„Die Welt war ein endloser Strudel, eine Wirrnis von Schmerz und dem Kampf dagegen.“ Als sich Carola Dickson auf einer Nussschale der sturmwütenden See entgegenstemmt, stellt sich ihre Einsicht in die Beschaffenheit dieser Welt wie von selbst, ja fast schon mit Leichtigkeit ein. Und doch ist dieses Bild und Grundmotiv des bemerkenswerten Erzählbandes des kolumbianischen Schriftstellers Tomás González fürchterlich.
Drei Erzählungen versammelt der Band, drei Leben kündigt der Untertitel an. Es sind Existenzen, die allesamt von einem Sog erfasst werden, der sie in den Abgrund reißt. Und die dazugehörigen Menschen? Hier beginnt das Rätsel des Autors, seiner Erzählungen, dieser Biografien. Tomás González verschweigt, woher seine Figuren kommen und wohin sie gehen. Er gibt weder ihre Gedanken noch ihre Wünsche preis. So erfahren wir nur, wie seine ProtagonistInnen im Sog des sie erfassenden Strudels handeln.
In der ersten und mit Abstand besten Erzählung „Ein unwahrscheinliches Grün“ ist es der junge Maler Boris, der – erschüttert durch den tragischen Tod eines ihm nahestehenden Menschen – aus seiner lichtdurchfluteten, farbprallen Lebensbahn geworfen wird. Boris hört auf zu malen. Er verbannt die Farbe und verdammt das Licht.
Langsam, aber unaufhaltsam lässt er sich in den dunklen Schlund der New Yorker U-Bahn-Schächte hinabziehen. In einer metapherndurchtränkten Sprache, die dennoch an Schlichtheit nicht zu überbieten ist, begleitet Tomás González den Penner Boris in das Schattenreich der urbanen Außenseiter. Dass ihn der Tod nicht will und die Dunkelheit wieder ausspuckt, ist Zufall. Eine Laune dieser Welt, in der die menschliche Existenz dauernd bedroht ist. Angesichts dieser Erkenntnis kann Boris wieder ins Licht treten, darf die Farbe wieder in seine nur für einen Tag bestimmten Straßenmalereien Einzug halten.
Die zweite, titelgebende Erzählung „Carola Dicksons unendliche Reise“ besticht mit ihrer durch und durch stimmigen Verzahnung von Bild und Sprache in der Geschichte des nie enden wollenden Aufbruchs der Lehrerin Carola Dickson. Die erwirbt ein Segelboot und repariert es wenig fachkundig über Jahre hinweg. Minutiös, aber für die Leserin oder den Leser undurchschaubar bereitet sie sich auf die Abfahrt vor. Schließlich sticht sie mit einem grotesk untauglichen Boot in eine See, über der bereits die schwüle Ruhe vor dem Sturm liegt. Dass sie vom tobenden Meer nicht verschlungen wird, grenzt an ein Wunder. Ein Wunder, das Carola Dickson nicht läutern wird. Sie wird wieder aufbrechen. Das haben wir im Gefühl. Wir wissen nur nicht wann und wohin.
Die literarische Kunst des Kolumbianers González besteht darin, dass er seinen Figuren ganz nahe rückt, den distanziert-beobachtenden Blick aber nie aufgibt. Damit erzeugt er eine Atmosphäre, die, so paradox das klingen mag, Nähe und Distanz, Anrührung und Reflexion, Gewissheit und Assoziation gleichermaßen möglich macht.
Die dritte Erzählung „Der König vom Honka-Monka“ erreicht trotz gelungener Bilder und Einfälle nicht annähernd die Brillanz der ersten beiden. Ein Wermutstropfen. Ist doch ansonsten dieser Erzählband aus der Zürcher edition 8 bis hin zum künstlerisch gestalteten Umschlag in sich stimmig.
Tomás González, Carola Dicksons unendliche Reise. Übersetzung: Peter Stamm, Gert Loschütz, Ofelia und Peter Schultze-Kraft. edition 8, Zürich 2007, 138 Seiten, 15,80 Euro