Auch wenn wir formelle Autoritäten ablehnen, gab und gibt es in der Internationalismus-Szene Menschen, die eine herausragende Bedeutung haben. Nicht weil sie diese angestrebt hätten, sondern weil sie kontinuierlich aktiv sind, sich in inhaltliche Debatten einbringen und immer da sind, wenn kompetente Ansprechpartner*innen gebraucht werden. Zweifellos hätten viele aktive Leute auf die Frage nach einer solchen Persönlichkeit im Ruhrgebiet spontan den Namen Dagmar Wolf genannt.
Ich lernte Dagmar 1983 auf der Karibikinsel Grenada kennen. Dort hatten 1979 junge linke Oppositionelle den Diktator Eric Gairy gestürzt und begonnen, eine revolutionäre Umgestaltung in dem kleinen Land mit gerade einmal 90000 Einwohner*innen einzuleiten. Wir, eine Gruppe von drei Studenten, hatten ein ASA-Stipendium bekommen und konnten uns so einige Monate damit beschäftigen, welche Effekte ein von der Revolutionsregierung angestoßenes Projekt bot, das junge Arbeitslose beim Aufbau von landwirtschaftlichen und handwerklichen Genossenschaften unterstützte.
1982/83 hatte sich in der linken Szene in Westdeutschland herumgesprochen, dass es neben dem sandinistischen Nicaragua noch eine andere Revolution im Hinterhof der USA gegeben hatte, nämlich in Grenada. Das wollten einige miterleben. Da wir auf dem Gelände eines ehemaligen Hotels in der Nähe der Hauptstadt St. George’s einen heruntergekommenen, aber relativ geräumigen Bungalow gemietet hatten, wurde der schnell zum Treffpunkt für deutsche Internationalist*innen, die nach Grenada gekommen waren.
Eines Tages tauchten dort vier oder fünf Leute aus der linken Szene in Hagen auf. Alle waren beruflich oder studienmäßig mit der dortigen Fernuniversität verbunden. Eine davon war Dagmar. Sie war diejenige aus der Gruppe, die mich am stärksten beeindruckte. Bei den abendlichen Diskussionen über das, was wir in Grenada politisch spannend oder widersprüchlich fanden, äußerte sie immer kluge Gedanken und stellte interessante Bezüge her. Ich war politisch noch sehr unerfahren (als 22-Jähriger sah ich das selbst damals naturgemäß etwas anders), die zehn Jahre ältere Dagmar war dagegen schon lange aktiv, war bereits 1973 in Cuba gewesen, hatte sich ab 1974/75 in der Soliarbeit mit der portugiesischen Revolution und den Befreiungskämpfen in Angola, Mosambik, Guinea-Bissau und den Kapverden engagiert, hatte zwei Jahre in Portugal gelebt und Nicaragua besucht. Aber während andere gerne betonten, was sie schon alles gemacht hatten, hatte Dagmar das nicht nötig. Sie erzählte höchstens auf Nachfrage davon. Da sie die erwähnten revolutionären Prozesse kennengelernt hatte und eine gute Beobachterin war, sah sie in Grenada genau, wo wirklich Veränderungsprozesse im Gang waren und was einfach nur politische Rhetorik war.
Von den vielen Leuten, die ich in Grenada kennenlernte, blieb ich über die folgenden fast vier Jahrzehnte nur mit Dagmar (und mit Helmut Schaaf, der damals im Kölner AStA aktiv war) in Kontakt. Als in den achtziger Jahren die linke Soli- und Kulturszene selbstverwaltete Räume und Zentren aufbaute, war Dagmar mittendrin: Ihr Projekt war das soziokulturelle Zentrum „Bahnhof Langendreer“ in Bochum. Dort gehörte sie ab Ende der achtziger Jahre zum festen Kern und war für die internationale Arbeit zuständig. Das tat sie mit Leib und Seele. Der Bahnhof wurde weit über Bochum hinaus zu einem Fixpunkt, wo regelmäßig spannende Autor*innen, Filmleute und Musikgruppen aus Afrika, Asien und Lateinamerika zu Gast waren. Fast alle fühlten sich gut aufgehoben, weil sich Dagmar um die Leute kümmerte und trotz begrenzter finanzieller Mittel immer alle Hebel in Bewegung setzte, damit die Künstler*innen und Referent*innen angemessene Honorare erhielten – sie wusste, wie überlebenswichtig das für viele war. Neben den Kulturveranstaltungen, die sie immer in einen politischen Kontext stellte, war der Bahnhof Langendreer in ihrer Zeit auch ein Raum für Diskussionen. Wahrscheinlich gibt es nur wenige Leute, die zwischen 1990 und 2010 im Rheinland und Ruhrgebiet längerfristig in der Internationalismusarbeit aktiv waren, die nicht ein oder mehrere Male von ihr als Referent*innen eingeladen worden wären. Dabei bestand sie darauf, es ginge nicht primär um Informationsvermittlung, sondern vor allem um Debatten mit dem Publikum, wie Dinge einzuschätzen seien, was zu tun sei und wie es weitergehen könnte.
Vor über 20 Jahren erkrankte Dagmar zum ersten Mal an Krebs. Als 2011 ein neuer, zunächst als inoperabel angesehener Tumor entdeckt wurde, attestierten ihr die Ärzt*innen noch zwei Jahre. Damals gab sie ihre feste Stelle im Bahnhof Langendreer auf, weil sie die ihr verbleibende Zeit etwas freier gestalten wollte. Glücklicherweise wurden aus den zwei am Ende fast elf Jahre, in denen sie noch viel anstieß und bewegte, auch als es ihr gesundheitlich sehr schlecht ging. Dagmar starb am 15. Januar 2022.