Gibt es einen Moment, an dem Du den Anfang Deiner Malerei festmachen würdest? Wie hat das alles angefangen?
Was der Ursprung meiner Neigung zum Malen ist, kann ich so direkt nicht sagen. Klar könnte ich mich erinnern an irgendeinen bestimmten Moment, an dem ich angefangen habe zu malen, aber ich glaube, da gibt es etwas noch weit dahinter Liegendes, viel konkreter als die realen Erfahrungen – das, was man erlebt. Ich weiß nicht: irgendetwas weit Zurückliegendes. Wenn ich mit meinem Sohn rede, habe ich manchmal dieses Gefühl, daß wir so etwas wie Medien sind, daß wir an etwas Gemeinsamem, an etwas Universellem teilhaben. Und dieses Gefühl wird stärker, je älter ich werde. Deswegen will ich diesen ersten Moment, den Anfang, eigentlich nicht genau festlegen. Ich denke, da war schon immer etwas in mir. Daraus erklärt sich ja auch viel besser die bleibende Motivation zum Malen. Von Kindheit an hatte ich eine bestimmte Art, die Dinge zu sehen und zu fühlen, nicht nur die sichtbaren Dinge, sondern alles. Sie haben in mir eine Art bildliche Resonanz, wie bei anderen vielleicht die Worte oder der Klang hängenbleiben. Bei mir verwandeln sich die Realität, Erfahrung, Gefühle, Denken ständig in Bilder. Daher kommt dann auch das Bedürfnis, mich in dieser Weise wiederum auszudrücken. Schon als kleines Mädchen habe ich gemalt, irgendetwas konstruiert, Farben und Formen assoziiert. Daneben gibt es natürlich auch andere Faktoren.
Wie sah es dort aus, wo Du als kleines Mädchen aufgewachsen bist? Erinnerst Du Dich an irgendeine Erfahrung, die Dich besonders geprägt hat?
Mein Vater war kein Künstler im eigentlichen Sinne, aber er hatte diesbezüglich eine ziemlich große Sensibilität. Mein Vater war Naturwissenschaftler, jemand, der wissenschaftlich an die Sachen heranging. Jemand, der gleichzeitig sehr fasziniert von seiner Materie und sehr einfach war. Als ich klein war, lebten wir auf dem Lande in einem Ort in der Nähe von Santiago namens Maipo. Dort verbrachte ich meine Kindheit bis zum neunten oder zehnten Lebensjahr. Es war eine absolut wunderbare Kindheit. Ich hatte eine ganz intensive Beziehung zur Natur, hatte viel Freiheit, konnte mich bewegen und entfalten, wie ich wollte.
Eines Tages, ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich damals war, kam mein Vater auf die Idee, unser Zimmer zu renovieren. Wir hatten ein einfaches Haus, so eins aus Ziegelsteinen, aber ziemlich groß. Das Tolle war, daß draußen sehr viel Platz war. Alles war voller Bäume, Bienen, Hunde, Tiere, ein Pferdestall. Mein Vater renovierte also unser Zimmer und malte dabei ein Wandbild. Ich war hin und weg: zuzusehen, wie mein Vater gegenüber den Betten von meiner Schwester und mir die beiden Wände bemalte mit Burgen und Feen und Geistern und allen möglichen Tieren und was weiß ich noch. Das war unglaublich schön. Sein Zeichnen hatte so etwas Besonderes, halb realistisch, halb phantastisch. Mit viel Präzision, denn er war ja Ingenieur, der sich auf technisches, architektonisches Zeichnen verstand, und trotzdem lag unheimlich viel Phantasie drin. Dieses Wandbild hat mich die ganze Zeit über, die ich in jenem Haus lebte, begleitet. Klar, wir hatten auch Bücher und so. Aber natürlich weder Radio noch Fernsehen oder diese, wie soll ich sagen, Dummheiten, die die kindliche Phantasie ablenken anstatt sie anzuregen.
Wie alt warst Du, als all das passierte?
Ich erinnere mich, daß sich die Figuren auf dem Bild für mich bewegten. Das heißt, ich befand mich ständig vor einer Bühne. Im Laufe der Jahre entwicklete sich dieses Bild. Ich war vielleicht vier, als es entstand. Mit anderen Worten, es hat mich sechs, sieben Jahre lang begleitet. Ich habe mit meiner Schwester immer kommentiert, was die Figuren machten, wie sie sich bewegten. Sie hat nie das Gleiche gesehen wie ich, deswegen haben wir uns gegenseitig immer über unsere Sichtweisen ausgetauscht.
Unglaublich, daß es einen Moment im Leben kann, in dem plötzlich verschiedene Erfahrungen zusammenkommen und einen gemeinsamen Sinn machen. Wahrscheinlich siehst Du das auch so ähnlich…
…viel später habe ich mich an diese Kindheitsgeschichte mit dem Wandbild erinnert, und ich habe eine Menge verstanden. Eine andere Geschichte, ein anderes sehr, sehr schönes Bild, das mich bis heute begleitet, ist folgendes: Unser Haus stand an einer Straßenkurve, die sozusagen ins Niemandsland führte, in Richtung auf ein anderes Dorf. Das Haus folgte praktisch dicht auf eine scharfe Kurve. Die Eckfront des Hauses mit Blick auf diese Kurve war ganz aus Glas. Wie ein Haus von Hopper, diesem nordamerikanischen Realisten mit diesen ebenso magischen wie poetischen Bildern. Abends haben wir uns oft mit der ganzen Familie, eingeschlossen mein Vater und meine Mutter, dort hingesetzt, „um Filme zu sehen“, wie wir sagten. Wir drei oder vier auf dem Sofa, das extra für diese Art Kino dort stand. Der „Film“ begann in dem Moment, wenn ein Auto sich näherte und die Scheinwerfer auf der Wand reflektierten. Jeder „Film“ dauerte vielleicht ein oder zwei Minuten, von dem Moment an, wenn der Scheinwerfer auftauchte. Und dann vielleicht fünfzehn Minuten Pause bis zum nächsten Auto. Da saßen wir also manchmal stundenlang und haben am Ende vielleicht fünf „Filme“ geshen. Jeder Film, jeder Widerschein war verschieden, obwohl die Umgebung, die Bäume ja immer gleich waren. So etwas nachts mitzuerleben ist für ein Kind faszinierend. Auch das habe ich nie vergessen, die Reinheit, die reine Phantasie und etwas ganz Natürliches: das Licht, ohne jedes weitere technische, abstrakte oder mechanische Element. Einfach das zu nehmen, was da war, das hatte überhaupt nichts Mystisches, im Gegenteil: gegeben waren ja reine physische Realitäten, mit lauter poetischen Elementen.
Hast du einfach so angefangen zu malen, oder hast Du parallel studiert, oder wie lief das damals?
Ich habe Pädagogik studiert, besser gesagt: ich habe mir herausgenommen, Pädagogik zu studieren, denn es gab einige Konflikte mit meinem Vater. Denn er hatte zwar eine Menge guter pädagogischer Ansichten, aber im Grunde wollte er, daß wir so etwas wie Medizin oder Ingenieurwissenschaft studierten. Genau deswegen habe ich das ausgesucht, was mir nahe lag, zu mir paßte und mich interessierte, und das war Pädagogik. Gott sei Dank war die pädagogische Ausbildung in Chile sehr gut. Ich weiß nicht, wie sie heute ist. Daß ich Pädagogik studierte, hieß nicht, daß meine Malereiausbildung nicht auch sehr gut oder fast genauso gut war. Im Mittelpunkt stand die Ästhetik, mit denselben Professoren. Ich hatte Unterricht nicht nur in Malerei, sondern auch in geometrischem Zeichnen, Perspektivenzeichnen usw., alles Dinge, die noch heute fester Bestandteil meiner Malerei sind und aus dieser Zeit stammen. Die Ausgangsidee war damals, daß jemand, der/die Unterricht in Malerei gibt, auch eine Reihe von Techniken beherrschen muß. Der praktische Unterricht darin hat mir sehr geholfen. Dann habe ich aus eigenem Antrieb zwei Jahre lang Malunterricht bei einem in Chile ziemlich bekannten und meiner Ansicht nach exzellenten realistischen Maler namens Thomas Dascan, einem Nordamerikaner, der seit seiner Jugend in Chile lebte, genommen. Er hat mir beigebracht, wie man mit Licht arbeitet, hat bei mir das Interesse an den realen Formen der Dinge geweckt, an ihrem Umfang, und am menschlichen Körper. In jenen zwei Jahren habe ich gelernt, mit Öl umzugehen. Das habe ich sozusagen zusätzlich zum Unistudium aus persönlichem Interesse gemacht, auch wenn ich damals nicht vorhatte, Malerin zu werden, keineswegs. Ich wurde Lehrerin, um irgendwomit Geld zu verdienen. Aber irgendetwas hat mir gesagt, daß ich auch etwas für mich selbst tun mußte, auch wenn es nicht direkt einen Zweck hatte.
Mit anderen Worten, das war gar nicht so klar… Erinnerst Du Dich trotzdem an einen Zeitpunkt, an dem Du merktest, daß Malen für Dich das Richtige ist?
In dieser Zeit war ich ziemlich stark absorbiert von der Uni, und nebenbei zwei, drei Jahre lang Privatstunden, das ist nicht einfach. In der Zeit der Unidad Popular dann gab es diese unwahrscheinliche kollektive Motivation der KünstlerInnen, aktiv zu werden. Damals entstanden die Wandbilder. Es wurde unheimlich viel mit Druckgrafik gearbeitet, denn sie war sehr notwendig, genau wie die Buchproduktion. Es ging darum, so viel wie möglich und so billig wie möglich zu verbreiten. Jeder sollte zu diesen Dingen Zugang haben. Das unterbrach meine Phase der Malerei als einsamem, individuellem Arbeiten, und ich begann, mit anderen Mitteln zu arbeiten. Ich habe zwar nicht grafisch gearbeitet, aber ich begann mich zu beteiligen an dem, was man „Kunst auf der Straße“ nannte. In der Zeit hatten auch die Inhalte selbst meiner Bilder mit diesem Prozeß zu tun. Es sind Bilder, die Szenen des alltäglichen Lebens der Leute zeigen, in denen emotional sehr viel steckt, die poetisch sind. Mir wurde damals klar, daß ich meine Ideen nicht in irgendwelchen Entwürfen für mich selbst verschwenden durfte. Daher kaufte ich mir Sperrholzplatten, das war das Billigste und hatte trotzdem eine hervorragende Oberfläche. Ich trug die Grundierung auf und malte dann in Öl.
Und wo sind diese Bilder?
Leider konnte ich sie später nicht mitnehmen, denn sie waren ja unheimlich schwer. Wenn ich gewußt hätte, daß ich irgendwann das Land verlassen müßte, hätte ich natürlich mit Leinwand gearbeitet, die man aufrollen kann. Aber meine Bilder waren sozusagen Möbel, zehn Stück hatte ich vielleicht bis zu meiner Abreise gemacht. Eins, an dem ich arbeitete, habe ich mitgenommen. Wir haben es oben auf’s Auto gebunden, als wir nach Argentinien fuhren. Durch’s Fenster hielt ich die Bindfäden fest, damit es nicht wegflog. Im Flugzeug von Argentinien nach hier war’s nochmal schwieriger, weil das Bild so groß war. So etwas war vollkommen ungewöhnlich. Aber sonst habe ich nicht viel mitgenommen, um die Sache nicht zu verkomplizieren.
Nur zwei Dinge mußte ich unbedingt mitnehmen: dieses Bild und meine beiden Kinder, die damals sechs und acht Jahre waren. Hier kamen sie mit sieben und neun an. Sie habe ich nirgendwo zurückgelassen. Antonio Skármeta, mein Mann, war schon vorher gegangen, weil er glücklicherweise ein Projekt mit Peter Lilienthal hatte, das uns in jener Zeit aus Chile rettete bzw. uns die Möglichkeit gab, aus Chile herauszukommen. Er hatte damit Arbeit und so wenigstens schon einmal ein Minimum an Rückendeckung. Wir brauchten daher kein Asyl zu beantragen, dank Lilienthla, der ein großartiger Mensch ist. Er flog schon nach Buenos Aires, und ich schob meine Abreise noch etwas auf, weil mein Vater im Sterben lag. Er hatte seit zwei Jahren Krebs, und wir waren auf seinen bevorstehenden Tod vorbereitet. Trotzdem war es ein schlimmer Augenblick. Einen Monat später, nach dem Tod meines Vaters, kam ich dann nach.
Zufääligerweise war damals eine ehemalige Schulkameradin, Marinela, aus der Zeit, als ich dreizehn oder vierzehn war, in Chile. Sie hatte sehr jung geheiratet und war nach Argentinien gegangen. Just zum Zeitpunkt des Putsches war sie auf Besuch in Chile. Sie hatte einen Citroen, eine Ente, ein ziemlich instabiles Ding, aber damit sind wir bis Buenos Aires gekommen. Wir zwei, vier Kinder und das Bild auf dem Dach. Ich kann mich an einige vorausgehende Diskussionen erinnern: ich solle doch andere Dinge mitnehmen. Aber ich habe das Bild einfach nie losgelassen. Es blieb immer bei mir.
Wann hast Du Chile verlassen? Lange nach dem Putsch?
Der Putsch war im September. Wir verließen Chile im Februar des folgenden Jahres. Es gab zwar bis zu diesem Moment keine direkte Bedrohung weder gegen mich noch gegen Antonio, der zu dieser Zeit schon eine ziemlich bekannte Figur war. Er hatte Programme im Radio und im Fernsehen, erschien sozusagen täglich vor dem Publikum. Ich war ebenfalls in der Schule sehr aktiv. Wir machten Propaganda für unsere Partei, die MAPU.[fn]MAPU: Movimiento de Acción Popular Unitaria (Bewegung für Volkseinheit)[/fn] Die Bedrohung war noch nicht direkt, aber sie lag in der Luft. Die Repression richtete sich in den ersten Monaten oder im ersten Jahr gegen die politische Führung, nicht nur gegen die vormaligen Regierungsmitglieder, sondern gegen alle diejenigen, die in den Parteien oder in der Volksbewegung einen Namen hatten. Zunächst gab es keine direkte Repression gegen Intellektuelle. Zuerst standen die Gewerkschaften, diejenigen, die in den Poblaciones arbeiteten, in der Schußlinie. Die Intellektuellen, die KünstlerInnen kamen erst später dran.
Eine Repression, die sich allmählich steigerte, wo sich der Kreis immer enger schloß…
Wir spürten das. Unsere Familie hatte Angst. Und außerdem sagte die Partei zu Antonio: „Es ist nötig, daß du so bald wie möglich das Land verläßt, ehe die Situation noch schwieriger wird.“ Lilienthal hat sich praktisch des Falles angenommen und uns aus dem Land geholt. Antonio war damals nicht nur sein Arbeitskollege, sondern auch so etwas wie sein Schützling. Er mochte ihn und uns sehr. Daß alles so einfach ging, keine Flucht in eine Botschaft oder ähnliches, haben wir ihm zu verdanken. Wir sind sozusagen legal ausgereist.
Und die Angst?
Die Angst war nicht sehr groß. Es war eine andere Art starkes Gefühl. Wie soll ich sagen? Wir litten alle unter derselben Sache. Es war etwas, das die ganze Nation erfaßt hatte, eine kollektive Problematik. Ich glaube, Angst hat meistens mehr mit Isolation zu tun, mit Schutzlosigkeit, mit der Ohnmacht des Menschen, der sich selbst überlassen ist. Aber in dem Maße, wie alle davon erfaßt sind…, außerdem redeten wir ja die ganze Zeit darüber, tauschten uns über diese Katastrophe aus. Ich glaube, das hilft. Zudem bin ich nicht von Natur aus ängstlich.
Es heißt auch, daß die Kinder den Müttern helfen, die Füße auf dem Boden zu halten, und vielleicht waren sie auch in dieser Hinsicht eine Hilfe?
Vielleicht gibt es in puncto Angst noch etwas anderes gerade bei Frauen: das Gewissen. Du weiß, daß, wenn du Angst hast, deine Kinder das spüren. Die Kinder kriegen jedes Symptom mit. Das ist Frauen praktisch angeboren. Das trägt dazu bei, daß du als Frau irgendwoher Kräfte schöpfst, ohne zu wissen, woher. Das passiert in Kriegszeiten in der Umgebung von Kindern sehr oft. Man meint, man hält es nicht aus, aber nein, man ist fähig zu unglaublichen Kräften und unendlicher Energie, um bestimmte Situationen zu meistern. Das zu entdecken ist phantastisch. Das hat viel mit der Entwicklung im Exil zu tun. Wir haben oft darüber gesprochen: bis zu welchem Punkt ist man in der Lage, immer noch weitere Energie in sich zu entdecken. In Grenzsituationen kann man unendlich viel mehr als das, was man sich normalerweise zutraut. Auch Kinder kriegen viel mehr mit, wissen und können viel mehr, als die Erwachsenen glauben. Das ist ganz phantastisch, wie die Kinder reagieren, nicht nur meine, sondern ganz allgemein Kinder. Das Drama der Kinder im Exil ist nie besonders tiefgreifend und über Einzelfälle hinaus untersucht worden, aber das müßte man noch machen. Das Überleben chilenischer Kinder imm Exil ohne größere Schäden ist ein ganz außergewöhnliches Phänomen. Es sind viel mehr Erwachsene psychisch oder physisch am Exil zerbrochen als Kinder und Jugendliche. Das ist ein Beweis dafür, daß Angst nicht der primäre Faktor in diesen Umständen ist, sondern etwas anderes.
Ich selbst kann mich nicht daran erinnern, ernsthaft Angst gehabt zu haben. Klar, dabei muß man natürlich auch sehen, daß ich nie direkt bedroht wurde. Das ist mir nie passiert. Innerhalb der Familie gab es ein paar Fälle, tja, und dann im Freundeskreis jede Menge. Antonio und ich blieben von direkten Angriffen verschont. Vielleicht haben wir auch einfach nur unheimlich viel Glück gehabt.
Wie waren diese ersten Jahre in Berlin?
Ich glaube, daß diese Jahre für uns viel mehr von integraler, umfassender menschlicher Bilduzng beinhalten als die ganze Kindheit, die Schulzeit, alles andere zusammen. Selbstverständlich muß man dazusagen, daß es dieses alles ja vorher gegeben hat. Die einfache Erfahrung an sich ist nichts Akademisches, nichts, das man sich mit viel theoretischer Arbeit erwirbt.
Viele Jahre lang hast Du in Deinen Bildern Heinweh und das Exil ausgedrückt, nicht nur in Deinen Bildern, sondern in all Deinen Aktivitäten…
Klar, solange ich spürte, daß das Exil noch dauern würde, also in etwa genauso lange, wie ich das Exil malte, war mein einziger Wunsch zurückzukehren. Das war ein ständiger Wunsch, Tag für Tag. Man erlebte immer in Erwartung von Nachrichten, von Briefen von dort. Mit anderen Worten, man lebte in einer Art schizophrener Wirklichkeit, mehr dort drüben als tatsächlich hier. Irgendwann wurde mir klar, daß ich gleichsam eine Erfahrung vergeudete in dem Maße, wie ich mich nicht direkt dem Leben dort aussetzte und gleichzeitig den Alltag vor meinen Augen hier nicht wahrnahm. Dann wurde mir auch bewußt, daß ich irgendwann anfangen mußte, die Wirklichkeit hier zu mögen – nicht mögen zu müssen, aber mich mit ihr auseinanderzusetzen. Nicht mich zu assimilisieren, denn ich habe nie danach gestrebt, mich komplett meiner Umgebung hier anzupassen, das natürlich nicht, aber eine Brücke zu finden, einen lebendigeren Zugang zur Welt hier, statt weiter in die Erinnerungs- und Nostalgieecke zurückgezogen zu leben und von der Rückkehr zu träumen. Das bedeutet einen qualitativ ganz anderen Zugang, das heißt, dich dem, was dich täglich umgibt, zu öffnen, dich mit dem Leben der Leute zu befassen, überhaupt die Leute dir gegenüber an dich heranzulassen.
Ab wann spürst Du diese Veränderung? Wann beginnt dieser Prozeß, wo Du neue Wege siehst, neue Formen zu leben, einen neuen Umgang mit dem, was dich umgibt?
Das war etwa zur gleichen Zeit wie die Trennung von meinem Mann. Zudem waren meine Kinder inzwischen groß geworden und konnten ihrer eigenen Wege gehen. Sie konnten also schlicht weggehen, die Familie löste sich damit sozusagen auf. Das heißt, auch persönlich traten Veränderungen ein. Ich wollte zunächst einmal allein sein, an meinen Sachen arbeiten. Natürlich hatte ich auch vorher schon Beziehungen zu Freunden, sehr gute Beziehungen, die mir Möglichkeiten zum Brückenbauen gegeben hatten. Mir ist sehr bewußt, daß viel mehr als meine eigene Initiative vor allen Dingen Leute, Freunde ausschlaggebend dafür waren, daß ich Zugang zu dem Leben hier gefunden habe. Das Affektive ist sehr, sehr wichtig, um den Weg machen zu können vom versteiften, einsamen Rückzug auf sich selbst bis zum Entschluß, die Einsamkeit aufzugeben und auf diese Welt zuzugehen.
Soll das bedeuten, daß Chile nicht mehr das zentrale Anliegen ist?
Ich will damit sagen, daß es dabei dann niht mehr darum geht, sich nur unter ChilenInnen zu bewegen, wo alle Gespräche um Chile kreisen. Mein soziales Umfeld ist viel breiter. Wenn ich irgendetwas mit anderen zusammen in der Öffentlichkeit mache, was ich zwar immer weniger tue, aber es kommt trotzdem vor, dann interessieren mich Leute – Leute, die so ähnlich sind wie ich.
Das heißt…
…das sind zur Zeit in erster Linie andere Ausländer in Berlin, in zweiter Linie Frauen. Oder besser gesagt, umgekeht: zuerst die Frauen. Diese beiden Faktoren sind fundamental. Wenn ich irgendetwas gemeinsam mit anderen mache, müssen diese beiden Faktoren gewährleistet sein, sonst fühle ich mich nicht zugehörig, kann ich mich nicht identifizieren. Ich könnte mich zum Beispiel, sagen wir in Chicago, nicht wohlfühlen in einer Gruppe, die schlicht aus Künstlern besteht, aus deutschen Künstlern und Schluß aus. Auch nicht schlicht aus deutschen Frauen und sonst nichts. Da fehlt etwas. Es müßten schon Künstlerinnen sein, das Ideale wären natürlich ausländische Künstlerinnen. Nur unter deutschen Künstlern würde ich mich fremd fühlen.
Das ist so, als hättest Du den Raum gefunden, um Dich auszudrücken. Ich frage mich, ob Du irgendeinen Traum hast, von dem Du weißt, daß Du ihn nicht wirst erfüllen können, irgendetwas, das gescheitert ist, eine Niederlage…
Sicher, ich habe Träume, politische, soziale Träume. Denn ich bin Tocher einer Bewegung, die nach einer Utopie strebte, und das bleibt haften. Ja, das ist ein Traum, den ich habe. Ich meine damit die Lösung von … hach… Deine Frage ist so schmerzhaft … (beginnt zu weinen) … klar, der Traum ist diese Utopie … und unglücklicherweise ist er so … in letzter Zeit … Wir leben in einer Zeit von soviel Haß und Zerstörung. Und die Hoffnungen fehlen… Das ist das Problem.