Die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gehörte zu den zentralen Wahlversprechen von Evo Morales und der MAS (Bewegung zum Sozialismus) im Präsidentschaftswahlkampf 2005. Zunächst 2002 von den Indígenas des Tieflands verlangt, wurde die Wahl einer Verfassunggebenden Verfassung ab 2003 zu einer Kernforderung der sozialen Bewegungen. Damit sollte eine Neugründung Boliviens erreicht werden, die Überwindung der faktischen Apartheid, die die indigene Bevölkerungsmehrheit weitgehend von der Teilhabe an der politischen Macht und dem gesellschaftlichen Reichtum ausschließt.

Im Juli 2006 wurde die Verfassunggebende Versammlung gewählt, die MAS erreichte die absolute Mehrheit. Als die Versammlung im August 2006 ihre Arbeit aufnahm, kam es aber nicht zu der breiten gesellschaftlichen Debatte über den künftigen Charakter des bolivianischen Staates, die sich die Bewegungen erhofft hatten und die es bei den Verfassungsprozessen in Venezuela und Ecuador zumindest ansatzweise gegeben hatte. Die Versammlung in der offiziellen Hauptstadt Sucre (seit Ende des 19. Jahrhunderts ist La Paz Sitz von Parlament und Regierung) zerstritt sich erst einmal in Verfahrensfragen. Während die MAS der Auffassung war, eine Zweidrittelmehrheit sei nur für die Verabschiedung des gesamten Verfassungstextes erforderlich, bestand die rechte Opposition darauf, dass es für jeden einzelnen Paragraphen eine Zweidrittelmehrheit geben müsse. Die inhaltlichen Fragen gerieten in den Hintergrund und als die Versammlung schließlich mit der Mehrheit der MAS beschloss, für die Aufnahme einzelner Paragraphen sei die einfache Mehrheit ausreichend, setzte die Opposition, vor allem die aus der ADN des Ex-Diktators Banzer hervorgegangene Partei Podemos, auf totale Konfrontation. Die in den Händen der wirtschaftlichen Machtgruppen konzentrierten Medien berichteten nicht mehr über Inhalte, sondern polemisierten nur noch und warfen der Regierung vor, eine Diktatur der Indígenas errichten zu wollen. Als Nebenkriegsschauplatz wurde die „Hauptstadtfrage“ aufgebauscht. 

Obwohl die Rechte vorher nie den Regierungssitz La Paz in Frage gestellt hatte, unterstützte sie plötzlich das Ansinnen des Bürgerkomitees von Sucre, die Kleinstadt müsse wieder vollwertige Hauptstadt Boliviens werden. Als die Mehrheit dies ablehnte, kam es in Sucre zu schweren Unruhen, bei denen es zahlreiche Verletzte und drei Todesopfer gab. Danach war die Sicherheit der Abgeordneten in der Stadt nicht mehr gewährleistet. Die letzten Sitzungen der Verfassungsversammlung fanden deshalb in Oruro statt, wo der Verfassungstext im Dezember 2007 mit Zweidritttelmehrheit verabschiedet wurde. Die kam aber nur zustande, weil einige Podemos-Abgeordnete die Sitzungen in Oruro als illegal bezeichnet und boykottiert hatten.

Bolivien wird in der Verfassung als plurinationaler Staat definiert. Er garantiert die Land- und kulturellen Rechte der Indígenas und erkennt deren Sprachen als gleichberechtigte Landessprachen an. Neben den allgemeinen Menschenrechten garantiert die Verfassung auch wirtschaftliche und soziale Grundrechte. Sie wendet sich gegen jedwede Diskriminierung, sei es aufgrund von Geschlecht, Klassenzugehörigkeit, Hautfarbe, Alter oder sexueller Orientierung. Sie betont die Kontrolle des Staates über die Naturressourcen, ebenso seine Rolle als wirtschaftlicher Akteur. Weiterhin bekennt sie sich zur Dezentralisierung und zur Autonomie von Regionen und indigenen Völkern. Für Landbesitz soll eine Obergrenze von 5000 Hektar gelten. Über diesen von den Großgrundbesitzern und der rechten Opposition vehement bekämpften Paragraphen sollte in einem Referendum gesondert abgestimmt werden.
Das ganze Jahr 2008 war von einem Tauziehen um die für das Inkrafttreten der Verfassung notwendige Volksabstimmung geprägt. Der Senat, in dem Podemos und andere rechte Gruppen die Mehrheit haben, weigerte sich, dafür einen Termin festzulegen. Als Evo Morales den dann per Präsidialdekret ansetzen wollte, wurde dies vom Obersten Gerichtshof in Sucre untersagt. Daraufhin kündigte Morales an, sich einem Abwahlreferendum zu stellen. Dabei sprachen ihm am 10. August 2008 67 Prozent der WählerInnen (fast zehn Prozent mehr als bei den Wahlen im Dezember 2005) das Vertrauen aus. Gleichzeitig wurden auch die meisten Provinzpräfekten bestätigt.

Nach dem Sieg der Regierung beim Abwahlreferendum setzten die rechtsextremen Teile der Opposition auf Gewalt. In den Provinzen Santa Cruz, Beni und Pando kam es zu gewalttätigen Übergriffen auf Indígenas sowie zu Angriffen auf staatliche Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen. In Pando wurden am 11. September bei einem Massaker mindestens 20 Indígenas ermordet, die Regierung und eine Untersuchungskommission der „Gemeinschaft Südamerikanischer Staaten“ (vgl. Ländernachrichten in dieser ila) machen dafür den Präfekten von Pando, Leopoldo Fernández, verantwortlich.

Im Oktober 2008 kam es zu einer Annäherung. Die MAS stimmte zahlreichen von der Rechten verlangten Änderungen am Verfassungstext zu. Insgesamt wurden 140 der 411 Artikel modifiziert. Evo Morales verzichtet auf sein Recht, nach der neuen Verfassung zweimal für das Präsidentenamt zu kandidieren, er wird nur noch einmal antreten. Zentrales Zugeständnis an die Opposition aber war, dass die Obergrenze von 5000 Hektar nur für neu erworbenes Land gilt, den bisherigen Landbesitz aber nicht betrifft. Im Gegenzug setzte der Senat den 25. Januar als Termin für die Volksabstimmung fest.

Teile der sozialen Bewegungen bezeichneten die Zugeständnisse an die alten Eliten als Verrat. Andere bedauerten sie zwar, hofften dadurch aber auf ein Ende der Polarisierung. Auf jeden Fall blieb ein fader Beigeschmack, denn durch die Vereinbarungen wurde die Arbeit der Verfassunggebenden Versammlung nachträglich entwertet. Die meisten Bewegungen und linken Gruppen riefen trotz der Vorbehalte dazu auf, der Verfassung zuzustimmen. Nur Boliviens älteste Linkspartei, die traditionsreiche, aber inzwischen relativ bedeutungslose „Revolutionäre Arbeiterpartei“ (POR) lehnte die „bürgerliche Verfassung“ ab.

Trotz der weitgehenden Zugeständnisse der Regierung setzten die alten Eliten, die Oppositionsparteien und die rechten Bürgerkomitees ihre ganze mediale Macht in einer aggressiven Kampagne für das „Nein“ ein.
Eine besondere Rolle spielte dabei die katholische Kirche. Die hatte in der Vergangenheit eher als vermittelnde Instanz gewirkt. Dies galt besonders für Kardinal Julio Terrazas aus Santa Cruz. Doch in den letzten beiden Jahren stellte sich Terrazas immer deutlicher auf die Seite der Opposition, speziell des rechten Bürgerkomitees von Santa Cruz. Das nahm bisweilen bizarre Formen an. Einem Untersuchungsbericht über Sklavenarbeit auf Großländereien in der Provinz Santa Cruz etwa widersprach er, musste sich dann aber von empörten Priestern aus seiner Diözese vorhalten lassen, selbst wenige Jahren zuvor diese Sklavenarbeit in scharfen Worten gegeißelt zu haben. Seine eindeutige Parteinahme für die Rechte hat sicher etwas mit dem politischen Klima in Santa Cruz zu tun, geht aber vermutlich auch auf Interventionen aus dem Vatikan zurück. Die Kirche stören vor allem drei Punkte in der Verfassung. Zum einen das Verbot der Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung. Den Schutz auch homosexueller Partnerschaften sieht die Kirche als „gefährlich für die Integrität der Familie in ihrer Funktion als Ort der Fortpflanzung“. Dann kritisiert sie, dass das Leben nicht „vom Moment der Empfängnis an“ geschützt sei. Dies ermögliche Gesetze zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Und schließlich ist der Katholizismus nicht länger Staatsreligion. Die Verfassung bekennt sich ausdrücklich zur Religionsfreiheit und betont die Trennung von Kirche und Staat.

Während sich einige Bischöfe wie der erwähnte Julio Terrazas oder der konservative Erzbischof von Sucre, Jesus Gervasio Pérez, eindeutig auf die Seite der rechten VerfassungsgegnerInnen stellten, nahmen andere wie der Erzbischof von El Alto, Jesus Juárez, eine eher vermittelnde Haltung ein. Juárez ist Generalsekretär der Bolivianischen Bischofskonferenz. Die veröffentlichte vor der Abstimmung ein Brief, in dem sie jeweils zehn Gründe aufführte, die für und die gegen die Verfassung sprächen. Neben den oben erwähnten Kritikpunkten hob der Brief zum Beispiel hervor, dass die neue Verfassung die Rechte der Indígenas stärke, die Familie schütze und das Recht auf Gesundheit betone.

Das Ergebnis der Volksabstimmung am 25. Januar lag etwas unter dem des Abwahlreferendums vom August 2008. Wieder unterstützten über 60 Prozent der BolivianerInnen das Projekt der Regierung Morales, gar 80 Prozent sprachen sich für die Obergrenze von 5000 Hektar für Landbesitz aus. Erneut hatten die Indígenas mit überwältigender Mehrheit „Ja“ gesagt, während die große Mehrzahl der Weißen und Mestizen „Nein“ sagte. Letztendlich geht es um die Überwindung der faktischen Apartheid und damit einhergehend um die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Wieder lag die Zustimmung in den Hochlandprovinzen deutlich über 70 Prozent (Oruro 73,68%, La Paz 78,12%, Potosí 80,07%), während in den konservativ regierten Tieflandprovinzen Santa Cruz, Beni und Pando sowie in Tarija die Mehrheit dagegen votierte. Wobei in der Stadt Santa Cruz über 70 Prozent mit „Nein“ stimmten, während in den indigenen Gebieten der Provinz das „Ja“ klar überwog. Bemerkenswert ist, dass in zwei Provinzen, die bis 2008 (Cochabamba) bzw. noch immer (Chuquisaca) von konservativen PräfektInnen regiert wurden, 64,91 bzw. 51,46 Prozent für das „Ja“ stimmten.

Die ersten Reaktionen der Opposition lassen befürchten, dass die Rechte auch diese erneute Niederlage nicht akzeptieren und ihre Destruktionspolitik fortsetzen wird. Der Präfekt von Santa Cruz, Rubén Costas, erklärte bereits vor der Abstimmung, er akzeptiere kein Votum für die neue Verfassung von unter 80 Prozent. Und weiter: „Wir werden dafür kämpfen, dass sich in Bolivien nichts ändert.“ Die Präfektin von Chuquisaca, Savina Cuéllar, erklärte trotz der Mehrheit für das „Ja“ in ihrer Provinz, sie werde die neue Verfassung nicht umsetzen. Konflikte stehen aber nicht nur zwischen Zentralregierung und oppositionellen Provinzregierungen an, sondern auch innerhalb der Provinzen. So wird sich der stets das Wort „Autonomie“ im Mund führende Präfekt von Santa Cruz wohl demnächst damit konfrontiert sehen, dass die indigenen Völker des Tieflands ihre durch die Verfassung garantierte Autonomie und Landrechte einfordern. Dann wird man sehen, was die hinter Costas stehenden GroßgrundbesitzerInnen von Autonomie halten.