Zwanzig Jahre ist es nun her, seit wir die grausige Nachricht erhielten, dass wir dich, Jürg Weiss, nie mehr an einem Solidaritätstreffen oder bei einer Solidaritätsaktion treffen, dich nie mehr Gitarre spielen hören würden. Am 22. August 1988 wurdest du in Cerro Colorado in El Salvador von Elitesoldaten zusammen mit einem salvadorianischen Compa getötet. Dein entstelltes Gesicht, eine grausame Nachricht an uns internationalistische AktivistInnen, uns gefälligst rauszuhalten, symbolisierte zugleich dein endgültiges Aufgehen im salvadorianischen Kampf für eine gerechtere Welt, wie zuvor mehrere zehntausend engagierte und kämpfende SalvadorianerInnen und dutzende InternationalistInnen.
Vieles ist seither geschehen, Jorge. Der Fall der Berliner Mauer sollte den Durchmarsch des Neoliberalismos symbolisieren, jede politisch-ideologische Debatte begraben. Doch die Ungerechtigkeit lässt sich nicht mit Worthülsen zudecken. Cuba hat überlebt und strahlt weiterhin seine Faszination aus, diejenigen, die 1994 „ya basta“ schrien, konnten nicht totgeschwiegen werden, ein ehemaliger Bischof hat in Paraguay die Landreform zum Ziel seiner Präsidentschaft erkoren, der erste indigene Präsident hat Bolivien Hoffnung, Rohstoffe und Würde zurückgegeben, die Yankees müssen ihre Militärbasis in Ecuador räumen und die Ölmultis sich in Venezuela neuen Regeln beugen, die ihre maßlosen Gewinne beschneiden, um nur einige Beispiele zu nennen. Mit Widersprüchen, den Bürden der Vergangenheit, dem Druck der Rechten mit ihren Patrons aus dem Norden und dem enormen Erwartungsdruck der historisch sprachlosen Mehrheit verändert sich die politische Geografie und Hegemonie, beginnt der US-Hinterhof mit eigener Stimme zu denken und zu handeln.
Und es scheint, als ob auch in „deinem” El Salvador die Stunde bald schlagen könnte. „Unsere” FMLN liegt acht Monate vor den Präsidialwahlen im März in allen Umfragen deutlich vorn. Die tiefe soziale Verankerung in der Bevölkerung und die Kandidatur von Mauricio Funes, dem bekanntesten politischen Fernsehjournalisten des Landes, haben einen Regierungswechsel nach zwanzig Jahren Ultrarechten und Neoliberalismus in den Bereich des Möglichen gerückt.
Zwanzig Jahre Neoliberalismus haben den Staat weitgehend demontiert; Korruption, Klientelwirtschaft und Gewalt haben die sozialen Wertgerüste bis in die Grundfesten erschüttert und die Wirtschaftskrise hunderttausende ins wirtschaftliche Exil getrieben – schwere Hypotheken für die neue Regierung, die zudem die Hoffnungen der verarmten Mehrheit auf ein Stück mehr Würde erfüllen will. Auf diesem schwierigen Weg wirst du ebenso wie die Zehntausende, die dasselbe Schicksal wie du erlitten haben, fehlen, aber hoffentlich gleichzeitig ein Kompass sein, um den richtigen Weg nicht aus den Augen zu verlieren.
San Salvador im August 2008