Das Lateinamerika-Magazin

Ich wäre auch gern Chinese

Interview mit dem deutsch-chilenischen Schauspieler und Theaterautor Peter Lehmann

Du trägst den deutschen Namen Peter Lehmann, bist aber Chilene. Kannst du etwas über deine Herkunft und deine Familie erzählen?

Heute sage ich: Ich war Chilene, ich war Deutscher. Ich neige inzwischen zum kitschigen Begriff „Mensch in der Welt“. Meine Eltern kommen beide aus Berlin und gingen 1937 von dort nach Chile. Mein Vater war ein stinknormaler deutscher Deutscher. Ganz stinknormal vielleicht nicht, weil er wegging in dieser Zeit. Und zwar, weil er mit meiner Mutter, einer deutschen Jüdin, zusammenlebte. Mein Vater fuhr vor nach Chile – weil meine Mutter nicht das Geld hatte, die teuren Visa für Juden zu kaufen, mit denen die Botschaften in dieser Zeit Geschäfte machten. Da mein Vater als deutscher Deutscher problemlos eine Aufenthaltsbewilligung für Chile bekam, konnte ihn meine Mutter auf der Durchreise von Buenos Aires nach Peru heiraten und durfte dann auch bleiben. Kurz danach kam in Chile die Volksfront unter Pedro Aguirre Cerda an die Regierung, und die Haltung gegenüber den Flüchtlingen, auch die aus dem Bürgerkrieg in Spanien, wurde freundlicher. So kam ich dazu, 1943 in Santiago geboren zu werden und nicht in Berlin.

In welcher Sprache bist du aufgewachsen, was wurde zu Hause gesprochen?

Spanisch. Mein Vater hatte ein Riesenproblem mit den Deutschen. Seine Emigration war eine Art von persönlicher Verletzung. Möglicherweise hatte das damit zu tun, daß mein Opa ein sehr autoritärer Mensch war, vielleicht auch Sympathien für die Nazis hatte. Das konnte mein Vater nicht ertragen. Deshalb nahm er, sobald er es konnte, die chilenische Staatsbürgerschaft an. Ich war damals bereits geboren und hatte deshalb das Recht auch auf die deutsche. Mein Vater hat es immer gepflegt, Spanisch zu sprechen. Als ich und später auch meine Frau und meine Kinder nach Deutschland gingen, war er sehr dagegen, „nicht weil die Deutschen besonders schlechte Menschen sind, aber unendlich dumm.“

Wie bist du zur Schauspielerei gekommen?

Das ist eine sehr lange Geschichte. Ich war als Kind in der besonderen Situation, daß ich gleichzeitig drei Kulturen bewältigen mußte: die jüdische meiner Mutter, von der ich wegen ihrer Distanz zur jüdischen religiösen Praxis wenig erfahren habe, die aber doch bestimmte Einstellungen prägte; die deutsche meines Vaters, die anders war, auch wenn meine Eltern beide aus Deutschland kamen, und schließlich die chilenische, die ja sowieso schon eine Zusammensetzung von mindestens spanischen und indianischen Kulturelementen ist. Es war ein ständiges Jonglieren, ein Wahrnehmen der Relativität jener Absolutheit, die jede Kultur beansprucht. Du mußt deinen Weg finden, und dabei bietet sich eine künstlerische Tätigkeit an. Schon in der Schule habe ich immer geschrieben. Weil ich aber ein guter Schüler war, war es selbstverständlich, daß ich Arzt oder Ingenieur werden mußte. Ich wählte Ingenieur, weil mir Mathematik lag. Das Studium gefiel mir gar nicht, und ich war damit sehr unglücklich. Allerdings hatten wir an der Uni eine Theatergruppe. Dort fand ich meinen Ort. Ich merkte, daß ich mich im Theater mit meinem Fremdsein auseinandersetzen konnte. Ich war eigentlich immer ein Fremder. Chile war mir fremd, das Land meiner Eltern war mir fremd. Ich habe jedes Land aus der Perspektive des anderen gesehen. Ich habe bemerkt, daß sehr viele Kinder von Chilenen hier auch zu Künstlern werden. Kunst ist eine Möglichkeit, Identität zu gestalten und sich zu äußern, ohne in den Krieg mit der ganzen Gesellschaft zu geraten. Man muß nicht dauernd sagen: Ich bin anders, sondern hat die Möglichkeit, dieses Anderssein produktiv zu machen.
Abgesehen davon macht mir Theater einen Riesenspaß. Ich könnte auch in einem Stück von Millowitsch (Kölsche Theaterlegende – die Red.) spielen und mich dabei wohlfühlen. Ich hätte auch ohne meine spezielle Geschichte Schauspieler werden können, aber sie hat sicher etwas damit zu tun.

Hast du dein Ingenieur-Studium abgeschlossen?

Nein. Ich fing an, unglaubliche Fehler zu machen. Ich teilte zehn durch zwei und schrieb 1,5. Die komplizierten Probleme konnte ich lösen, machte dann aber die einfachsten Dinge falsch. Daran merkte ich, daß sich etwas in mir wehrte. Zu dieser Zeit war ich noch finanziell von meiner Mutter abhängig. Um sie zu überzeugen, mir die Schauspielausbildung anstelle des Ingenieur-Studiums zu finanzieren, ging ich zu einem Psychologen. Der machte einen Eignungstest mit mir. Der war so banal, daß ich ihn gleich durchschaute und genau wußte, was ich antworten mußte, damit herauskam, was ich wollte. So konnte ich auf die Schauspielschule in Santiago gehen. Da habe ich zwei Jahre studiert und arbeitete nebenbei schon. Meine erste Rolle übernahm ich auf der Bühne, die ich immer als „mein Theater“ empfand: das Teatro de la Universidad de Chile. Wir spielten Romeo und Julia in der Übersetzung von Pablo Neruda. Ich war der einzige Schüler, der eine Rolle bekam, was mich total stolz machte, auch wenn es nur eine ganz kleine war.
Die Schauspielschule fand ich zwar sehr gut, hatte aber bald das Gefühl, dort nichts mehr zu lernen und nur noch die Lehrer zu bedienen. So fing ich an, professionell zu arbeiten. Es ging mir gut, ich arbeitete beim Fernsehen, machte später mit bei einem Film. Mit dem Theater der Universidad Católica fuhr ich zu Aufführungen nach Peru zu der Zeit, als nebenan in Bolivien Che Guevara getötet wurde. Danach war ich ein Jahr in Concepción im Süden Chiles. Ich war auf der Suche nach dem, was ich im Leben und im Theater eigentlich wollte. Da ich es in Chile nicht fand, wollte ich ins Ausland. Für ein Fullbright-Stipendium in den USA brauchte ich einen Schauspielabschluß. So kam ich 1969 zurück zur Uni, schloß die Ausbildung ab, bekam das Stipendium. Aber dann wurde „leider“ Allende Präsident. Die neue Situation war so spannend, daß ich auf das Stipendium verzichtete und in Santiago blieb. Ich bekam gleich ein Engagement beim Teatro de la Universidad de Chile, wo ich bis zum Putsch 1973 arbeitete. Die Unitheater dort haben den gleichen Auftrag wie hier die Stadttheater. Unser Theater war historisch sehr wichtig. Es war in den vierziger Jahren entstanden, als es in Europa Krieg gab. Volksfrontregierungen und anderes Positive konnte sich plötzlich entwickeln, weil sich die USA auf Europa und Asien konzentrierten. Auch unser Theater entstand, unter dem Einfluß von Leuten wie Margarita Xirgu aus Spanien, den Stücken von Frederico García Lorca, vom Expressionismus. Das Ballett in Chile wurde von einem Deutschen, Ernst Uthoff, geführt. Die Flüchtlinge aus Europa hatten einen ungeheuren Einfluß und gaben den chilenischen Künstlern wichtige Impulse. Unser Theater verstand sich immer als Bühne auch mit sozialer Verantwortung. In der Zeit von Allende wurden Slumbewohner mit Bussen zu unseren Aufführungen gebracht, und wir hatten Verträge mit Gewerkschaften. Unter den vielen bedeutenden Künstlern, die zu uns gehörten, war auch Victor Jara (wichtigster chilenischer Liedermacher in den 60er und frühen 70er Jahren, 1973 von den Militärs ermordet – die Red.), der als fester Regisseur an unserem Theater engagiert war.
Die Frage der Funktion des Theaters war für uns grundlegend. Es wurde damals sehr platt argumentiert, es habe die Funktion, das Volk zu erziehen, sein kulturelles Niveau zu steigern oder ähnliches. Aus diesem Anspruch heraus haben wir die Stücke gewählt.
Ich erinnere mich an eine ganz wichtige Begegnung in der Kupfermine „El Salvador“, wo wir mit einer Inszenierung von Brechts „Die Mutter“ gastierten. Wir zogen mit dem Stück durch die ganze Wüste im Norden Chiles und spielten in den Kupfer- und Salpeterminen für die Arbeiter. „Die Mutter“ ist ein Stück, das zum Streik und zur Arbeiterbewegung erzieht. Am Tag nach der Vorstellung gingen wir abends durch das Dorf, wahrscheinlich um Frauen anzumachen. Unterwegs sprachen uns einige ältere Arbeiter an, die das Stück gesehen hatten, und luden uns zu einem Gläschen Wein ein. Dabei redeten sie mit uns über ihre Erfahrungen. Sie erzählten, wie sie die Gewerkschaft aufgebaut hatten. Vorher durften keiner ohne die Erlaubnis der US- Minengesellschaft durch diese Gegend reisen und noch weniger sich dort aufhalten. Einer der Arbeiter hinkte. Er war vom Personal von einem Zug geschmissen worden, weil er diese Erlaubnis nicht hatte. Wir kapierten ganz langsam, daß sie uns auf eine sehr elegante, freundliche und liebevolle Weise sagten, es sei schön, daß wir für sie gespielt hätten, sie seien dankbar, daß sich die Uni aus Santiago um sie kümmere, aber über solche Themen wüßten sie doch etwas besser Bescheid als Brecht oder wir.
Dieses Gespräch gab uns zu denken. Es entstand eine Arbeitsgruppe, in der wir uns um eine Neubestimmung der Funktion des Theaters bemühten. Unsere Orientierung war, unsere eigene Wirklichkeit zu entdecken – und die Wirklichkeit derer, für die wir spielten. Wir wollten weg von der offiziellen Wahrheit, die jene Menschen ignoriert und Wirklichkeit akademisch definiert. Es ging um ein dialogisches Konzept von Theaterarbeit, um einen Findungsprozeß gemeinsam mit den Menschen, um zu verstehen, wo wir steckten und was wir zu tun hatten. Leider wurden diese Diskussionen durch den Putsch gewaltsam beendet.
Im Teatro de la Universidad de Chile fühlte ich mich sehr wohl, bekam jedoch Probleme mit autoritären Strukturen, konkret mit den Kollegen von der Kommunistischen Partei. Das war 1973 kurz vor dem Putsch. Es ging dabei nicht um persönliche Konflikte – wir waren befreundet und verstanden uns auch während der Auseinandersetzungen gut. Sie manipulierten eine Wahl, so daß uns, dem ganzen Rest, kein Delegierter blieb. Ich vertrat die Parteilosen und forderte für uns als Mehrheit einen Vertreter in den Theatergremien. Da wurde ich kaltgestellt. Weil ich im Konflikt mit den Kommunisten war, unterstützten mich die revolutionären Linken, für die ich tatsächlich Sympathien hegte. Aber auch ihnen ging es nicht um das Sachliche, sondern um Machtspielchen. Wenn die Kommunisten schwarz sagten, sagten sie weiß und umgekehrt. Mir lag dagegen nur am Theater und dessen Beziehung zu unserem gemeinsamen Leben und diesem Versuch von Revolution. Schließlich wurde ich rehabilitiert: Meine Kritik an den Wahlen wurde als richtig erkannt, besser gesagt: Jemand Höheres in der Partei mit Sympathien für meine Arbeit bestätigte die Richtigkeit meiner Haltung, und ich wurde wieder begrüßt und bekam die Hauptrolle im nächsten Stück.
Meine „Rehabilitierung“ erfolgte sehr kurz vor dem Putsch, und ich kam in die komische und sehr unangenehme Situation, daß mich nach dem Putsch die neuen Machthaber in der Uni – Christdemokraten, die kurz mit Pinochet zusammenarbeiteten – zur Mitarbeit einluden und mir zwei Hauptrollen und eine Regie anboten. Die Bedingung war, für das Theater, das hieß auch für die Junta einzutreten. Da merkte ich, ich mußte weg. Ich hatte mich vorher schon nach einer möglichen neuen Bleibe umgeschaut. Ich hatte der Lateinamerikakorrespondentin des „Spiegel“ in ihren Recherchen über den Putsch ein bißchen geholfen. Diese Journalistin hatte wiederum Beziehungen zu einer amnesty-Gruppe in Kiel. Über deren Vermittlung schickte mir der damalige Leiter des Schauspielhauses Kiel einen Scheinvertrag mit einer offiziellen Einladung zu einer Regieassistenz. Mit dem Vertrag ging ich zur deutschen Botschaft, um eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik zu beantragen. Um mein Anliegen zu unterstützen, nahm ich ein Papierchen mit, auf dem ein Adler war und mein Name stand. Was ich nicht wußte: Es war meine Einbürgerungsurkunde, die meine Mutter 1952 für mich beantragt hatte. Übrigens war es immer meine deutsch-jüdische Mutter, die sich bemüht hat, mir eine Beziehung zu Deutschland und zur deutschen Kultur zu vermitteln. Aufgrund des Papiers, sagte man mir auf der Botschaft, als Deutscher bräuchte ich keine Arbeitserlaubnis. Eineinhalb Stunden später hatte ich einen deutschen Paß.

Wolltest du bewußt nach Deutschland, weil deine Eltern dorther kamen, oder war es eher Zufall, daß du hier gelandet bist?

Es war Zufall. Ich wollte lieber nach England, weil ich gut Englisch sprach. Ich hatte in Chile schon auf Englisch gespielt. Einer meiner Sprachlehrer, Douglas Harris vom Old Vic, hatte mich schon vor dem Putsch nach England eingeladen, um in einer Wandergruppe mitzumachen – das fand ich sehr spannend.

Sprachst du gar kein Deutsch?

Ein bißchen, Streichholz konnte ich sagen und sonst ein paar Sachen. In Kiel ging ich in den ersten Tagen immer nur an den Straßenbahnschienen entlang, weil sie genau an meiner Tür vorbeiführten – zuerst in eine Richtung und dann wieder zurück. Ich hatte Angst, mich zu verlieren und traute mich nicht, jemand zu fragen. Es dauerte ungefähr sechs Monate, bis ich anfing, mit Unterricht ein bißchen Zeitung zu lesen. Sicher hatte ich mehr Vertrautheit mit der Sprache als meine chilenischen Freunde. Aber viel mehr auch nicht.

Wie hast du das Ankommen in diesem Land erlebt?

Ich hatte erstmal eine Riesenangst. Ich war in ein Land gekommen, das meine Mutter zu einem Menschen zweiter Klasse gemacht und einen Großteil ihrer Familie ermordet hatte. Ich wußte nicht, wie man mich behandeln würde. Ich tat damals sehr cool, daß es nichts mit mir persönlich zu tun hätte. Aber ich hatte gleichzeitig auch Lust zur Begegnung und zur Auseinandersetzung.

Wie hast du beruflich hier Fuß gefaßt, und wann konntest du wieder Theater spielen?

Ich habe gleich am zweiten Tag angefangen zu arbeiten. In Kiel probten sie ein Stück von Valle-Inclán, „Luces de Bohemia“. Ich hatte mich schon in Chile darauf vorbereitet, man hatte mir alle Informationen geschickt, und ich habe mich an der Inszenierung beteiligt. Die Situation in Kiel war ideal. Die Gruppe war klein, und der Schauspieldirektor, Dieter Reible, einer der intelligenten Menschen mit Überblick, denen ich im Theater begegnet bin. Er kannte wiederum Peter Palitzsch in Frankfurt, und so kam ich ans Frankfurter Schauspielhaus. Meine Idee war, etwa drei Jahre in Deutschland zu bleiben und dann nach Chile zurückzugehen. Ein befreundeter Emigrant meinte damals, Chile würde erstmal eine schlimme Terrorwelle erleben, aber sobald sich die neue Ordnung etabliert hätte, ließe die Repression nach und ergäben sich wieder Räume für politische und künstlerische Aktivitäten. Ich hatte keine Ahnung, aber das erschien mir plausibel.
Damals war ich reichlich naiv und dachte, bald zurückzugehen und mit einer schlauen Theaterarbeit die Militärs überlisten zu können. Schon direkt nach dem Putsch hatte ich die Idee, ein Stück von Solschenizyn zu inszenieren. Er wurde von den Militärs sehr geehrt, weil er gegen die Sowjetunion und die Kommunisten war. Das Stück, das ich damals im Kopf hatte, setzte sich mit dem Funktionieren einer Diktatur auseinander und paßte haargenau auf Chile. In Deutschland wollte ich für solche Projekte künstlerische Erfahrungen machen. Ich wollte zuerst eine Zeitlang nach Frankfurt, danach nach Berlin und dann nach Stuttgart. Die Erfahrung am Frankfurter Schauspiel war für mich aber sehr negativ. Es war ein Riesenbetrieb, keiner wußte, was er mit mir tun sollte. Es fing schon schlecht an. Sie fragten mich, was ich machen möchte, und ich sagte, ich wäre bereit, alles zu machen, außer schauspielen. Weniger wegen der Sprache, obwohl das wirklich ein großes Handicap war. Ich war damals übermütig. Trotzdem wollte ich noch nicht auf die Bühne. In Kiel fragte mich ein Junge auf der Straße, ob ich ihm bei seinem Fahrrad helfen könnte. Ich verstand ihn kaum, sah aber, daß die Kette los war und setzte sie wieder auf. Er sagte mir etwas, das ich nicht genau verstand, aber es war etwas Nettes. Und plötzlich fing ich am ganzen Körper zu zucken an und weinte wie eine Gießkanne. Auch später, als ich die Platte mit der letzten Rede von Allende hörte, bekam ich wieder Zuckungen und begann zu weinen. Ich glaube, daß die ganze Angst, die ich verdrängt hatte, in solch einem unerwarteten Moment herauskam, und ich hatte Angst, daß mir das auf der Bühne passieren könnte. Deshalb wollte ich zunächst noch nicht wieder spielen.
Im Schauspielhaus gaben sie mir dennoch sofort zwei kleine Statistenrollen. Sie hatten mir also überhaupt nicht zugehört. Ich war nur das Objekt ihrer guten Absichten.

Hast du die Rollen gespielt?

Ja. Es war traumatisch. Meine Persönlichkeit und meine Arbeitsweise paßten nicht zu deren Form der Arbeit. Ich wollte mich zuerst orientieren, und sie wollten, daß ich gleich produziere. Es kam kein wirklicher Dialog zustande. Sie diskutierten öfter unter sich über mich, was sie mit mir machen sollten, aber sie haben es nie mit mir besprochen. Positiven Kontakt hatte ich nur mit ein paar guten Schauspielern, solchen, die so wenig Probleme mit sich selbst hatten, daß sie neugierig waren gegenüber diesem Menschen, der aus Lateinamerika kam. Da entstand etwas sehr Angenehmes. Ansonsten fühlte ich mich sehr schlecht. Zum Beispiel wurde ich bei einigen Inszenierungen offiziell zweiter Regieassistent. Das bedeutete, ich hatte überhaupt keine Funktion. Als einmal die Regieassistentin nicht kam, habe ich die Arbeit übernommen, und alle haben wohlwollend gelächelt. Später klopfte mir die Regieassistentin auf die Schultern und lobte mich, wie man ein kleines Kind lobt. Das war furchtbar erniedrigend.
Damals wurde in Deutschland viel über Mitbestimmung geredet. Am Schauspielhaus gab es ein Mitbestimmungsmodell. Es ging allerdings längst nicht so weit wie unser Modell am Teatro de la Universidad de Chile. Unsere Stellung als Schauspieler war in Chile viel stärker, weil wir unkündbar waren. Als ich die Probleme mit der KP hatte, konnten sie mir nicht kündigen. Wenn ein Regisseur zu einem Stück eine bestimmte Idee hatte, mußte er sich mit den Schauspielern auseinandersetzen. Wir hatten das Recht, nein zu sagen. Das bedeutete eine ganz andere Umgehensweise. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich einmal nein gesagt hätte. Aber allein die Möglichkeit gibt dir eine ganz andere Sicherheit. Du hast deinen festen Platz und das Recht, dich einzubringen. Doch meine Erfahrungen in punkto Mitbestimmung interessierten in Frankfurt niemanden. Damals dachten die Deutschen, sie würden das beste Theater der Welt machen, und wenn es auch vielleicht tatsächlich so war, war es eine schrecklich provinzielle Haltung, die mich an den Spruch meines Vaters erinnerte.

Bist du trotzdem am Frankfurter Schauspielhaus geblieben?

Mein Vertrag mit dem Schauspielhaus lief von April bis Dezember. Aber ich wollte in Frankfurt bleiben wegen meiner Kinder, die einen festen Ort brauchten, um diese neue Lage in den Griff zu bekommen.
Dann ergab es sich, daß für die nächste Spielzeit einige Kollegen aus Kiel nach Frankfurt kamen, um mit Fassbinder im TAT (Theater am Turm) zu arbeiten. Anfang 1975 gab es eine Krise mit Fassbinder, weil er zuviel Geld ausgegeben hatte, er war die finanziellen Bedingungen beim Film gewohnt. Im Zuge dieser Krise ging Fassbinder weg, aber viele seiner Schauspieler blieben da und übernahmen das Theater. Sie wollten ein chilenisches Stück machen und boten mir an, die Regieassistenz zu übernehmen. Später machte einer der Regisseure, die ich aus dem Schauspielhaus kannte, ein Stück, das hier in Frankfurt berühmt wurde: die Bauernoper. Darin habe ich mitgespielt. Ich war ein neuer Besen, machte meine Sache gut und wurde fest engagiert. Das TAT war ein kleines, übersichtliches Theater mit einem linken Anspruch und interner Mitbestimmung. Meine offizielle Stellung im TAT war „Regieassistent mit schauspielerischen Verpflichtungen“. So blieb ich in Frankfurt hängen, wegen des TAT, aber vor allem wegen der Kinder.

Wann hast du dich getraut und sicher gefühlt, auf deutsch zu spielen?

Ich mußte es sofort, auch wenn ich mich nicht sicher fühlte. Oft meldete ich mein Interesse an Rollen an, von denen ich dachte, sie würden meine Entwicklung fördern. In der Regel wurde das aufgrund meines Akzents abgelehnt, um dann Rollen mit viel höheren Sprachanforderungen zugewiesen zu bekommen. Ich war ein Notstopfen: Wo ein Loch war, wurde ich eingesetzt. Trotzdem habe ich meine Arbeit so bewältigt, daß mein Name auch in den Zeitungskritiken auftauchte, was mir sehr gut tat. Eine Zeitlang arbeitete ich mit einer sehr guten Sprachlehrerin, Helene Feist. Aber als ich bei der Zentralen Bühnenvermittlung, dem Arbeitsamt für Schauspieler, den Antrag für die Finanzierung dieses Phonetikkurses stellte, wurde es mit der Begründung abgelehnt, daß ich Deutscher wäre und perfekt Deutsch sprechen müßte. Danach kam eine wesentliche Veränderung für mein Selbstbewußtsein. Der niederländische Regisseur Paul Binnert inszenierte am TAT Die Heilige Johanna der Schlachthöfe. Statt die von der Intendanz empfohlene Besetzung zu übernehmen, arbeitete er einen Monat mit uns und entschied aufgrund dessen die Besetzung. Ich bekam die zweite männliche Rolle, und die spielte ich nicht schlecht. Ich bekam wirklich sehr gute Kritiken, wurde als einer der Besten oder sogar der Beste bezeichnet. Auch für das nächste Stück, wo ich einen Wiener Rentner spielte, erhielt ich ähnlich gute Kritiken. Bei den Aufführungen bekam ich wiederholt Szenenapplaus. Trotz meines Akzents traf ich offensichtlich die richtige vorurteilsgeprägte Haltung, weil ich im Grunde meine Erfahrungen mit einigen Nachbarn hier in Frankfurt wiedergab.

Es gab in Rostock ein von Chilenen organisiertes spanischsprachiges Theater, wo u.a. Omar Saavedra Santis tätig war. Wußtest du davon, hat dich das interessiert?

Ich war total neidisch darauf. Hier in Frankfurt lebte damals der frühere Leiter des Theaters, wo diese Leute in Santiago zusammengearbeitet hatten. Er hat mir davon erzählt. Aber ich hatte keinen direkten Kontakt, und ich war wie besessen, hier durchzukommen. Ich wollte es im TAT schaffen. Es war zwar hart, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, ich komme weiter. Und es passierte viel, auch auf sozialer Ebene.

Wie kamst du dazu, eigene Ein-Personen-Stücke zu machen?

Das damalige Programm des Oberbürgermeisters von Frankfurt, Walter Wallmann, war, zuerst die Kitas (Kindertagesstätten) zuzumachen, dann das TAT und dann die Gesamtschulen. Mit den Kitas schaffte er es zuerst. Dann kamen wir an die Reihe. Es gab eine Riesenauseinandersetzung in der Stadt, Demos fanden für uns statt – ich glaube, es waren um die 17 000 Leute, die für den Erhalt des Theaters auf die Straße gingen. Aber Wallmann machte es trotzdem zu. In Chile hatten die Militärs unser Theater zerstört, und nun kam Wallmann und machte es hier kaputt. Das hieß für mich, auf die Politik kann man nicht vertrauen. Damals, Anfang der achtziger Jahre, spielte die Idee des Alternativen eine große Rolle. Viele Leute suchten alternative, selbstbestimmte Wege jenseits der Institutionen. Dazu gehört auch die Idee des freien Theaters. Das faszinierte mich, und ich wollte das ausprobieren. Ich wollte nicht mehr in der Abhängigkeit von Politikern und Bürokraten stehen. Zuerst versuchte ich das zusammen mit einer Gruppe, die sich aus der Produktion der „Heiligen Johanna“ gebildet hatte, Leute, mit denen ich mich immer gut verstanden hatte, die mich mochten und meine Arbeit respektierten. Nur ergab sich eine Situation, die immer wieder vorkommt: Eine Gruppe von „Einheimischen“ hat eine bestimmte Erfahrung, und jemand kommt aus Chile oder sonstwoher mit Einsichten, Betrachtungsweisen und kulturellen Bewertungen, die ganz anders sind. Die Neigung der großen Gruppe ist stets, das andere plattzuwalzen. Wenn du mit etwas Neuem kommst, verstehen sie es nicht und fühlen sich bedroht. Immer wieder wollte ich etwas durchsetzen, das für mich wichtig war. Durchsetzen in dem Sinne, daß ich sagte, schaut euch das an, denkt darüber nach, vielleicht besteht hier auch etwas von Interesse für euch. Die Folge waren oft sehr grobe Auseinandersetzungen. Wir hatten ein paar sehr temperamentvolle Kollegen, und ich fand mich immer in der Rolle desjenigen wieder, der Schwierigkeiten machte. Monate später haben die anderen dann verstanden, was eigentlich mein Anliegen war. Dann hieß es immer wieder, meine Ideen seien toll und wie sie sich freuten, daß ich da sei, ich sei eine echte Bereicherung. Aber in der Zwischenzeit hatte ich schon wieder fünf oder sechs neue Probleme gestellt. Irgendwann hatte ich es satt, immer der Problememacher zu sein. Ich zog mich zurück mit der Idee, allein etwas Eigenes zu machen, die Erfahrung des Exils zu bearbeiten. Ich wollte damit auf Reisen gehen und dabei ähnlich gesinnte Leute treffen, die mit mir könnten und mit denen ich könnte, um gemeinsam weiterzuarbeiten.

Was war dein erstes Projekt?

Mein erstes Projekt war „Die merkwürdige Entdeckung des Fernando Pérez“, ein Stück über einen Exilchilenen in Deutschland. Es war hauptsächlich ein Stück für die guten Deutschen und die guten Chilenen, die miteinander wollten, es aber nicht konnten. Die Schwierigkeiten, die entstanden, weil man vieles an zwischenmenschlichen Wahrnehmungen und Konflikten, die sich aus dem Ursprung beider Gruppen ergaben, nicht reflektierte, sondern durch Macht löste. Was erlebt ein Flüchtling auf Ämtern, was im Umgang mit deutschen Freunden und wieviel Dankbarkeit wird von ihm erwartet? Solange er sich so wie ein Opfer verhält und ein bestimmtes linkes Image wiedergibt, wird er unterstützt und vorgezeigt. Aber sobald er anfängt, selbständig zu denken und kritische Gedanken auszusprechen, beginnen die Probleme. Reflektiert wird auch die Beziehungsebene, wo die Frau einen emanzipierten Revolutionär erwartet und er bei ihr den Trost für seine ganze soziale Unsicherheit sucht. Am Ende des Stückes, etwas magisch, erscheint die chilenische Wüste. Der Typ versteht plötzlich, warum er sich verhält, wie er sich verhält. Er wird sich seiner Geschichte und seines Werdegangs bewußt. Am Schluß steht er vor den Zuschauern und sagt sinngemäß: „Ich bin der Fernando Pérez aus Chile, ich fühle mich scheißallein hier in Deutschland, ohne zu wissen, was zu tun ist noch wohin. Ich bin bereit, Neues zu lernen, mich weiter zu entwickeln, aber nicht, zu vergessen und noch weniger mich zu schämen, über was ich jetzt bin. Wir alle befinden uns, in einer sehr … beschissenen Lage und ich weiß nicht, was dazu zu machen ist. Vielleicht könnten wir damit anfangen, uns kennenzulernen, ich dich und du mich.“
Ich habe einen eigenen Stil von armem Theater entwickelt. In dem Pérez-Stück hatte ich überhaupt nichts an Bühnenbild, Requisiten und ähnlichem, nichts, radikal nichts. Auch als Protest gegenüber der Üppigkeit in den hiesigen Theatern. In meinem Verständnis von Theater wurde ich stark von Paulo Freire, aber auch von Bertolt Brecht beeinflußt – eine Mischung von beiden. Und ich würde ohne Bescheidenheit sagen: eine gelungene. Eine ständige Verführung zur Identifikation und danach dann der Widerspruch. Das heißt, eine Person erzählt die Situation aus einer Perspektive, und du nickst, weil sie so betroffen und emotional überzeugend ist. Und dann kommt noch jemand und erzählt dir dieselbe Situation aus der anderen Perspektive, und du nickst wieder und fragst dich plötzlich, wie das sein kann, wo du eigentlich selbst stehst. Der Anspruch des Lernens bei Paulo Freire ist, daß du über das, was du siehst, deine eigene Situation reflektierst, und über das Nachdenken zum Handeln kommst.
Ich habe dieses Stück bis 1991 gespielt, in Deutschland, Österreich, Schweden, der Schweiz, Kolumbien, zuletzt in Chile auf Spanisch. Es war vielleicht meine beste Arbeit. Es hatte einen Riesenerfolg in Kirchengemeinden, Gewerkschaftshäusern, bei amnesty- und Solidaritätsgruppen. Aber ich habe mich mit dem Stück auch total vom Theater, von der Theaterszene isoliert.

Weil du dich nur noch in der Politik- und Solidaritätsszene bewegt hast?

Ja. Ich wollte diese Szene natürlich bedienen, aber genauso diejenigen, die sich für unabhängiges Theater interessierten. Dieser Spagat funktionierte aber nicht, weil sich das freie Theater – wenigstens in Frankfurt – nicht zu einer wirklichen Alternative zum Stadttheater entwickelt hat. Ich bewegte mich fast nur in der Solidaritätsszene. Das war einerseits sehr spannend. Ich habe bei meinen Reisen mit dem Stück fast immer privat übernachtet. Dadurch bekam ich unheimlich viel vom Leben hier mit, ich kannte in fast allen Städten Leute. Das war sehr schön, reich und interessant. Nur kam ich nicht zu dem, was ich eigentlich wollte. Ich sammelte dauernd Erfahrungen, konnte sie aber mit niemandem teilen, und das war schlimm. Ich war Ansprechpartner von Tausenden von Menschen, die bei mir ihre Beichte ablegten und die Erwartung hegten, daß ich das aufnehme und verewige. Aber du kannst nicht immer zuhören ohne die Möglichkeit, das Erfahrene umzusetzen und kreativ zu verarbeiten. Irgendwann fragst du dich, wo du dabei bleibst.
Und dann fing ich wieder an zu suchen, wollte zurück ins institutionalisierte Theater und ging zur Bühnenvermittlung, wo ich fünf oder mehr Jahre nicht gewesen war. Ich sollte vorsprechen, aber mein Ansprechpartner war so überheblich, daß ich es nicht tat. Seitdem werde ich nicht mehr beim Arbeitsamt geführt. Mit einem anderen Freund machte ich dann ein Stück von Athol Fugard (südafrikanischer Autor – die Red.) und fing an, einige neue Sachen zu produzieren. In der Zwischenzeit hatte ich verschiedene kleinere themen- oder sehr stark situationsbezogene Stücke gemacht. Die ganze Zeit habe ich eigentlich immer eine Gruppe gesucht, aber nicht gefunden. Ich glaube, das liegt unter anderem daran, daß meine Ansprüche sehr hoch sind…

…deine Ansprüche an die Gruppe oder deine künstlerischen Ansprüche?

Beides. Einmal die Ansprüche an die Auseinandersetzung mit dem, was man macht. Das, was wir machen, muß in irgendeiner Weise der Wirklichkeit, in der wir leben und die wir täglich erleben, entsprechen. Aber natürlich der Anspruch an die künstlerische Qualität der Arbeit.

Du sagtest eben, du hättest den Fernando Pérez 1991 in Chile gespielt. Wann bist du nach deiner Ausreise zum ersten Mal wieder nach Chile gefahren?

1985. Damals brachte ich auch Geld von der hiesigen Unterstützungsarbeit rüber, was ich heute teilweise bereue. Sehr oft hat das Geld der Solidarität neue Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten geschaffen und einen Prozeß der Entsolidarisierung bewirkt.
Nach Ende der Diktatur träumte ich davon, nach Chile zu gehen, mich dort beruflich/künstlerisch zu verankern. Ich empfand es als meine Pflicht, das, was ich hier in Deutschland gelernt hatte, dort weiterzugeben. Aber ich wollte auch immer wieder nach Deutschland zum Arbeiten kommen. Letzteres vor allem wegen meiner Kinder, die hierbleiben wollten.
1990/91 war ich zwei Monate in Chile. Ich war eingeladen, ein Theaterstück zu machen über Los Zarpazos del Puma (Die Prankenhiebe des Pumas), ein Buch einer chilenischen Journalistin, das einen wichtigen Moment der ersten Phase nach dem Putsch untersucht. Zu der Zeit gab es eine ganze Reihe Militärs, die baldmöglichst zu einer Demokratie zurückkehren wollten, darunter viele lokale Kommandanten im Norden Chiles. Um diese Leute einzubinden, schickte Pinochet General Arellano Stark in den Norden. Der fuhr mit einem Trupp ausgewählter Leute in die verschiedenen Kasernen, um die Kommandeure zu treffen. Während er mit ihnen redete, trieben seine Leute jeweils einige der Gefangenen in die Kasernen und metzelten sie auf brutale Weise nieder. Damit hatten die Kommandeure Blut an den Händen. Sie mußten sich entscheiden, entweder gegen die Institution Streitkräfte zu sein und zu sagen, die Metzelei sei gegen ihren Willen geschehen und nicht von ihnen befohlen, oder zu schweigen und mitzumachen. Die meisten haben mitgemacht, einige wenige haben sich geweigert, gingen ins Exil oder haben selbst schlimme Folter erlebt. Pinochets Exekutor, General Stark, erhielt den Spitznamen El Chacal del Norte, der Schakal des Nordens. 1987 oder 1988 gab einer jener Kommandeure eine eidestattliche Erklärung ab, daß er selbst für die Massaker in der Region unter seinem Kommando nicht verantwortlich sei. Das war der Anlaß für die Journalistin, das Ganze zu recherchieren.
Meine Schwägerin, eine bekannte Schauspielerin, hatte die Idee eines Theaterstücks darüber und lud mich dazu nach Santiago ein. Ich ging mit Unterstützung der Böll-Stiftung. Als ich ankam, merkte ich, daß bei den Theaterleuten eigentlich kein großes Interesse an solchen Themen bestand, in den Zeitungen sollte nur stehen, man arbeite daran. Unmittelbar nach dem Ende der Diktatur bestand noch der Anspruch, sozial zu sein und für die Menschenrechte. Aber das gab sich schnell, Erfolg und Produktivität wurden das Maß aller Dinge. Diejenigen, die noch an den „alten Werten“ der Solidarität und der Gerechtigkeit festhielten, wurden als realitätsfern und blöd angesehen. In meinem Bericht für die Stiftung schrieb ich damals, so ein Stück wäre richtig und gut als Gegenpol gegen die Richtung, in die sich die chilenische Gesellschaft entwickele. Leider behielt ich recht, Chile ist heute genau so, wie ich es damals befürchtet hatte.
Mit Unterstützung von Dieter Strauß, dem damaligen Leiter des Goethe-Instituts, spielte ich den Fernando Pérez in Santiago. Auch da merkte ich, daß an dieser Art des Theaters bei meinen Kollegen kein Interesse bestand. Sie wollten etwas anderes machen, reine Unterhaltung und Verkünstelung.
Meine Arbeit kam bei jungen Leuten sehr gut an, aber die Chile-Erfahrung war für mich insgesamt enttäuschend. Ich hatte immer den Eindruck, daß ich für viele Leute nicht aufgrund meiner Erfahrungen interessant war, sondern weil ich vielleicht Geld bringen könnte. Damit wußte ich nicht umzugehen. Vor dem Putsch war die Lage ein bißchen anders.

Seit etwa zwei Jahren spielst du als Ein-Personen-Stück die Bühnenfassung des Romans „Der Bataraz“, in dem der uruguayische Autor Mauricio Rosencof die Erfahrungen seiner Isolationshaft verarbeitet…

… dazwischen will ich eine Parenthese machen, weil mein wichtigstes Erlebnis der letzten Jahre eine Reise nach China mit dem Theater Wu Wei war. Eigentlich wollte ich gar nicht hin. Ich war nach den Erfahrungen in Chile erst noch in einer Neuorientierungsphase. Ich dachte zuerst: Was soll ich denn in China? Ich wußte kaum etwas über das Land, hatte genug mit Deutschland und Chile zu tun. Meine Tochter riet mir dagegen, gerade in ein Land zu gehen, wo ich sicher keine Identitätsprobleme hätte. Und ich bin gegangen und habe mit großem Erstaunen gemerkt, daß mich das Land fasziniert. Die Menschen waren mir unglaublich nah. Ich fühlte mich eigentlich so wie in Chile vor dreißig Jahren. Ich habe mich auch verliebt, das war natürlich ein Element der ganzen Begeisterung. Die Begegnungen mit China und den Chinesen lösten einen Prozeß in mir aus. Die starre Fixierung auf die Frage, „Bin ich Chilene? Bin ich Deutscher?“, die mich vorher so vehement beschäftigte, relativierte sich, als ich plötzlich merkte, daß ich auch gern Chinese wäre. Wenn ich Zeit genug hätte, würde ich es werden. Und wahrscheinlich könnte ich später Inder oder sonstwas werden. Bis heute bewegt sich bei mir noch sehr vieles durch diese Begegnung.

Wie lange warst du in China?

Die erste Reise dauerte zwei Monate. Dann bin ich alle sechs oder zwölf Monate für einen Monat hingefahren.

Bis heute?

Bis 1996. Ich will aber wieder hin. Was mich so fasziniert hat, war nicht wirklich China. Es war die Erfahrung dort. Die Begegnung mit den Menschen, die Begegnung mit einer Gesellschaft, die ich sozial so toll fand, sagen wir, so wahr. Das war die Umbruchphase in den Jahren 1993, 1994, 1995. Eine Gesellschaft, wo man einerseits den Prozeß der Modernisierung mit einer unglaublich Brutalität erleben konnte. Gleichzeitig wurde aber unheimlich viel diskutiert über die Bedeutung des Materiellen, darüber, daß Geld und Geldverdienen immer wichtiger wurden, aber nicht glücklich machen. Und es wurde gefragt, worin Glück denn bestehe, woraus das Leben bestehe. Es waren sehr ernsthafte Fragen, die sich meine Freunde und andere junge Leute stellten. Diese Fragen waren auch meine Fragen, und die Art des Umgangs damit faszinierte mich. Ich war sehr stark in diese Gespräche meiner Freunde einbezogen. Ich symbolisierte für sie die Freiheit, und sie waren umgekehrt für mich die Freiheit. Sie dachten, ich wäre der Westen. Ich war in einer Weise frei, wie ich es weder in Deutschland noch in Chile sein könnte. Sowohl in Chile als auch in Deutschland habe ich das Gefühl, die Vergangenheit als Maßstab an jede meiner Handlungen anlegen zu müssen, daß ich nicht einmal ein Eis essen könnte, ohne darüber nachzudenken, ob das der Vergangenheit gerecht wird, ob ich vielleicht irgendjemand damit verrate. In China fühlte ich mich frei von diesem Problem. Dabei entdeckte ich viele neue Seiten an mir. Es war ein wahnsinniger Prozeß des „Raus- aus-mir und des Grübelns über die Vergangenheit.“ Als meine Freundin mich fragte, wo denn nun meine Heimat sei, habe ich auf chinesisch geantwortet „dein Herz meine Heimat“, und das habe ich wirklich so empfunden.
Als ich in Uruguay war und den Bataraz spielte, wurde ich im Radio gefragt, ich lebte zwar in Deutschland, sei aber im Herzen doch sicher Lateinamerikaner. Meine Antwort war, früher sei ich Chilene gewesen, 100 Prozent chilenisch; später dann gleichzeitig 100 Prozent chilenisch und 100Prozent deutsch. Und noch später habe ich Chinese werden wollen. Nun wiederum fühlte ich mich bei meinen Freunden in Uruguay auch genauso zu Hause. Ich war in einer so guten Verfassung, daß sie es gleich verstanden. Okay, sagten sie, jetzt hast du hier eine neue Heimat. Wir hoffen, daß du bald wieder zu uns kommst. Ich fand das schön. Der tiefere Sinn meines Gefühls ist vielleicht sehr schwer zu vermitteln. Es ist ein Fallenlassen von dem, was Menschen trennt. Fallenlassen von Geschichte – und die Entdeckung der Freiheit. Es geht darum, wirklich etwas Neues, Revolutionäres aufzubauen, das nicht nur eine neue modifizierte Form des Alten wird. Für mich ist es eine riesenwichtige Entdeckung, wie Identität hauptsächlich Trennung und Isolierung bedeutet. Es gibt bei mir selbstverständlich eine tiefe Verbundenheit mit Chile, mit Lateinamerika, aber – das merke ich nun – auch mit Deutschland und mit China und mit Spanien und und und. Ich muß nicht das Eine gegen das Andere stellen.

Kommen wir zurück zum „Bataraz“, dem Stück, das du jetzt noch spielst. Wie kamst du dazu, oder wie kam das Stück zu dir, und was hat dich daran fasziniert?

Das Stück kam zu mir mit seinem Autor Mauricio Rosencof, der hier in Frankfurt im Buchladen Ypsilon eine Lesung machen sollte. Ich wurde gefragt, ob ich daran teilnähme. Er sollte auf Spanisch lesen, ich auf Deutsch. Nach der Lesung sagten mir viele Besucher, sie seien tief beeindruckt von meiner Art der Lesung. Ich hatte gleich gemerkt, daß der Roman „Der Bataraz“ eher ein theatralischer Monolog ist, daß er von einem Theatermensch geschrieben wurde. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, daß Mauricio aus dem Bauch geschrieben hatte. Was mich gleich faszinierte, waren der Humor und der Sarkasmus, die in dem Stück stecken. Humor in der Sachlichkeit, der dem gängigen Bild vom Opfer, das man in Deutschland hat, widerspricht. Das war der Grund für mich, es hier zu inszenieren. Ein Opfer ist hier jemand, der leidet, jammert, dem man für eine bestimmte Zeit ein bißchen Aufmerksamkeit gibt, weil das Gewissen es so will, der aber eigentlich stört. Besser wäre es im Grunde, er wäre schon gestorben, dann brauchte man sich nicht länger mit ihm zu beschäftigen. Mauricio stellt dieses Bild auf den Kopf und zeigt das Opfer als jemanden, der Humor hat, Phantasie, Kreativität, Kultur, alles Mögliche. Und die Täter sind – obwohl sie die Macht haben – arme Schweine. In Deutschland existiert das Bild der teuflischen Nazis. Es steckt auch ein Element der Bewunderung darin, die Bösen so böse zu machen, daß sie diabolisch sind. Es liegt darin eine gewisse Faszination. Wenn du die Täter aber in ihrer Armut als Menschen zeigst, als erbärmliche Würstchen, dann entsteht ein ganz anderes Bild. Normalerweise werden die Opfer immer als arme Menschen gezeigt, denen man helfen muß und über die man sich damit erheben kann. Im Bataraz werden die Täter dagegen in ihre Dimension gewiesen, in ihrer ganzen Ärmlichkeit gezeigt. Ich werde immer wieder nach den Veranstaltungen gefragt, wieso ist in Mauricio nicht mehr Haß, wieso ist er fähig, über die Täter zu berichten wie über Menschen? Ich denke, das ist genau die Kraft des Buches. Ich denke z.B. an diese Szene, wo der Gefangene von der ganzen Kompanie bepißt wird. Wo du denkst, das können verhaltensgestörte Kleinkinder im Kindergarten oder in einer Grundschule vielleicht einen kurzen Moment lustig finden, wenn sie einem Schwächeren das antun. Aber selbst denen wird es bald langweilig. Wenn es dann eine ganze Kompanie erwachsener Männer tut und am Schluß noch der Kommandant kommt und die Loyalität zur Truppe bezeugt, indem er auch pißt, ist das nur noch armselig. Sie wollen den Gefangenen demütigen, aber der einzige, der seine Würde bewahrt, ist der Mensch, der bepißt wird. Mauricio beschreibt diesen Vorgang und was dabei in seinem Kopf vorgeht mit einer unglaublichen poetischen Sachlichkeit. Das ist, was mich daran begeistert. Es geht genau gegen die Konventionen. So kann das nur jemand beschreiben, der es erlebt hat. Ich fand das so gesund. Ich mag gesunde Sachen.
Als ich nach einiger Zeit das Geld zusammenhatte, um an einer Dramatisierung des Stückes zu arbeiten (einen besonderen Dank an den ABP der evangelischen Kirche und an die Christus Immanuel Gemeinde in Frankfurt), fragte ich mich plötzlich, ob meine Idee richtig war. Die Lesung des Romans war gut, aber das ist noch keine Garantie, daß daraus ein Theaterstück wird. Deshalb habe ich mich
langsam vorgearbeitet, neue Szenen und Ideen immer wieder zur Beurteilung und Korrektur Leuten gezeigt, die ich unter meinen Freunden nach dem Kriterium auswählte, daß sie sehr verschiedene Haltungen und Gruppen vertreten.
In der letzten Phase kam Miriam Hilpert als Co-Regisseurin dazu. Ich hatte lange nach einem Regisseur oder einer Regisseurin gesucht, fand aber niemanden, der verstand, was ich wollte. Statt dessen bekam ich ästhetische Vorschläge mit Tanz, symbolischen Dingen und so. Aber das traf es nicht, das hätte den Text in seiner unglaublichen Direktheit und Stärke nur verwässert. Deshalb arbeitete ich lange alleine. Und plötzlich fand ich jemand, die sich das anschaute und deren Bemerkungen mir zeigten, daß sie genau den Sinn verstand. Miriam Hilpert, die eigentlich mit Puppen arbeitet, hat den Stoff noch radikaler auf den Punkt gebracht und gesäubert. Die Geschichte ist so hart, daß man sehr vorsichtig damit umgehen muß. Man muß fast gegen die Geschichte spielen, also versuchen, sie so weit zu erleichtern, wie es nur geht. Jegliches Moment des Selbstmitleids oder des Pathos ist wegzulassen, man muß sachlich bleiben und so viel Humor wie möglich zulassen, weil die Leute so ein Geschehen kaum in ihrem Kopf akzeptieren können. Auch wenn ich oft harte Themen angehe, versuche ich es so zu machen, daß ich meine Zuschauer nicht runterziehe, sondern sie aufbaue und ihnen Mut mache, sich mit der Härte des Lebens zu konfrontieren.

Du hast das Stück hier in Deutschland gespielt und warst in Uruguay mit einer spanischen Version. Wie waren die Reaktionen? Was waren die Unterschiede in den Reaktionen drüben und hier?

Ich denke, bei Jugendlichen ist die Erfahrung ähnlich. Vielleicht ist hier die Betroffenheit ein bißchen größer. Irgendwie gibt es hier die Neigung zur Betroffenheit. In Uruguay haben sich die Jugendlichen totgelacht, freigelacht, waren aber total beeindruckt. Am Ende einer dieser Vorstellungen – das war vielleicht eine der schönsten Vorstellungen, die ich in meinem Leben gespielt habe – kam eine Frau mit weißen Haaren auf mich zu und sagte, sie habe acht Jahre lang so etwas Ähnliches erlebt und habe nur ein Wort für mich: Danke! Während der Aufführung war ich noch unsicher gewesen wegen des Lachens. In Spanien passierte etwas Ähnliches. Ich spielte dort in einer Uni, und die Studenten haben so gelacht, daß ich mich einen Moment fragen mußte, ob ich es nicht übertrieben hätte. Am Ende gab es ein Schweigen, es passierte nichts. Plötzlich stand einer auf und fing stehend zu klatschen an. Und dann standen alle auf, 150 Studenten. Da weinte ich. Es war das erste Mal, das mir so etwas passierte, und ich merkte, daß genau das ‘rüberkam, was ich wollte.
Ansonsten gibt es sehr unterschiedliche Reaktionen. Es gibt Leute, die die Geschichte hinnehmen, es gibt Leute, die nicht vorbereitet und völlig betroffen oder verunsichert sind, es gibt starke Reaktionen bei Jugentlichen, und es gibt immer wieder die besonderen Situationen. Zum Beispiel bei der Premiere in Uruguay. Eine Frau im Publikum schaute mich die ganze Zeit seltsam an. Ich wußte nicht, was sie mir gegenüber empfand. Aus dem Programmblatt machte sie eine Art Fächer und fächerte sich distanzierend Luft zu. Ich war die ganze Zeit besorgt und beschloß schließlich, abzuschalten und sie nicht mehr zu fixieren. Nach der Vorstellung erfuhr ich, daß sie Mauricios Ex-Frau war. Sie war seine Frau, als er gefangen war, und hat ihn in dieser Zeit begleitet. Aber sie kannte die Geschichte nicht. Zum ersten Mal war sie bereit, etwas darüber zu lesen bzw. anzuschauen. Das sind Dimensionen, die man sich nicht vorstellen kann, wo ich merkte, da ist Übertragung, da läuft Psychoanalyse ab. Mauricio sagte mir, seine Stieftochter habe gemeint, ich hätte so gespielt, wie er sei, ich hätte ihm dabei sogar ähnlich gesehen. Letzteres müsse er aber entschieden zurückweisen, denn schließlich sei er viel gutaussehender als ich. (lacht)
In Deutschland habe ich einige wenige Male erlebt, daß Leute wütend wurden und es eine Zumutung fanden, daß man ihnen solche Geschehnisse erzählt. Keineswegs reaktionäre Leute. Ich frage mich, was daran Zumutung sein kann. Das Stück enthält keine brutalen Szenen wie etwa Horrorfilme, wo Folter und Verstümmelungen gezeigt werden. Es ist alles sehr distanziert, humorvoll. Vieles wird nur angedeutet. Daß jemand bepißt oder gefoltert wurde, wird nur berichtet. Mehr nicht. Es wird niemals mit dem Leiden moralisiert. Deshalb denke ich, daß die Abwehr mancher Leute einer Haltung des Nicht-wissen-wollens, des Nicht-gestört-werden-wollens im eigenen Leben, im eigenen Bild der Welt entspringt. Viele Leute verkapseln sich, sie bauen sich eine Sicherheit auf durch das Töten der eigenen Empfindsamkeit.
Eine ganz besondere Veranstaltung in Deutschland war die, zu der mich die amnesty-Gruppe im Jugendgefängnis von Hameln eingeladen hatte, meines Wissen die einzige Gruppe von amnesty international, deren Mitglieder alle Gefangene sind. Es war eine tolle Aufführung und eine sehr spannende Diskussion. Die Tatsache, daß ein Mensch wie Mauricio mit dieser Geschichte umgehen konnte, hat den Jugendlichen Mut gemacht, daß auch sie etwas aus ihrem Leben machen können. Einer aber sagte, es sei sehr schwer, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern, und was für einen Vorteil er übesrhaupt davon hätte. Zu meiner Überraschung antwortete ich: „Wahrscheinlich keinen, wahrscheinlich bringt es nur Probleme. Aber jeder muß sich entscheiden, ob er auf Kosten anderer oder zusammen mit anderen als Freunde leben will. Nicht weil es Vorteile bringt, sondern weil man es so will.“ Diese Behauptung fand eine ziemlich breite Zustimmung.