Jenseits der Klischees des Kalten Krieges

Cuba erlitt 1991 mit dem Ende der UdSSR und der realsozialistischen Wirtschaftskooperation einen Einbruch des Außenhandels um 85 Prozent sowie einen Rückgang des BIP um über ein Drittel. Wichtige Einfuhrprodukte wie Erdöl wurden unbezahlbar, es begann die „Spezialperiode“. Diese brachte Cuba „nicht nur in eine wirtschaftliche Notlage, sondern auch in eine ideologische Sinn- und Identitätskrise, die zu einer enormen und bislang wissenschaftlich nur unzureichend betrachteten Dynamik in der kulturpolitischen Sphäre geführt hat“ (S. 9). Diese Zusammenhänge wurden sowohl in der westlichen Öffentlichkeit als auch im Mainstream der Wissenschaft bislang nur unzureichend untersucht und meist nur unter den ideologischen Koordinaten des Kalten Krieges. 

Auf breiter empirischer Basis hat nun der Lateinamerikanist Neuber eine Analyse dieser Thematik vorgelegt. Dafür hat er nicht nur eine Literaturrecherche durchgeführt, sondern war mehrfach zu Forschungsaufenthalten in Cuba und führte 16 Interviews. In der Studie skizziert und erörtert er zentrale Aspekte des Wandels in Cuba seit 1990 anhand ausgewählter Institutionen und der Entwicklung der Kulturpolitik der letzten zwei Jahrzehnte. Hierzu gehören wichtige kulturelle und politische Diskurse und Fallbeispiele wie das Aufkommen der Nueva Trova (Singer/Songwriter, die Elemente alter Volksmusik mit neuen politisch-poetischen Texten kombinieren), die Rolle von Silvio Rodríguez oder auch Pablo Milanés, insgesamt der inteligencia cubana sowie dem erfolgreichen Protest gegen eine sich abzeichnende Stärkung bzw. Rehabilitierung kulturell konservativ-autoritärer Personen im Jahr 2007 (guerrita de los e-mails). Als exemplarische Persönlichkeit wird Leonardo Padura hervorgehoben, dessen Arbeit „Chronisten und Akteur des Wandels“ beschrieben und diskutiert wird. Seine Romane sind auch im deutschsprachigen Raum bekannt. 

Seit den 90er-Jahren erfolgte durch die Regierung einerseits eine Besinnung auf eigene Traditionen und Werte, die zu einer gemäß Neuber „als linksnationalistisch zu charakterisierenden Staatsdoktrin“ geführt hat (S. 104). Zugleich fand aber auch eine außergewöhnlich starke Öffnung des Landes für ausländische AkteurInnen (insbesondere TouristInnen und Unternehmen aus westlichen Ländern) statt. Obwohl die USA ihre Blockade verschärften und ihren Druck gegen Cuba zuspitzten, wurden gerade im kulturellen Bereich Kontakte mit der Diaspora, den exilcubanischen Milieus in den USA und anderen Staaten gepflegt. „Die Entstehung transnationaler Netzwerke in Publizistik, Kulturpolitik und im Kommunikationswesen wurde spätestens seit dem Jahr 2000 parallel zu regierungsunabhängigen Akteuren auch von staatlicher Seite in Cuba vorangetrieben, wobei zunehmende Interaktionen zu beobachten sind.“ (28)

Auch gegenüber der katholischen Kirche kam es im Laufe der Zeit zu pragmatischen Annäherungen, deren Diskussionen und Publikationen wurden Teil der gesamtgesellschaftlichen Debatte über den künftigen Kurs. So sagte z.B. Kardinal Jaime Ortega: „Ich bin Christ, aber ich bin auch Revolutionär.“ (S. viii) Die Papstbesuche entspannten das Verhältnis spürbar. Neue Strömungen der Jugendkultur wie z.B. Hip-Hop wurden beachtet und ernst genommen, sogar durch international beachtete Festivals unterstützt. Zugleich wurden schon mit Beginn der Spezialperiode das Bildungsfernsehen und Internetcafes/-clubs ausgebaut, die Buchverlage in die 15 Provinzen dezentralisiert, eine Modernisierung der Druckereien und ein massiver Ausbau der „Internationalen Buchmesse“ von Havanna vorgenommen. All dies jedoch wurde in westlichen Ländern ignoriert und selbst in Wissenschaften unangemessen reflektiert. 

Aus all diesen Entwicklungen ergab sich eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen den kulturellen und politischen Sphären in Cuba, eine Emanzipation der cubanischen Intelligenz. Es wurde in den diskursiven Auseinandersetzungen eine rege Debattenkultur etabliert und erweiterte autonome Räume für Kritik und Reflexion ermöglicht. „Es lässt sich abschließend also feststellen, dass trotz institutioneller Widerstände die Debatten- und Reformfähigkeit erheblich zur Systemstabilität in Cuba beigetragen hat. Dabei haben die Interaktionen zwischen dem politischen und kulturellen Bereich eine wichtige Rolle gespielt.“ (S. 106) Es wird klar, dass im Vergleich zu Veränderungsprozessen in zahlreichen anderen Ländern die selbstbewusste Kultur die Stabilität und Weiterentwicklung des sozialistischen Systems unterstützt. 

Der Autor Neuber, der das Nachrichtenportal „amerika21“ betreibt, thematisiert mit seiner Studie einen Wandel, der in den üblichen Schemata in westlichen Diskursen geflissentlich übersehen wurde und schließt eine wichtige Lücke. Wenngleich einige Passagen etwas fragmentarisch wirken, einige Wiederholungen enthalten sind und die spanischsprachigen Zitate nicht übersetzt sind: das Buch stellt einen wichtigen Beitrag zu einem besseren Verständnis der komplizierten Veränderungsprozesse des sozialistischen Cuba dar. 

Neuber, Harald: Cubas unentdeckte Wende – Wie die innere Reformdebatte Fidel Castros Revolution seit 1990 verändert hat, Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main et al. 2013, 123 Seiten, 19,95 Euro