiner Arbeit, meines Strebens war völlig sinnlos, nur für den Papierkorb, es wurde nicht einmal zur Kenntnis genommen. Vieles wurde mir erst klar, seit Gorbatschow in der Sowjetunion einige Dinge aufgedeckt hat. Für mich war auch die Sowjetunion ein unantastbares Heiligtum, durch Gorbatschow bin ich überhaupt erst skeptisch geworden, dann habe ich nach und nach erkannt, in welcher Situation ich mich eigentlich befunden habe, daß ich eigentlich an meinem Leben vorbeigegangen bin, seit ich nach Deutschland zurückgekommen bin. Eine Sache, die mich besonders verbittert hat, war die Darstellung August Siemsens und des Anderen Deutschland in der Geschichtsschreibung der DDR. August Siemsan war nun mal die überragende Figur des antifaschistischen Kampfes in Südamerika, und er war ja nun mal nicht Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen. In der DDR durften aber nur die Kommunisten etwas Gutes gemacht haben, und entsprechend wurde die Arbeit meines Vaters und des Anderen Deutschland – mit wenigen rühmlichen Ausnahmen – diffamiert und entstellt. Darunter hab ich sehr gelitten, denn ich hab mich sehr bemüht, das richtigzustellen, nicht um der Toten willen, denn es ist völlig unwichtig, ob nun August Siemsen genannt wird, er hat seine Arbeit getan, aber es tut mir um die Lebenden leid, daß sie die Geschichte entstellen, daß sie Geschichtslügen verbreiten, daß sie willkürlich – ohne jemand damit zu dienen – die Tatsachen entstellen, und da hab ich einen vergeblichen Kampf geführt hier, jahrelang in der Meinung, die Wahrheit ist das, was uns dient, was uns nützt, und habe nicht gewußt oder nicht geahnt oder zu spät ekannt, daß das alles völlig sinnlos war.

Pieter, ich danke Dir für dieses Gespräch.