Das erste Kapitel des Friedensabkommens behandelt die Integrale ländliche Reform und damit den Kernbereich für eine Friedenslösung in Kolumbien, da die Landkonzentration im Zentrum der sozialen und bewaffneten Konflikte in Kolumbien stand und steht. Eine allgemeine Umverteilungspolitik für Land ist zwar nicht vorgesehen, es sollen aber Programme in ländlichen Regionen umgesetzt werden, deren Bevölkerung besonders vom bewaffneten Konflikt betroffen war.
Einerseits zeigt sich in diesem Bereich, dass die notwendigen Gesetzesreformen nur schleppend vorankommen, insbesondere bei der Regelung der Landverteilung und der Einrichtung eines Katasters. Andererseits bedeuten die lokalen Entwicklungsprogramme mit territorialem Ansatz (Programas de Desarrollo con Enfoque Territorial, PDET) einen Fortschritt. Die Programme sollen in mehr als 11 000 Dörfern durchgeführt und in deren Rahmen Schutzzonen für bäuerliche, indigene und afrokolumbianische Bevölkerung eingerichtet werden. Dadurch werden nicht nur zusätzliche Ressourcen freigesetzt, sondern auch Möglichkeiten für die Beteiligung der Bevölkerung geschaffen.
Allerdings wurde deutlich, dass die Umsetzung der PDET an sehr enge Grenzen stößt, denn in vielen Gemeindeverbänden (Municipios) sind die Sicherheitsbedingungen für ihre Durchführung nicht gegeben. Weiterhin sind die Befürchtungen groß, dass es nur ungleiche Möglichkeiten der Beteiligung geben wird und die Täter*innen immer noch eine stärkere Position als die Opfer haben werden. In der Region der Llanos Orientales hat der Konflikt große Veränderungen der Struktur des Besitzes und der Nutzung des Landes herbeigeführt, die kaum angetastet werden können. Weiterhin wird die widersprüchliche Politik der Regierung deutlich, denn in der Region sind gleichzeitig Sonderzonen der landwirtschaftlichen Entwicklung eingerichtet worden, die den agroindustriellen Unternehmen zugute kommen und neofeudale Verhältnisse schaffen. Die Umsetzung des Abkommens kann also nicht isoliert betrachtet werden, wenn in bedeutenden Politikfeldern parallel politische Entscheidungen getroffen werden, die seinem Geist zuwider laufen.
Im zweiten Kapitel des Friedensabkommens wurde ein Rahmen für die politische Beteiligung vereinbart, der Garantien für die zivile Folgeorganisation der Guerilla schaffen soll. Die Partei FARC (die frühere Guerilla hieß Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, die neue Partei heißt Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común, die Abkürzung FARC wurde beibehalten) konnte an den vergangenen Wahlen im März teilnehmen und hat garantierte Sitze im Parlament.
Von weitaus größerer Bedeutung für einen erfolgreichen Friedensprozess sind aber die Garantien für die Ausübung der politischen Rechte an der Basis. In den Territorien, die besonders vom Konflikt betroffen waren, sind die Risiken des politischen Engagements seit Ende 2017 eher wieder angestiegen. Besonders besorgniserregend sind die Übergriffe auf soziale Führungskräfte und Menschenrechtsverteidiger*innen. Das zivilgesellschaftliche Schutzprogramm Somos Defensores stellt fest, dass eine Zahl von über 300 Morden an sozialen Führungskräften seit Anfang 2016 realistisch ist.[fn]Más Allá de las Cifras (Segunda Parte), Informe del Sistema de Información de Agresiones contra defensores de DD.HH. en Colombia – SIADDHH, Bogotá 2018. https://somosdefensores.org/2018/09/24/mas-alla-de-las-cifras-segunda-parte/[/fn]
Trotz klarer Maßgaben im Friedensabkommen und einer Reihe von bereits bestehenden Mechanismen ist der Staat nicht willens oder in der Lage, effektiven Schutz auszuüben. Auch der Kampf gegen die Folgeorganisationen der Paramilitärs, die den Großteil des Terrors gegen die Zivilbevölkerung zu verantworten haben, wird nicht konsequent durchgeführt.
Das dritte Kapitel des Abkommens regelt die Beendigung der Kampfhandlungen und die Transition der Guerillakämpfer ins zivile Leben. Im Bereich der Abgabe der Waffen durch die FARC-Guerilla sind die Fortschritte am klarsten nachzuvollziehen, denn es wurden 9593 Waffen an die UN-Beobachtungsmission übergeben und unschädlich gemacht. Deutlich schwieriger ist die Beurteilung der Fortschritte bei der zivilen Integration der ehemaligen Kämpfer der FARC. Ein großer Konfliktpunkt zwischen Guerilla und Regierung zu Beginn des Prozesses waren die Bedingungen in den Übergangszonen, denn die Lebensbedingungen für die demobilisierten Guerilleras und Guerilleros unterschieden sich kaum von ihrem Leben in der Illegalität. In Interviews mit ehemaligen Kämpfer*innen in der Zona Verdal Transitoria de Normalización Mariana Páes (Mesetas, Meta, Kolumbien) sagte man mir im Mai 2017, es gebe weder die vereinbarten festen Behausungen noch ausreichend Lebensmittel oder eine angemessene Gesundheitsversorgung. Die Enttäuschung bei den Kämpfer*innen war deutlich spürbar.
Dies mag auch der Hintergrund für den weitgehenden Exodus aus den Transitionszonen sein, die teilweise kaum mehr ein Drittel der ursprünglichen Bewohner*innen beherbergen. Hier zeigt sich ein großes Risiko, denn es gibt keine Klarheit darüber, was mit den Exkämpfer*innen passiert ist. Lokale Organisationen berichten über die starke Präsenz illegaler bewaffneter Gruppen, die teilweise auf den Zulauf ehemaliger demobilisierter Kämpfer*innen zurückgehen. Aktuell sind die Gerüchte über eine Spaltung der FARC-Führung und die mögliche Neuformierung einer bewaffneten Gruppe ein weiteres Alarmzeichen. So habe sich der ehemalige Verhandlungsführer der FARC in Havanna, Iván Márquez, in eine ländliche Region zurückgezogen und sei mit der Führung der Partei zerstritten
Im Bereich des vierten Kapitels des Abkommens soll das Problem der illegalen Drogen gelöst werden. Bei dieser anspruchsvollen Aufgabe sind die Fortschritte in der Umsetzung genauso deutlich wie die Risiken. Das Abkommen sieht vor, dass der Anbau von illegalen Pflanzen wie der Coca substituiert, also durch andere Agrarprodukte ersetzt werden soll. In der ersten Phase wurden bereits mehr als 123 000 Familien in ein Programm aufgenommen. Das Ziel der Substitution von 50 000 Hektar 2017 wurde auch bis Mitte 2018 nicht erreicht. Andererseits wurden 53 000 Hektar Cocapflanzungen zwangsweise zerstört, was ein wenig mehr als die anvisierte Fläche darstellt. Zusammen mit der Ankündigung des neuen Präsidenten Duque, zur Besprühung der Cocafelder mit Glyphosat zurückzukehren, stellt dies eine beträchtliche Eskalation dar, da die FARC in den Anbauregionen der Coca wichtige Einflusszonen hat.
Mit dem fünften Kapitel des Abkommens wird ein System für die Übergangsjustiz in Kolumbien geschaffen: Das Integrale System für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Garantien für die Nichtwiederholung soll die zentrale Rolle der Opfer im Friedensprozess garantieren. Hierfür wurden Institutionen und Mechanismen geschaffen, wie die Sonderjustiz für den Frieden (Justicia Especial para la Paz, JEP ), die Wahrheitskommission (Comisión de Esclarecimiento de la Verdad, la Convivencia y la No Repetición, CEV ), sowie die Sucheinheit für Verschwundene (Unidad de Búsqueda de Personas Dadas por Desaparecidas, UBPD ).
Mit der Aufnahme der Arbeit der Sonderjustiz im März 2018 begann die Debatte über die Frage, ob sie zuständig für Verbrechen seitens der staatlichen Sicherheitskräfte sein würde und wie weit die Garantien für Straffreiheit für die ehemaligen Kämpfer*innen der FARC gehen sollten. Eine erste Nagelprobe war der Fall der Inhaftierung des Kommandanten Santrich, dessen Auslieferung wegen Drogenhandels von den USA beantragt worden war und die von der JEP abgewiesen wurde. Dies wurde von Gegnern des Abkommens genutzt, um die JEP in die Nähe der FARC zu rücken. Diese Debatte wird im Laufe der Zeit immer wieder aufflammen, wenn es um die juristische Aufarbeitung geht.
Der letzte Teilbereich des Abkommens sieht Maßnahmen zur Förderung seiner Umsetzung vor. Hier sind die klarsten Fortschritte zu verzeichnen, denn die Verifizierungskommission (Comisión de Seguimiento, Impulso y Verificación a la Implementación, CSIVI) hat ihre Arbeit aufgenommen. Sie soll die Planung der Umsetzung begleiten und kann bei Streitigkeiten vermitteln. Der Druck dieser Instanz wird entscheidend für die Fortdauer des Abkommens über die kommenden Jahre hinaus sein, was sich schon in den ersten beiden Monaten der Regierung Duque gezeigt hat.
Insgesamt ist die Umsetzung dieses umfassenden Friedensabkommens eine Herkulesaufgabe, die jede Regierung und staatliche Institutionalität vor große Herausforderungen stellen würde. Ob das Abkommen aber Ausgangspunkt für eine friedliche Zukunft in Kolumbien sein kann, wird sich in der Regierungszeit von Präsident Duque beweisen. Die bisherige Umsetzung gibt jedenfalls keinen gesicherten Rahmen vor und die Aufgabe für die engagierte Zivilgesellschaft in Kolumbien und die internationale Solidaritätsbewegung ist es, das Abkommen gegen seine erstarkten Gegner in Regierung und Parlament zu verteidigen. Das Schlagwort „Kein Friede ohne Gerechtigkeit“ gilt weiterhin!