(Il)legale Ökonomien

Dieser Band hat gerade noch gefehlt, und nun ist er glücklicherweise erschienen. Denn grelle Bilder von Militärs, die Kokainpakete in Flammen aufgehen lassen, von Drogenbossen in Handschellen, von Waffenarsenalen, von Funden grausam zugerichteter Leichen und Nachrichten von bevorstehenden failed states, die tagtäglich in Lateinamerika, aber auch in Europa über die Mattscheiben flimmern, vermitteln zwar Eindrücke von außer Rand und Band geratenen Ländern. Erklären, was da eigentlich abgeht, tun sie aber nicht.

Augenscheinlich ist, dass der Kampf gegen den Drogenhandel selbigen keineswegs nachhaltig finanziell getroffen hat. Im Gegenteil: Führende Drogenhändler stehen heute auf der Forbes-Liste der Mulitmilliardäre. Der Gesamtumsatz aus dem Geschäft ist naturgemäß unbekannt, würde aber die aktuelle weltweite Finanzkrise wie einen kleinen Schnupfen aussehen lassen, wenn er auf einmal abgezogen würde.

Schon der 1999 verabschiedete Plan Colombia hätte eine Erfolglosigkeit militärischer Bekämpfung eigentlich vor Augen führen können. Die USA pumpten Milliarden Dollar für Militärhilfe in das Andenland. Doch die illegalen Geschäfte blühten weiter, lediglich die Taktiken wurden angepasst. Gleichzeitig stieg die Zahl straflos begangener Menschenrechtsverletzungen rasant an und gerieten Oppositionelle und MenschenrechtsverteidigerInnen nur noch heftiger ins Zielfeuer. Dessen ungeachtet frönte Mexikos 2006 gewählter Präsident Felipe Calderón mit dem Plan Mérida demselben militärischen Konzept und schickte mehr als 30.000 Soldaten auf die Straße. Das Ergebnis nach gut fünf Jahren: 50.000, vielleicht sogar 60.000 Tote, mindestens die Hälfte davon nicht einmal identifiziert. Eine vollkommen konzeptlose harte Hand regiert auch in Zentralamerika, und in Rio de Janeiro kapert die Befriedungspolizei Favelas und hisst das brasilianische Banner auf deren höchstem Platz – telegen, aber folgenlos. Die Banden disponieren lediglich um. 

Der militärische Kampf gegen die organisierte Kriminalität geht offensichtlich am Kern des Problems vorbei. Haben angesichts dieser Erkenntnis die drei ehemaligen Staatspräsidenten, die zu ihren Amtszeiten den Drogen den Krieg erklärten – Vicente Fox aus Mexico, César Gaviria aus Kolumbien und Fernando Henrique Cardoso aus Brasilien – mit ihrem kürzlich gemachtenVorschlag, die harten Drogen zu legalisieren, endlich den Stein der Weisen gefunden? Ja, möchte man sagen, denn damit fiele der Preis, wäre es zumindest mit der Beschaffungskriminalität vorbei, könnten Drogenabhängige legal und zu erschwinglichen Preisen an ihren Stoff kommen und wäre die Gewalt aus dem Handel genommen.

Nein, sagt der mexikanische Sicherheitsexperte Edgardo Buscaglia im Gespräch mit Wolf-Dieter Vogel im Eröffnungsartikel des Bandes. Dafür sei es zu spät. Der Handel mit illegalen Drogen sei nur noch ein Teil des Geschäfts. Das organisierte Verbrechen ziehe kaum noch die Hälfte seiner Einnahmen aus dem Vertrieb und Verkauf illegaler Drogen. Es sei längst außerordentlich diversifiziert und habe die gesamte Wirtschaft durchdrungen. Mehr als die Hälfte des Gewinns stamme aus anderen Geschäftszweigen, vom Menschen- und Waffenhandel, Kidnapping (u.a. von zentralamerikanischen MigrantInnen auf ihrem Weg in die USA) über Erpressung bis hin zur Prostitution. Der vielgebrauchte Begriff „Drogenmafia“ führe insofern in die Irre. 

Und, das ist die zweite wichtige Aussage gleich zu Anfang des Bandes: Die illegale Ökonomie, das organisierte Verbrechen, braucht die legale Ökonomie, um seine Gewinne waschen zu können. Damit ist der Ball im Lager von denen mit der vermeintlich weißen Weste. Das organisierte Verbrechen ist auf legale Komplizen, GeschäftspartnerInnen und KonsumentInnen auf allen Ebenen angewiesen, vom gekauften Bürgermeister über den Zollinspektor, Lagerhausverwalter bis zum Hotelbesitzer in der Karibik oder zur Supermarktkette in Deutschland, in die ein transnationales Konsortium investiert. In 77 Prozent der Sektoren, die das mexikanische Bruttosozialprodukt erwirtschaften, stecke illegales Vermögen, sagt Buscaglia. Keine Fabrik, kein Bergwerk wurde je beschlagnahmt. Die deregulierte Marktwirtschaft macht’s möglich.

Auch wenn heutige Kartelle durchaus auf lokaler Ebene die Staats- oder Kommunalmacht ersetzen und mit dem Bau von Fußballplätzen und Schulen oder dem Ausbau der Stromversorgung die AnwohnerInnen auf ihrer Seite haben, sind sie in Wirklichkeit keine Local Heroes, sondern national und international agierende Unternehmen. Um ungestraft Geschäfte betreiben zu können, brauchen sie sichere Handlungsräume, die man sich durchaus geographisch vorstellen kann, und (internationale) Netzwerke. Dort, wo andere Sozialsysteme zerfallen, nicht mehr intakt sind, können sie sich am leichtesten breitmachen – ein wegweisender Hinweis von Regine Schönenberg und Annette von Schönberg im letzten Beitrag des Bandes, der zum Weiterdenken anregen sollte, wenn es um die Frage geht, ob die organisierte Kriminalität überhaupt noch wieder in den legalen Griff zu bekommen ist.

Buscaglia, wie auch José Reveles im darauf folgenden Beitrag und Jesús Cantú sowie Mariana Franco an späterer Stelle liefern spannende Details, Zahlen und Namen zu Aufstieg und Diversifizierung der Drogenkartelle in Mexiko. Für sie sind die im Fernsehen gefeierten Erfolge – hier ein Boss gefangen, dort einer erschossen – eindeutig nur Show. Die Struktur überlebt immer. Für das hohle Image nahm Präsident Calderón bislang einen Anstieg der Morde in diesem Krieg um 575 Prozent gegenüber seinem Vorgänger Vicente Fox in Kauf, unzählige klandestine Gräber, eine nahezu hundertprozentige Straflosigkeit und, wie Paco Ignacio Taibo II geradezu zornig in seinen prägnanten Thesen an anderer Stelle des Buchs anmerkt, einen Staat, dessen Behörden vielfach im Sold der Kartelle stehen, und einen US-amerikanischen Krieg auf mexikanischem Boden. 

Alles vielleicht auch nur, um zu ähnlichen „geordneten“ Kartellverhältnissen zurückzukehren, wie sie bis zum Ende der seit den 30er Jahren ununterbrochenen PRI-Herrschaft im Jahre 2000 existierten? Setzte Fox und setzt Calderón auf eine Pax Mafiosa, womöglich unter Alleinherrschaft des ältesten und mächtigsten Kartells in Mexiko, dem Sinaloa-Kartell? Einiges spricht laut Buscaglia dafür. Auch wenn diese ein wenig verschwörungstheoretisch anmutende Annahme nicht zuträfe, seine Ausführungen zum Aufstieg des Sinaloa- und Golf-Kartells, der Zetas und der Familia Michoacana geben zu denken. 

Obwohl Mexiko aus sozusagen gegebenem Anlass einen Schwerpunkt des Bandes darstellt, bilden die Beiträge zur organisierten Kriminalität in Zentralamerika (Oscar Martínez, David C. Martínez-Amador), in Kolumbien (Alfredo Molano), im Andenraum allgemein (Robert Lessmann) sowie Rio de Janeiro/Brasilien (Dawid Bartelt, Stephan Lanz) unverzichtbare Ergänzungen, um das Phänomen der Herrschaft der Kartelle historisch-sozial und politisch ermessen zu können. Ebenso erhellend sind die Beiträge über Bilder, Diskurse und Literatur zum Thema (Anne Huffschmid, Valentin Schönherr): Eine Telenovela wie El equipo („Das Team“), das den erfolgreichen Kampf der Polizei gegen die Mafia zeigt, fällt wegen Realitätsferne beim Publikum durch, wie Anne Huffschmid beschreibt. Die klassische Krimiform zur Drogenmafia ist mit seinem Zwang zum Spannungsbogen und zur Lösung ungeeignet, um die Komplexität des Dramas zu erfassen, erläutert Valentin Schönherr. 

Greifbare Lösungen sind nicht in Sicht. Aber Widerstand ist da, wie Wolf-Dieter Vogel ausführt: Der Dichter Javier Sicilia etwa rief mit seinem Estamos hasta la madre („Wir haben die Schnauze voll“), als sein Sohn der organisierten Kriminalität zum Opfer fiel, eine breite Bewegung ins Leben. Auch das Beispiel des Dorfes Cherán ín Michoacan, die den illegalen Holzeinschlag der Familia Michoacana nicht länger ertrug und es schaffte, sie im April 2011 zu verjagen, macht bescheidene Hoffnung.

Das Verdienst des ehemaligen, um einige MitarbeiterInnen erweiterten HerausgeberInnenkollektivs des Lateinamerika-Jahrbuchs ist es, mit diesem Band zur richtigen Zeit die richtigen Fragen aufgeworfen zu haben. Nur zu einem Aspekt fehlte m. E. Weiterführendes: Was passiert mit dem hergebrachten Geschlechterverhältnis unter der Herrschaft organisierter Kriminalität? Sind alle Männer Machos und alle Frauen Beute? Läuft da nichts aus dem Ruder? Gibt es keine Bruchstellen, an denen anzusetzen wäre?

Davon einmal abgesehen: Man liest sich unweigerlich fest in diesem fesselnden Band. Unwahrscheinlich, dass eineN dabei im Laufe der Lektüre nicht eine zunehmende Wut auf diejenigen Kräfte befällt, die die organisierte Kriminalität stützen, meist weil sie über kurz oder lang davon profitieren. Eine Wut, die produktiv werden sollte. Ich denke dabei daran, wie unantastbar sich Mexiko in der Rolle des Gastgebers internationaler Konferenzen wie bei der Klimakonferenz 2010 in Cancún oder in diesem Jahr beim G20 gefallen darf. Niemand klopfte da der Regierung auf die Finger. Mit Kolumbien und Zentralamerika handelte die EU Freihandelsverträge just zu dem Zeitpunkt (2006-2010) aus, als laut kolumbianischer Generalstaatsanwaltschaft (von 2005-2010) 173.183 Menschen ermordet, 34.467 verschwunden gelassen und 74.990 Gemeinden vertrieben wurden – allein von Paramilitärs, der kolumbianischen Form organisierter Kriminalität. 

2006, als die Verhandlungen begannen, wurden die Verbindungen des damaligen Präsidenten Uribe, seiner Regierungsmannschaft und Teilen des Parlaments, die sogenannte parapolítica ruchbar. Die von der EU-Kommission ausgehandelten Freihandelsverträge erlauben in diesem und den übrigen genannten Ländern ohne funktionierende Finanzaufsicht unkontrollierte Finanzoperationen in jeder beliebigen Anzahl und Höhe und geben europäischen Investoren Schutzgarantien, die die Bevölkerung in den betroffenen Ländern nicht einmal im Ansatz genießt. Ein altes deutsches Sprichwort sagt übrigens: „Der Hehler ist schlimmer als der Stehler.“ 

Anne Huffschmid, Wolf-Dieter Vogel, Nana Heidhues, Michael Krämer, Christiane Schulte (Hg.): NarcoZones. Entgrenzte Märkte und Gewalt in Lateinamerika. Berlin: Assoziation A, 2012, 272 Seiten, 18,- Euro