Herr Reuter, Sie sind seit Ihrer Jugend kulturell aktiv, wurden später ein bedeutender Fotograf und Kameramann. Das Interesse an Kunst und Kultur wurde Ihnen aber keineswegs in die Wiege gelegt…
Überhaupt nicht. Ich wurde 1906 in Berlin geboren. 1912 kam ich mit sechs Jahren in die Volksschule. 1914 begann der Krieg. Mein Vater mußte an die Front, und meine Mutter mußte arbeiten. Meine beiden Brüder und ich wurden auf Angehörige verteilt. Ich wurde zu Verwandten auf einen kleinen Bauernhof nach Ostpreußen geschickt. Da war ich drei Jahre, bis der Krieg zu Ende war. Die Verwandten sprachen Polnisch. Ich konnte sie kaum verstehen und lernte gerade mal die elementarsten Dinge zu sagen, wie „Guten Tag“, „Ich habe Hunger“ oder „Danke schön“. Ich war eigentlich ganz allein, ich konnte mich ja nicht einmal verständlich machen. Meine Mutter war als Schlafwagenschaffnerin bei der Eisenbahn. Wenn sie nach Königsberg kam, hat sie mich besucht. Aber das war in der ganzen Zeit nur zwei oder drei Mal. Einmal nahm sie mich für ein paar Monate mit nach Berlin.
1918 kehrte ich zu meinen Eltern zurück. In dieser ganzen Zeit hatte ich mit Kultur oder Lesen nichts zu tun – ich konnte nicht einmal richtig schreiben. Ich hatte ja kaum die Schule besucht. Ich fing dann an, mein erstes Buch zu lesen, das war „Till Ulenspiegel“ von Charles de Koster. Weil ich so schlecht lesen konnte, habe ich es ganz langsam durchstudiert. In meinem Elternhaus gab es überhaupt keine Kultur, es gab nur die Bibel und das Instruktionsbuch für die Dragoner, bei denen mein Vater gedient hatte. Mein Vater war Straßenbahnwagenführer, und das einzige, was er kulturell machte, war, in einem Gesangsverein zu singen. Uns Jungs hat er den Geigenunterricht bezahlt. Sonst war er ein ganz einfacher Mann. Er war kein Proletarier, er hat nicht um seine Rechte oder um die Verbesserung seiner Situation gekämpft, sondern war kaisertreu. Das war eine Klasse, die unterhalb des Proletariats stand. Die akzeptierten alles, was der Kaiser machte.
Eines Tages kam ich in der Nähe der Schloßstraße, wo wir damals wohnten, an einer Mädchenschule vorbei. Da war gerade eine Gruppe von Jungs dabei, einige Mädchen zu belästigen. Ich griff ein. Ein weiterer Junge, der vorbeikam, half mir, und so gelang es uns, mit einigen Faustschlägen diese Typen zu verscheuchen. Nach unserem „Sieg“ entwickelte sich eine Freundschaft mit diesem anderen Jungen, der mich unterstützt hatte. Er war etwas älter als ich und kam aus einem bürgerlichen, gebildeten Elternhaus. Durch ihn kam ich in die Jugendbewegung, und dort begann ich, mich mit Büchern, Musik und Theaterspielen zu beschäftigen.
1920, als ich 14 Jahre alt war, sollte ich einen Beruf lernen. Mein Vater schickte mich in eine Druckerei, und ich machte dort eine vierjährige Lehre als Chemigraph. Das waren die Leute, die die sogenannten Klischees herstellten, die Formen, die man beim Bleisatz für alle Reproduktionen brauchte. Chemigraphen waren gutbezahlte Facharbeiter. Als ich 1924 ausgelernt hatte, verdiente ich mehr Geld als mein Vater als Straßenbahnführer und mein Bruder als Beamter.
Während meiner Lehrzeit hatte ich mich in der Jugendbewegung einer Gesangs- und Theatergruppe angeschlossen. 1924 gab es einen großen Jugendkongreß in Tirol, an dem wir mit unserer Truppe teilnehmen wollten. Nachdem ich drei Monate in der Druckerei gut verdient hatte, sagte ich meinem Vater, ich ginge zu dem Kongreß. Mein Vater war absolut dagegen. Gerade finge ich an, Geld zu verdienen, und schon wolle ich wieder verschwinden. Wenn ich zu dem Kongreß führe, dürfe ich sein Haus niemals mehr betreten. Ich bin trotzdem gefahren und habe danach die Wohnung meiner Eltern nie mehr betreten und meinen Vater nicht mehr gesehen. Damals war ich 18 Jahre alt.
Ich war also in Tirol und konnte nicht mehr zurück nach Hause. In der Gruppe war ein Mädchen, das mir sagte, sie habe zusammen mit einer Freundin in Berlin ein kleines Atelier. Da könne ich wohnen, bis ich meine Sachen geregelt hätte. Ich war dann auch einige Wochen in diesem Studio mit den beiden Mädchen. Das gefiel mir aber nicht. Deshalb bat ich meine Mutter – mit der ich weiterhin Kontakt hatte –, mir etwas Geld zu leihen, um nach Nürnberg zu fahren. Die Stadt hatte ich auf der Durchreise nach Tirol gesehen, und sie interessierte mich. Ich fuhr also nach Nürnberg und dachte, in meinem Beruf Arbeit zu finden. Aber es gab keine Arbeit. So suchte ich mir eine Parkbank unterhalb der Nürnberger Stadtmauer, um dort zu übernachten. Als ich gerade zu meiner Bank wollte, sah ich an einer Mauer ein Plakat der Kammerspiele Nürnberg. An dem Abend gab es Frühlingserwachen von Wedekind. Ich dachte mir, zwei Stunden Theater seien zwei Stunden weniger auf der Bank. Ich hatte aber kein Geld. Ich ging also ins Theater und sagte dem Mädchen am Eingang, ich sei ein Schauspieler aus Berlin, ich hätte gerade kein Geld, ob ich mir das Stück trotzdem ansehen könne. Sie sagte, ich solle mit dem Regisseur sprechen. Der Regisseur hörte „Berlin“ und „Schauspieler“ und lud mich sofort ein, am nächsten Tag zum Vorsprechen zu kommen. In Berlin hatte ich zusammen mit einem Freund abends öfter als Statist im Theater gearbeitet, um ein paar Mark zu verdienen. Dabei hatte ich mindestens 50 Mal den Faust gehört und konnte den mehr oder weniger auswendig. Also ging ich zum Vorsprechen, sprach den Schüler von Faust und das Gedicht John Maynard von Fontane. Da sagte der Regisseur, ich solle bleiben, sie würden mir 90 Mark im Monat zahlen. Das sei das übliche Gehalt für einen jungen Schauspieler im ersten Jahr. Ich blieb. Dem ersten Schauspieler, den ich am Theater kennenlernte, sagte ich die Wahrheit über meine Schauspielerei. Er sagte, ich solle trotzdem bleiben, er würde mir ein bißchen Unterricht geben. Das war ein Sohn der Familie Tomaselli, die das größte und berühmteste Caféhaus in Salzburg besitzt. Er hat mir dann ein- oder zweimal pro Woche Schauspielunterricht
gegeben, und dabei habe ich ziemlich viel gelernt. Gleichzeitig standen wir abends zusammen auf der Bühne. Es lief eigentlich ganz gut in Nürnberg, aber nach Ende der Spielzeit zog es mich doch zurück nach Berlin. Hier begann ich, wieder in einer Druckerei zu arbeiten, ging aber natürlich nicht nach Hause. Ich schloß mich einem Sprech- und Bewegungschor an. Zwei professionelle Schauspieler unterrichteten uns im Sprechen, zwei Tänzerinnen trainierten mit uns Gestik und Bewegungen. Wir brachten revolutionäre Gedichte auf die Bühne und auf Matinées. Das ging zwei Jahre lang. In der ganzen Zeit habe ich tagsüber in einer Druckerei gearbeitet.
Wie kamen Sie dann zur Fotografie?
1929 verbot der Berliner Polizeipräsident Zörgiebel (Sozialdemokrat – die Red.) die 1. Mai-Demonstration. Die Arbeiter ließen sich das nicht gefallen und demonstrierten trotzdem. Die Polizei ging mit Gewalt gegen sie vor – es gab 33 Tote und über 100 Verletzte. Danach verfaßte ich eine Protesterklärung und sammelte dafür in meinem Betrieb Unterschriften. Aber von den 60 Arbeitern der Druckerei unterschrieben nur 20. Kurz danach warf mich der Betrieb mit fadenscheinigen Begründungen raus.
Ich suchte wieder Arbeit. In Berlin wollte ich nicht bleiben, weil meine Freundin Sulamith mich verlassen hatte. Also fuhr ich mit meinem kleinen Motorrad rum, war in Braunschweig, Hannover, Köln. In Köln erfuhr ich, daß ich auf der schwarzen Liste der Unternehmer stand, d.h. in Deutschland nicht mehr in meinem Beruf arbeiten konnte. Von Köln fuhr ich weiter nach Heidelberg. Dort hatte ich einen Unfall. Ich fuhr nachts mit dem Motorrad in den Neckar. Die Maschine war hin, und so legte ich die 400 Kilometer von Heidelberg nach München zu Fuß zurück. Ich hatte kein Geld und bettelte unterwegs bei Bäckern, Händlern und Bauern um etwas Eßbares. Meine schmutzigen Hemden schickte ich nach Berlin zu meiner Mutter, und sie schickte mir an die entsprechenden Adressen immer zwei frischgewaschene und gebügelte Hemden. So war ich immer gut gekleidet.
In München erkundigte ich mich, wo die Buchdrucker ihr Bier trinken würden. Man sagte mir, im Ratskeller, und ich ging dorthin. Schon auf der Treppe fragte mich ein alter Buchdrucker, wer ich sei und was ich mache. Ich sagte, ich käme aus Berlin und sei Chemigraph auf Arbeitssuche. Er sagte, als Chemigraph sei ich kein Bruder, aber immerhin ein Verwandter. Ich solle mich hinsetzen und was essen, er würde mich einladen. Später bezahlte er mir sogar noch ein Bett für die Nacht.
Als ich am nächsten Morgen aufstand, saß in der Kneipe ein Junge beim Frühstück. Er lud mich auf eine Tasse Kaffee ein – ich hatte ja nach wie vor kein Geld – und erzählte, er sei mit einem Freund aus der Türkei gekommen. Sie seien Musiker, er spiele Ziehharmonika, sein Freund Gitarre, aber der sei in der Nacht am Blinddarm operiert worden. Nun sei er ganz allein. Er fragte mich, ob wir nicht zusammen spielen könnten. Ich versuchte es, nahm die Gitarre, und es klappte. Damals war es in München verboten, auf der Straße zu spielen. Aber er meinte, wenn wir aufpaßten und nicht in der Innenstadt, sondern in den Arbeiterkolonien spielten, könnte es klappen, und wir könnten ein bißchen was verdienen. Es war der 10. Dezember, ein wunderschöner Sonntag. Er packte also die Ziehharmonika in seinen Rucksack, ich versteckte die Gitarre unter meinem Trenchcoat, und so zogen wir durch die Arbeiterkolonien. Als wir etwa drei Stunden gespielt und gesungen hatten, kam ein Polizist mit Pickelhaube und brüllte „Einpacken“. Wir packten die Instrumente ein, und er brachte uns zum Polizeirevier. Auf dem Weg sagte ich ihm, wir hätten doch nur gesungen, um Weihnachten zu Hause bei unseren Familien zu sein. Ich wüßte nicht, wie viele Kinder er habe, ich hätte noch zwei Brüder, und er wäre doch auch sehr traurig, wenn unter dem Weihnachtsbaum einer fehle. Da stellte er sich hin und sagte: „Hauen S’ ab“.
Was wir natürlich auch taten, so schnell wir konnten. Von dem erspielten Geld kauften wir ein bißchen Schokolade und ein paar Blumen für den anderen Musiker im Krankenhaus, und ich machte mich auf, um nach Leipzig zu fahren. Als ich in Leipzig war, schrieb mir mein Mädchen, „Walter, bitte, bitte komm zurück“. Ihr Freund war von der Polizei erschossen worden, der lebte vom Hühnerdiebstahl. Ich fuhr natürlich sofort nach Berlin, und seit der Zeit lebten wir dann zusammen.
Ich war weiter arbeitslos und bekam nur ein bißchen staatliche Unterstützung. Nach drei Monaten dachte ich mir, wenn ich mir ‘ne kleine Kamera kaufe, kann ich vielleicht ein bißchen Geld verdienen. Ich hatte vorher nie Interesse für die Fotografie gehabt. Ich kaufte mir eine gebrauchte Contessa Nettel. Kurz danach machte ich meine erste Reportage. Irgendein Minister – der Name fällt mir im Moment nicht ein – hatte die Idee, zum Abbau der politischen Spannungen die Zahl der Arbeiter in den Stadtbezirken zu verringern und sie auf die Laubenkolonien zu verteilen. Es gab ja schon Leute, die in Laubenkolonien lebten. Und die lebten armselig! Denn die Kleingärtner konnten da nur Blumen pflanzen und keine Kartoffeln, weil der Sand keine Kartoffeln hergab. Das wußte ich, und das habe ich fotografiert. Mit meiner Kamera baute ich einen Vergrößerungsapparat – einen Stab, ein Milchglas, um das Licht zu verteilen – und machte selber die Abzüge. Aus meiner Arbeit als Chemigraph wußte ich, daß das Normalformat 18 x 24 Zentimeter war. Mit der Reportage und den Bildern ging ich dann zur Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ). Die waren begeistert. Sie sagten: „Weißt du, daß wir hier seit zwei Stunden sitzen und überlegen, was wir zu diesem Thema machen könnten, und plötzlich kommst du und bringst uns die fertige Reportage samt Bildern.“ Die Reportage hieß „Das Elend der Berliner Laubenkolonien“. Sie gaben mir 400 Mark und luden mich ein, regelmäßig für die AIZ zu arbeiten. Von dem Geld kaufte ich mir einen Vergrößerungsapparat. So begannen die Fotografie und meine Mitarbeit bei der AIZ. Es gab auch eine Organisation der Arbeiterfotografen, die haben für Münzenberg (Verantwortlicher für das KPD-Pressewesen, zu dem auch die AIZ gehörte – die Red.) gearbeitet, aber da bin ich nicht eingetreten. Das war ein Club, und ich war eher so ein Außenseiter. Ich habe aber manchmal für sie Fotografien gemacht. Ansonsten machte ich meine eigenen Reportagen – meistens waren es meine Ideen, manchmal haben sie mir auch Themen vorgeschlagen.
Schon 1931/32 wurde die Arbeit für linke Journalisten immer gefährlicher, nach der Machtübernahme der Nazis begann dann die offene Jagd. Wie gelang Ihnen die Flucht aus Deutschland?
Ich habe bis kurz vor dem Reichstagsbrand für die AIZ gearbeitet. Meinem Freund Hans Litten, einem bekannten linken Rechtsanwalt, habe ich mit meinen Fotos oft bei der Verteidigung von Arbeitern geholfen. Der hat mir auch den Weg gezeigt, wo ich zu recherchieren habe. Immer gegen die Nazis. Ich habe z.B. die Mitglieder des Mordsturm 33 von Charlottenburg fotografiert. Das war eines der Terrorkommandos der NSDAP, die ab 1930 in Berlin wüteteten und linke Arbeiter terrorisierten. Nachdem das publiziert war, mußte ich verschwinden, weil die mich suchten. Die AIZ hat mich schon im letzten halben Jahr nicht mehr in Berlin arbeiten lassen, weil es zu gefährlich war. Sie schickte mich in die Tschechoslowakei und nach Schlesien, um dort Fotoreportagen über Streiks und andere politische Auseinandersetzungen zu machen.
Nach dem Reichstagsbrand mußte ich dann raus, mit Sulamith, meiner Freundin. Sie war Jüdin und arbeitete in der Kanzlei von Hans Litten. Hans war in der Nacht des Reichstagsbrandes verhaftet worden und nahm sich fünf Jahre später im KZ Dachau das Leben. Bei unserer Flucht begleitete uns noch Putz – eigentlich hieß sie Magarete Zimbal –, ein Mädchen, das ich auf meinen Reisen in Schlesien kennengelernt hatte. Als ich sie zum ersten Mal traf, war sie Mitglied des nationalsozialistischen Bundes Deutscher Mädel (BDM), ihr Vater war in der NSDAP. Sie hatte uns mal in Berlin besucht, da hatte ich die besten Jungs von der Kommunistischen Jugend und den Roten Pfadfindern eingeladen, und wir diskutierten über Geschichte und die Gedichte von Rilke. Putz wußte gar nicht, wer wir waren. Beim zweiten Besuch wußte sie es. Dann kam sie öfters und freundete sich mit Sulamith an. Als wir wegmußten, schrieb ich ihr nach Breslau: „Putz, wir müssen raus, auf Wiedersehen.“ Sie schickte mir sofort ein Telegramm: „Walter, ich komme mit, ich kann mit diesen Nazis nicht unter einem Dach leben.“
Zu dritt fuhren wir dann per Autostop an die Schweizer Grenze. Ein Schweizer Zöllner ließ uns durch, obwohl Sulamith und ich keinen Paß hatten. Durch die Schweiz und Frankreich schlugen wir uns durch bis nach Málaga, im äußersten Süden Spaniens. Dort haben wir ein Jahr lang auf den Straßen gesungen, um etwas Geld für Essen zu verdienen. Bis meine kleine Jüdin schwanger wurde, blieben wir zusammen in Málaga. Sulamith und ich heirateten dann und ließen uns in Torremolinos nieder. Ich versuchte, uns mit Portraitaufnahmen von Touristen über Wasser zu halten. Putz ging mit einem Freund nach Barcelona.
Wie hat der Militärputsch Francos Ihr Leben verändert?
Als der Krieg gegen Franco begann, trat ich in die Miliz der Juventud Socialista Unificada ein. Das waren Freunde von mir. Meine Frau und meinen Sohn schickte ich ins sichere Paris. Dort lebte damals auch Sulamiths Mutter – die ist später in Auschwitz umgekommen. Zur selben Zeit waren Putz und ihr Freund in Barcelona in die Miliz der Partido Obrero de Unificación Marxista (POUM) eingetreten. Putz, die Kleine, wurde am 1. November 1936 erschossen. Sie war gerade zwanzig Jahre alt. In der Zeit, als wir zusammen auf den Straßen Andalusiens gesungen hatten, haben wir das Geld eigentlich nicht für unsere Lieder bekommen, sondern für ihr schönes Gesicht. Sie konnte so wunderbar lachen, selbst die Pfaffen und die Soldaten, die doch nie was geben, haben ein paar Münzen rausgeholt, stell’ dir das vor.
Wie war Ihre Arbeit als Fotograf in dieser Zeit in Spanien?
Zunächst habe ich gar nicht als Fotograf gearbeitet. Als Soldat in der Miliz habe ich die ersten drei Monate mitgekämpft und gar nicht ans Fotografieren gedacht. Eines Tages sollte ich elf Guardias Civiles erschießen, die wir gefangen genommen hatten. Die Frauen und Kinder dieser Guardias Civiles kamen an und sagten: „Doctor“, ich trug so einen alten weißen Anzug, deshalb meinten sie, ich sei Arzt, „salva mi papá, mi marido!“ Ich konnte die Guardias nicht erschießen und bin ohnmächtig geworden.
Danach schlug ich mich mit einem Freund nach Madrid durch. Dort stellte ich mich in den Dienst der republikanischen Regierung, allerdings nicht mehr mit dem Gewehr, sondern mit der Kamera. Ich fotografierte das Kampfgeschehen und die Verteidigung von Madrid. Die Fotos gingen ans Außenministerium, das sie ausländischen Zeitungen zur Verfügung stellte. Außerdem fotografierte ich für Ahora, die Zeitung der Sozialistischen Jugend. Später ging ich mit der Regierung von Madrid nach Valencia. Zuletzt war ich in Barcelona.
Sie waren bis 1939 in Spanien und sind von da nach Frankreich geflohen. Können Sie darüber etwas erzählen?
Als die Franquisten näherrückten, setzte die große Fluchtwelle nach Frankreich ein. Alle waren auf der Flucht, Zivilbevölkerung ebenso wie Soldaten. Ich war zusammen mit einem englischen Freund, der für den Daily Worker arbeitete. Unterwegs trennten wir uns und verabredeten, uns in Perpignan wiederzutreffen, was auch klappte. Von dort fuhr ich mit dem Zug nach Paris, um nach drei Jahren Trennung meine Frau und meinen Sohn zu sehen.
Ich blieb ein halbes Jahr in Paris. Als der 2. Weltkrieg anfing, meldete ich mich freiwillig zur französischen Armee. Aber die Franzosen sperrten alle Deutschen ein, egal ob sie Nazis oder Antifaschisten waren. Weil sie noch keine Internierungslager für so viele Leute hatten, brachten sie alle Männer in ein Fußballstadion. Stell dir vor, da waren 15 000-20 000 Leute im Stadion. Da haben wir acht oder zehn Tage gelebt, bis sie die Lager gebaut hatten. Ich kam zuerst nach Cepoix in der Nähe von Orléans. Da ich überhaupt keine Papiere hatte, sagte ich dem Kommandanten, ich wäre Katholik und wollte zur Messe. Er sagte, das wäre unmöglich, er hätte keinen Soldaten, den er mitschicken könnte. Schließlich gab er mir aber doch die Erlaubnis. Ich sollte ihm aber vorher die Hand geben und versprechen, daß ich zurückkäme. Ich versprach es und ging auch zurück. Weißt du, warum ich das alles mit der Messe erzählt habe? Um einen Erlaubnisschein für einen Tag zu bekommen. Damit hatte ich wenigstens irgendein offizielles Papier, auf dem mein Name stand. Da stand drauf „Sergeant“ – ausgestrichen mit Bleistift – „Reuter tient permission pour un jour.“ Auf der Rückseite „Régiment 54 Orléans“. Das allein war für mich wichtig.
Das Papier half mir ein paar Monate später in Marseille. Ich war aus dem Lager ausgerückt und hielt mich mit anderen jungen Emigranten in einer Schule versteckt. Einer von ihnen erzählte mir, daß es in Marseille ein Demobilisationskomitee gäbe. Ich ging dahin, erzählte, ich sei deutscher Seemann und hätte mich der französischen Armee zur Verfügung gestellt, um gegen die Nazis zu kämpfen. Ich hätte den Stempel meines Regiments in Orléans – ich zeigte ihnen das besagte Papier –, und nun wolle ich zurück nach Casablanca. Sie akzeptierten das, und nach zwei Tagen fuhr ich nach Casablanca.
In Marokko wurde ich wieder als Ausländer interniert. Eines Tages kamen vier Typen und suchten die stärksten Männer raus, insgesamt neunzehn. Sie brachten uns nach Casablanca, wo sie uns in einer Bretterbude festhielten. Einer von den neunzehn war Jude. Er sagte, er hätte Verbindung zu marokkanischen Juden, wir sollten ein bißchen Radau machen, damit er türmen könnte. Wir wußten ja nicht, wo wir hinkamen und ob wir möglicherweise den Deutschen in die Hände fielen. Also fingen wir an zu singen und laut zu sein. Bei dem Krach fiel es nicht auf, daß wir ein Brett losmachten, damit er fliehen konnte. Uns achtzehn brachten sie am nächsten Morgen zur Eisenbahnstation. Wir fuhren vier oder fünf Tage mit der Eisenbahn immer tiefer in die Sahara, bis die Gleise endeten. Dort sollten wir weiter an der Trans-Sahara-Eisenbahn bauen. Auf der Baustelle arbeiteten 120 Leute mit Pickel und Schaufel.
Ich war insgesamt zwei Jahre in der Sahara, zuerst beim Eisenbahnbau, später auf einer anderen Baustelle. Anfang März 1942 erhielt ich einen Brief von meiner Frau aus Marseille, in dem sie schrieb, sie hätte ein Visum für Mexico und eine Passage nach Veracruz, und ich solle am 20. März in Casablanca sein. Wenn ich es nicht schaffte, würde sie allein nach Mexico gehen und ihr eigenes Leben führen. Sie habe sechs Jahre auf mich gewartet, nun könne sie nicht mehr. Also ging ich zum Kommandanten, sagte, ich hätte mein Visum und könne mit meiner Familie ausreisen. Er gab mir einen Entlassungsschein, glaubte aber nicht, daß ich durchkäme und es schaffen würde, am 20. in Casablanca zu sein. Aber ich schaffte es. Den größten Teil der Strecke konnte ich mit der Eisenbahn zurücklegen. Die meisten Eisenbahner waren spanische Republikaner, Flüchtlinge wie ich, die mir sehr geholfen haben. Auf dem Schiff – es war ein portugiesisches Schiff – traf ich meine Frau und meinen Sohn wieder. Ich hatte fast nichts dabei, mein einziges Kleidungsstück war ein alter Militärmantel, darunter hatte ich nichts. An Bord besorgten sie mir eine Hose und ein Hemd, damit ich nicht bei der Hitze im dicken Mantel herumlaufen mußte. So fuhr ich nach Mexico.
War es für Sie in der ersten Zeit schwer, in Mexico Fuß zu fassen?
Am Anfang war es schwierig, weil ich keiner Partei oder Organisation angehörte. Ich kann dir empfehlen, wenn du mal in die Emigration gehst, sei organisiert. Sei wegen mir Freimaurer, Katholik oder Mitglied einer politischen Gruppe, dann wirst du unterstützt. Ich hatte überhaupt nichts. Ich habe im ersten Jahr vom Betteln gelebt, in den Cafés, wo die spanischen und deutschen Emigranten verkehrten. Meine Familie war in Puebla, einer anderen Stadt, da war sie gut untergebracht, bis ich dann so viel hatte, um sie nach Mexico reinzuholen.
Ich fing wieder an zu fotografieren. Zuerst mit geliehenen Kameras. Die Bilder mußte ich anderswo entwickeln lassen. Das war alles sehr kompliziert. 1944 bekam ich Beziehungen zur Presse und begann, richtig zu arbeiteten. Dann ging alles ganz schnell. Der Herausgeber der ersten Zeitung – ich weiß gar nicht, woher der von mir wußte – sagte, er wolle eine Zeitschrift vom Typ Life machen, und ich solle für ihn als Fotoreporter arbeiten. Er hat mir sofort 150 Pesos in der Woche bezahlt, normalerweise verdienten Pressefotografen zu der Zeit 60 oder 70 Pesos. Da hatte ich sehr viel Glück. Später arbeitete ich freiberuflich für mehrere mexicanische Zeitschriften.
Von der Fotografie kamen Sie zum Film…
Das begann 1950. Der Film reizte mich schon länger, aber damals war es in Mexico so, daß ein Kameramann seine Ausrüstung selbst stellen mußte. Gemeinsam mit einem mexicanischen Journalisten entwickelte ich die Idee, Filme zu machen. Er meinte, ich solle die Kamera besorgen, er würde versuchen, bei staatlichen Stellen Geld aufzutreiben. Ein italienischer Freund lieh mir das Geld für den Kauf einer Ariflex-Kamera. Der mexicanische Kollege besorgte Geld beim Finanzministerium für einen Film über den Temascal-Staudamm an der Grenze zwischen Veracruz und Oaxaca. Außerdem schickte er mir seinen Bürogehilfen als Assistenten. Er sollte mir beim Transport des Stativs und der Batterien helfen. Aber ich schickte ihn nach einer Woche weg, weil ich alleine besser arbeiten konnte. An sein Pferd hängte ich das Stativ und die Batterien. Ich bin dann mit den zwei Pferden los und habe den zehnminütigen Dokumentarfilm Historia de un río ganz allein gemacht.
Der Film war ganz gut, wurde jedenfalls gut akzeptiert. Diese Regierungsfilme liefen immer in den Kinos vor dem Hauptfilm. Dabei haben die Leute meistens gepfiffen. Historia de un río kam dagegen gut an. Das lag daran, daß von den zehn Minuten nur zwei Minuten über den Bau des Staudamms, d.h. das Projekt der Regierung, gingen, während acht Minuten das Leben der Indios am Fluß zeigten. Und das war so interessant, daß die Leute nicht pfiffen. Den zweiten Dokumentarfilm Tierra de Chicle habe ich schon mit einem Produzenten gemacht, der später auch mit Buñuel gearbeitet hat. Er ging über die Chicle-Produktion (Rohstoff für Kaugummi – die Red.) im Urwald. Auch den habe ich ganz alleine ohne Skript usw. gedreht. Der hat die Silbene Ähre von Rom bekommen.
Ich habe noch eine Reihe weiterer Dokumentarfilme gedreht und auch als Kameramann bei Spielfilmproduktionen gearbeitet. Die Mitarbeit bei Spielfilmen war schwierig für mich, weil ich nicht in der Spielfilmgewerkschaft war, sondern in der Sektion 49, einer Gewerkschaft, in der nur Leute waren, die Kurzfilme und Wochenschauen drehten. Und die Spielfilmgewerkschaft achtete darauf, daß bei großen Filmen nur ihre Leute die Kamera machten. Deshalb war der Spielfilm Raíces, bei dem ich drehte, in mehrere Episoden unterteilt, die für sich auch Kurzfilme waren. Raíces, der sich kritisch mit der Situation der Indios in Mexico beschäftigte, bekam 1953 den 1. Kritikerpreis in Cannes.
Sie haben sich später wieder vor allem der Fotografie gewidmet. Weshalb kehrten Sie dem Film den Rücken?
Meine zweite Frau – Sulamith war 1954 gestorben, und ich hatte wieder geheiratet – hatte Anfang der sechziger Jahre einen Schlaganfall und war vollkommen gelähmt. Ihre Behandlung und Pflege – wir hatten drei Krankenschwestern zu Hause – kostete so viel Geld, daß ich meine gesamte Kamera- und Fotoausrüstung verkaufen mußte, um das Geld aufbringen zu können. Mir blieb nur meine alte Leica, und mit der fing ich dann wieder mit der Fotografie an.
Wie schon gesagt, konnte man ohne eigene Kameraausrüstung in Mexico wenig machen. Ich habe später noch in einigen ausländischen Produktionen gedreht, wo die die Ausrüstung stellten. In Guatemala habe ich die Kamera bei der Hollywood-Produktion Der Tiger der Mayas gemacht. Für den Westdeutschen Rundfunk habe ich mit einem bekannten deutschen Regisseur die Verfilmung von Die Baumwollpflücker von B. Traven gedreht. Für Deutschland habe ich auch einen Film über die mexicanische Malerei gemacht. Auch mal einen Kurzfilm für England. Also, ich habe schon noch kleine Filmsachen gemacht. Aber nur ab und zu, ich hatte ja keine Kamera mehr.
Hatten Sie niemals daran gedacht, nach Deutschland zurückzukehren?
Nein. Niemals. Weil der mexicanische Charakter meinem mehr entspricht als der deutsche. Die Präzision, die deutsche Präzision, ist für mich in vielen Sachen eine Bremse. Ich fühle mich wohler in Mexico. Ich glaube, daß die Landschaft den Charakter formt. In Deutschland ist alles eingeengt, der Charakter muß hier so sein, die Eisenbahn muß pünktlich sein, damit alles funktioniert. In Mexico ist alles so weit und so großartig, daß auch der Charakter der Mexicaner großartig ist, sie sind großzügig in jeder Beziehung. Und das liegt mir näher als die Präzision und Pünktlichkeit hier in Deutschland. Deswegen lebe ich da viel freier und besser. Ich hatte nie die Absicht, nach Deutschland zurückzukommen. Außerdem habe ich da noch Deutsche kennengelernt, bei denen das, was ich gegen Deutschland habe, besonders ausgeprägt ist. Nee, nee…