Diktatorenromane bilden in Lateinamerika ein eigenes Genre. Vielfach haben reale Präsidenten Schriftsteller (m.) inspiriert, Charaktere literarisch auszuloten, die sich zu Herren über Leben und Tod ganzer Länder aufschwangen, angefangen von Dr. Francia in Paraguay in Roa Bastos’ „Ich der Allmächtige“ bis hin zum Dominikaner Trujillo, den Vargas Llosa in „Das Fest des Ziegenbocks“ zeichnet. Andere machten sich daran, beobachtete Phänomene zu fiktiven Staatsmachtinkarnationen zu verdichten, um darüber lateinamerikanische Herrschaftsmaschinerien zu illustrieren, besonders gelungen etwa in „Die Methode der Macht“ des Kubaners Alejo Carpentier oder „Der Herr Präsident“ des Guatemalteken Miguel Angel Asturias. Zur Diktatur des Haitianers François Duvalier, genannt Papa Doc (1957-71), finden sich dagegen kaum belletristische Auseinandersetzungen, abgesehen von Graham Greenes auch verfilmten „Die Stunde der Komödianten“, worin aber die Außensicht bestimmend ist, sowohl die des Autors wie auch die seiner Hauptgestalt, beides US-Amerikaner. Schweigen oder Exil, wie sie der allgegenwärtige Terror der Tonton Macoutes den Intellektuellen Haitis verordnete, waren offenbar so allumfassend, dass sie und deren Verursacher offenbar jahrzehntelang in der heimischen Literatur nicht angesprochen werden konnten.
Das ist seit Kettly Mars’ „Wilde Zeiten“ vorbei. Der neue Roman der 1958 geborenen Lyrikerin und Prosaistin erschien im französischen Original wenige Wochen nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti am 12. Januar 2010. Als die deutsche Übersetzung zwei Jahre später herauskam, wurde Papa Docs Sohn Baby Doc in Haiti (doch nicht) der Prozess gemacht – zwei Zufälle, die unversehens den Eindruck und die Aktualität des Buchs hervorheben, das auf eine ganz eigene Weise mitten hineinführt in die Funktionsweise der Duvalier-Diktatur.
Kettly Mars schreibt von der Diktatur, nicht von einem Diktator, von einem System, nicht von einer Persönlichkeit. Tatsächlich kommt François Duvalier als Person nicht wirklich vor, wohl aber wirken die Mechanismen seines Regimes als Motoren, die die Handlung vorantreiben. Täter, Mittäter, Opfer, Ausweg oder Sackgasse – von der ersten Zeile an rüttelt die Autorin an den innersten Überzeugungen ihrer LeserInnen – haben diese Gewissheiten im Extremfall Bestand? Oder fallen sie in sich zusammen wie die Mauern von Port-au-Prince nach den fürchterlichen Erdstößen? Der Extremfall ist die Einkerkerung von Daniel Leroy, Chefredakteur einer Oppositionszeitung und Kommunist. Trifft Nirvah Leroy die richtige Entscheidung, als sie sich darauf einlässt, die Mätresse des Staatssekretärs für Inneres, Raoul Vincent, zu werden, um ihrem verhaftet-verschwundenen Mann das Leben zu retten? Ist solch ein Mittel mit dem Zweck entschuldbar? Ist es moralisch verwerflich? Macht Nirvah sich selbst schuldig? Mitschuldig?
Da stehen wir also mit Nirvah im stickigen Ministerium und hoffen auf die Gnade des korrupten Staatssekretärs. Es sind die frühen 60er-Jahre in Haiti. Papa Doc wurde 1957 bei regulären Wahlen gewählt und bereitet die Verlängerung seines Mandats auf Lebenszeit vor. Jegliche Opposition wird gnadenlos verfolgt. Selbst in der Machtclique herrscht gegenseitiges Misstrauen, man bekämpft sich wortwörtlich bis aufs Messer. Der Roman erzählt dies aus wechselnden Perspektiven, anhand konkreter Figuren. Der Polizeichef Raoul Vincent ist ein schwarzer Emporkömmling, Nirvah Leroy eine sehr schöne Mulattin aus der Bourgeoisie, der Inbegriff dessen, was er immer begehrte und nie bekam.
Der Aufsteiger hat die Macht, ihr Annehmlichkeiten zu verschaffen: einen Generator für die Klimaanlage in dem von Stromausfällen geplagten Land, Asphalt für die staubige Straße vor dem Haus. Die Bürgerin ist ihm ausgeliefert, hat Angst um ihren Mann. Nachbarn und Familie verachten Nirvah dafür, dass sie sich mit einem Tonton Macoute prostituiert. Nirvah verachtet sich selbst dafür, dass der Widerling mit Blut an den Fingern ihr Lust verschafft, dann wieder verachtet sie Daniel, der sie unvorsichtigerweise mit seinen Artikeln in diese Lage gebracht hat. Der Polizeichef, verheiratet mit einer verschwenderischen Frömmlerin, will alles: die schöne Frau als willfährige Geliebte, aber auch deren Tochter und am Ende deren Sohn. Je mehr er Nirvah verfällt, desto unwahrscheinlicher wird es, dass Daniel freikommt. Je mehr Geld er sich für seine Extravaganzen beschafft, desto mehr Neider und Feinde schafft er sich im Kabinett.
Kettly Mars’ Text ist atemlos. In 51 kurzen Kapiteln hetzen die Ereignisse voran, überlagern sich Perspektiven, verstricken sich Schicksale. Die Monologe Nirvahs und ihrer Tochter, die Tagebuchaufzeichnungen Daniels, die schnellen Wechsel zu den anderen Personen machen beim Lesen ein Distanzhalten schier unmöglich. Im Teufelskreis winkt nirgendwo Rettung. Diese Erkenntnis kommt auch Nirvah. Es gibt kein kleines Glück mitten im großen Desaster. Ist die Flucht eine Lösung, wie sie all jene Oppositionellen antraten, die in den Diktaturen Papa und auch Baby Docs zumindest Haiti und meist auch die Insel verließen?
Es ist nicht nur die Logik des Romans, die das Ende erzwingt. 40 Jahre nach Papa Docs Tod sind die von ihm durchgesetzten Strukturen weiterhin wirkungsmächtig. Kettly Mars selbst hat sich entschieden, in Haiti zu bleiben, wo sie als Verwaltungsangestellte arbeitet. Mit „Wilde Zeiten“ hat sie das Nachdenken über Haiti ein Stück vorangebracht. (Siehe auch Besprechung ihres Romans „Fado“ in ila 341)
Kettly Mars: Wilde Zeiten, Übersetzung: Ingeborg Schmutte, litradukt, Kehl 2012, 216 Seiten, 13,80 Euro