Was ist sechzig Jahre nach der Erklärung in San Francisco aus den apostrophierten Kernpostulaten der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geworden?“, wird im Editorial des Jahrbuchs 2009 des Komitees für Grundrechte und Demokratie gefragt. Die AutorInnen haben die europäische Migrationspolitik und -kontrolle unter die Lupe genommen und analysiert. Die rassistische Prägung der ausgrenzenden und entwürdigenden deutschen Asyl- und Migrationspolitik wird herausgearbeitet. Es wird aufgezeigt, dass der oft vollmundig verkündete humanitäre Anspruch längst durch wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen ersetzt wurde. Nicht die Menschenrechte, sondern das nationalstaatliche Eigeninteresse, erkennbar zum Beispiel an den Ausschlusskriterien der Bleiberechtsregelung, sind der Kompass der Flüchtlingspolitik.
Die irreguläre Migration wird lediglich als Ordnungsproblem und Bedrohung der EU wahrgenommen. Wirtschaftlich unerwünschte Migration muss mit allen Mitteln abgewehrt werden. Im Inneren der EU geschieht dies durch Ausgrenzung der Flüchtlinge in Lagern und durch Abschiebung, an den Außengrenzen durch todbringende Abschottung. Elias Bierdel beschreibt in seinem Beitrag „Auf dem Weg nach Europa, Migration im Frontabschnitt Griechenland“ die Praktiken der oft tödlichen Flüchtlingsabwehr: Die Boote der Flüchtlinge werden durch die Küstenwache abgedrängt, Flüchtlinge werden geschlagen, nackt ausgezogen, auf unbewohnten Felseninseln ausgesetzt. Griechenland ist aber kein Einzelfall. „Derzeit sind die politischen und finanziellen Anstrengungen nicht darauf gerichtet, den Schutz- und Hilfesuchenden einen sicheren Platz anzubieten. Vielmehr investiert Europa Milliarden in den Ausbau seines Grenzsicherungssystems und damit in die Abschaffung der Menschenrechte“, so Bierdels Resümee seiner Erfahrungen an den EU-Außengrenzen. Die Militarisierung der EU und die Strategien der Abschottung werden in weiteren Artikeln – zum Beispiel Christoph Marischka „Frontex: Im Netz des EU-Sicherheitssektors“ und Wolf Dieter Just „Flüchtlingsdramen an den EU-Außengrenzen und europäische Menschenrechtsrhetorik“ – gut beschrieben und analysiert.
Ein Beitrag hat es verdient, besonders hervorgehoben zu werden, denn hier kommt ein Betroffener selbst zu Wort. Yufanyi Movuh Mbolo, ein aus Kamerun stammender Professor für Forst- und Naturschutzpolitik, engagiert in der 1994 von in Deutschland lebenden afrikanischen Flüchtlingen gegründeten Organisation The Voice und bei der Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten, spricht in seinem Beitrag „’Die Stimme’ der Toten und derjenigen, die noch sterben werden“ mit aufrüttelnder Sprache und politischer Klarheit aus eigener Erfahrung. „Unsere tiefste Angst ist nicht nur, dass wir unzulänglich sind. Vor allem besteht die Angst darin, dass die Mehrheit der weißen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit in die Richtung geht, unsere Eliminierung – sei es durch Tötungen in den Händen staatlicher Einrichtungen oder durch die Abschiebung – stillschweigend zu akzeptieren.“ (S. 145)
Die 14 Beiträge des Jahrbuchs sind, wie fast immer in einem Sammelband, von unterschiedlicher Qualität. Alle Artikel sind jedoch lesens- und empfehlenswert, einige leider etwas zu akademisch und distanziert. Das Buch gibt einen guten Ein- und Überblick über die europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik. Ausgewählte Texte können in der Schule und in der Erwachsenenbildung eingesetzt werden.
Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.), Jahrbuch 2009, Jenseits der Menschenrechte, Die europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik, Verlag Westfälisches Dampfboot, 279 Seiten, 19,90 Euro