Ziel der Frente Amplio (FA) war es, in der ersten Runde zu gewinnen. Das Ziel wurde erreicht, wenn auch nur knapp mit 50,65 Prozent der abgegebenen Stimmen. Auf jeden Fall ist mit 52 Prozent der gültigen Stimmen die Parlamentsmehrheit in der Abgeordnetenkammer (53 von 100 Sitzen) und im Senat (16 oder 17 von 30 Sitzen) gesichert. Sonst wäre Durchsetzung linker Politik noch schwieriger, als sie es ohnehin ist. Man denke an Lula in Brasilien, dessen Arbeiterpartei weniger als ein Fünftel des Kongresses stellt. Denn an Konfliktpotenzial wird es in Uruguay ab dem 1. März 2005 kaum fehlen, wenn nach 174 Jahren Regierungsgewalt der beiden „traditionellen Parteien“ (Colorados und Blancos) eine Partei der Linken das Ruder herumwirft.
Der Präsidentschaftskandidat der Nationalpartei (Blancos), Jorge Larrañaga, war von Beginn an der einzige ernst zu nehmende Gegenkandidat von Tabaré Vázquez. Sein Wahlprogramm war zum guten Teil von der FA kopiert. Er und seine parteiinterne Strömung Alianza Nacional sind mit der neoliberalen Katastrophenpolitik der bisherigen Regierung am wenigsten belastet. Zwar hatte 1999 auch seine Strömung in der zweiten Wahlrunde zum Sieg des Colorado-Präsidenten Jorge Batlle beigetragen und bis vor etwa zwei Jahren Minister in dem bis dahin gemeinsamen Kabinett von Colorados und Blancos gestellt, doch hatte er im Parlament in sozialen Fragen des öfteren zusammen mit der FA gestimmt. Wohlweislich distanzierte sich Larrañaga in seiner Wahlkampagne von der neoliberalen Regierungspolitik. Er verkündete ebenfalls ein soziales Notstandsprogramm und gab sich als progressiver Mitte-Links-Kandidat aus. So war er für viele WählerInnen, deren große Mehrheit eine ökonomische und politische Wende wollte, eine verheißende Option. Die FA hatte also eine große Hürde zu überwinden. Schon der kilometerlange Name der linken Allianz, mit dem sie diesmal zur Wahl antrat, drückt ihr stetes Anwachsen aus: Encuentro Progresista-Frente Amplio-Nueva Mayoría (EP-FA-NM). Gewiss, den Hauptstamm bildet weiterhin die FA. Der Anschluss von linken Blancos, Christdemokraten und ErneuerungskommunistInnen kam 1994 als Encuentro Progresista hinzu.
Neu bei dieser Wahl war die 1998 von der FA abgespaltene, als Nuevo Espacio gegründete Mitte-Links-Partei des Senators Michelini, die zusammen mit anderen linken Fraktionen der Colorados und Blancos den Wahlnamen Nueva Mayoría beisteuerte, also eine Koalition von Koalitionen. Dass das komplexe Gebilde trotzdem eine programmatische Aktionseinheit ergibt, ist eine uruguayische Eigenart, bei der Diversität und Gemeinsamkeit – dialektische Gegensätze – eine Synthese schaffen. Der politische Auftrieb der Linken geht einher mit dem Anwachsen der sozialen Bewegungen in Stadt und Land, Reaktion auf Industriedemontage und Verelendung breiter Volksschichten. Die wachsende Schicht der ökonomisch Ausgegrenzten: GelegenheitsarbeiterInnen, MülleinsammlerInnen, StraßenhändlerInnen, alle, die in prekären Verhältnissen ohne soziale Absicherung arbeiten, zumeist in die Elendssiedlungen am Stadtrand verdrängt, bildet den einen Teil des Zuwachses der FA. Der andere kommt aus der Schicht der kleinen und mittleren Unternehmer, Landwirte und Händler. Sie haben nicht am Exportgeschäft teil, sind vom Großgrundbesitz und den großen Kapitalgesellschaften kaltgestellt oder werden wegen der von der Zentralbank gesteuerten Dollarisierung des Marktes und der Hochzinspolitik von Schulden erdrückt. In den letzten Jahren wurden so vor allem im Landesinnern Zehntausende, die nie zuvor auf die Straße gegangen waren, in den Strudel der Massenmobilisierung hineingerissen. Nicht zu reden von den kleinen und mittleren Sparern, deren Guthaben beim Bankkrach eingefroren wurden und die nun einen Gutteil ihrer in langen Jahren zurückgelegten Ersparnisse verloren sehen.
Diese so verschiedenen Probleme haben gleichwohl denselben Ursprung: die neoliberale Regierungspolitik in einer durch die Globalisierung polarisierten Welt. Und auf diese Politik und auf diese konkreten Probleme war das neue Programm der FA zugeschnitten. Im Zuge von fünf Karawanen kam es in alle 19 Provinzen. Die unterschiedlichen sozialen Sektoren wählten unterschiedliche Parteien der FA. Die städtische Arbeiterklasse wählte die traditionelle Linke, vor allem die Sozialistische Partei, während Intellektuelle und BildungsbürgerInnen die mehr akademischen Gruppen Asamblea Uruguay und Vertiente Artiguista, die NeuwählerInnen aus dem informellen Sektor vor allem die Movimiento de Participación Popular wählten, deren Rückgrat die Tupamaros sind. Deren hervorragendste Persönlichkeit, der Senator José (Pepe) Mujica, spricht die Sprache des Alltags, die auch der einfache Mensch in der letzten Siedlung versteht. Anders als die meisten Politiker geht er auf all die kleinen Nöte ein, die von der großen Not kommen und deren Lösung die Leute erhoffen. Wenn es in Uruguay noch nicht zu militanten Protesten wie in Argentinien oder zu krimineller Gewalttätigkeit wie in Rio de Janeiro oder São Paulo gekommen ist, dann u.a. deshalb, weil immer noch die Hoffnung auf eine politische Wende vorhanden war, eine Hoffnung, die der FA am 31. Oktober zum Sieg verhalf. Und eben diese Hoffnung muss und wird sie als erstes mit einem sozialen Notstandsprogramm von 100 Millionen Dollar jährlich zusätzlich zu den gegenwärtigen Sozialausgaben zu erfüllen haben.
Im Vordergrund steht die Ernährung von rund einer Million Menschen, die unter der Armutsgrenze leben – mehr als die Hälfte davon Kinder – und deren gesundheitliche Versorgung sowie die Einbeziehung in das Bildungswesen. Das verändert noch nicht die Strukturen der Gesellschaft, verhindert aber zunächst das rapide Abgleiten vieler in absolute, perspektivlose Armut. Das zuerst, denn die strukturellen Veränderungen werden viele Jahre, also mehrere Regierungsperioden in Anspruch nehmen. Vorausgesetzt natürlich, diese werden überhaupt angebahnt. Was bürgt dafür? Wäre es nur das Programm, wären Zweifel angebracht. Diese Welt hat, was Wahlversprechen anbelangt, reichlich Erfahrung damit, wie weit die Kluft zwischen Wort und Tat, von Wollen zu Können ist. Doch kann die FA da auf eine Praxis hinweisen – 14 Jahre Regierung der Hauptstadt Montevideo – die für Konsequenz und Kohäherenz steht. Das ist nicht allein die Erfüllung ihres sozialpolitischen Plans, das ist vor allem das Verhältnis von staatlicher Behörde zur Zivilgesellschaft, eine andere Art zu regieren, der partizipative Fünfjahreshaushaltsplan, die Schaffung von Nachbarschaftsräten. Ein Prozess der Teilnahme der BürgerInnen und ihrer sozialen Organisationen an der Ausarbeitung der urbanen Projekte, an der Verwaltung und Kontrolle war 1990 eingeleitet und, noch unvollkommen und stark verbesserungsbedürftig, weiterentwickelt worden. Gewiss, ein Land zu regieren ist nicht dasselbe wie eine noch so große Stadt.
Doch das Prinzip der Partizipation steht in Uruguay nicht nur auf dem Papier, es ist heute und seit langem in vielen gemeinsamen Kämpfen gegen eine neoliberale Politik zu einer Selbstverständlichkeit geworden. So war es mehr als ein Zufall, dass an demselben Tag, dem 31. Oktober, an dem die FA zu Wahl und Triumph antrat, die Bürgerinitiative einer Verfassungsreform zur Volksabstimmung stand. In dieser wird Wasser zu einem unveräußerlichen nationalen Gut erklärt und so dessen Privatisierung ein Riegel vorgeschoben. Die dazu benötigten Unterschriften hatte die FA zusammen mit der Gewerkschaft der Wasserversorgungsarbeiter und über 30 sozialen Organisationen gemeinsam gesammelt; in den Wahllisten einer jeden ihrer Koalitionsparteien war der Stimmzettel mit dem „JA“ für diese Initiative beigelegt. Seit Monaten bereits arbeiten die Workshops der FA an der konkreten Planung der verschiedenen Regierungsbereiche. Bei allen spielt die Teilnahme der jeweilig inbegriffenen ArbeiterInnen, Angestellten und TechnikerInnen sowie der Nutznießer eine wichtige Rolle. Bis auf den paritätischen „Nationalen Wirtschaftsrat“, der in der Verfassung vorgesehen, aber nie verwirklicht wurde, wird die Partizipation vorerst kaum institutionell verankert werden können, denn dazu bedarf es einer Zweidrittelmehrheit im Parlament. Aber auch in Montevideo wurde sie ja zuerst spontan und informell, aber darum mit nicht weniger Passion und Erfolg, eingeführt und funktionierte schon, bevor es nach über zwei Jahren unter dem Druck vollendeter Tatsachen möglich war, das Modell der Partizipation gesetzlich zu etablieren. Das Programm der FA ist ohne Rückhalt und Teilnahme der sozialen Bewegungen kaum durchzuführen.
Der zu erwartende Widerstand einer starken rechten Opposition, einer Oligarchie der Medien, all jener, die um ihre politischen Privilegien trauern und um ihre wirtschaftlichen fürchten, übersteigt die Kapazität einer Regierungsexekutive mit knapper Parlamentsmehrheit, gar nicht zu reden von der Macht des Kapitals in einer kapitalistischen Wirtschaft. Tabaré hat das Programm der Produktionsankurbelung den einheimischen UnternehmerInnen vorgestellt. In Washington versprach er Weltbank und IWF, Spielregeln einzuhalten, und präsentierte den Senator Astori vom gemäßigten Flügel der FA (Asamblea Uruguay) als künftigen Wirtschaftsminister. Wer nicht eine unaufhaltbare Kapitalflucht in den vier Monaten zwischen Wahlsieg und Regierungsantritt provozieren und mit völlig leeren Kassen beginnen will, kann wohl kaum anders handeln.Tabaré hat das als „verantwortungsvollen Übergang“ bezeichnet. Und hat, wiewohl er die Einführung einer gestaffelten Einkommensteuer ankündigte, allerorts einen Vertrauensvorschuss erhalten. Wären jenen Herren sicherlich auch die alten willfährigen Regierungen lieber, so haben sie sich inzwischen mit dem, was vorerst nicht zu ändern war, abgefunden. Dabei mag die Erwartung mitspielen, dass mit der Eindämmung der traditionellen Korruption und Bürokratie die Produktion – und damit der Gewinn – steigt und der Schuldendienst eher geleistet werden kann.
Doch wie lange kann ein „Übergang“ dauern? Und was kommt danach? Denn auf der einen Seite stehen die langangestauten Forderungen auf wesentliche Lohnerhöhungen von Beschäftigten, die in zwei Jahren ein Drittel ihrer Einkommen verloren haben. Die Erwartungen an die „Wende“ sind enorm. Andererseits wären die in den nächs-ten Jahren fälligen Zahlungen für die auf 114 Prozent des Bruttosozialprodukts angestiegenen Schulden nur durch Streichungen von Ausgaben im Staatshaushalt oder durch neue Steuern, also auf Kosten von mehr Armut, zu begleichen. So wird es auch von der Gewerkschaftsbewegung (mit geringer Ausnahme) verstanden, wenn Tabaré Illusionen entgegentritt: „Wer Wunder erwartet, soll uns nicht wählen.“ Außer dem Notstandsprogramm für die Ärmsten werden wohl nur die schlecht bezahlten Berufe im staatlichen Sektor – LehrerInnen, Krankenhauspersonal, Gerichtsbeamte, Polizei – mit Reallohnerhöhungen rechnen können. In der Privatwirtschaft wird die Position der Gewerkschaften durch Wiedereinführung der Tarifräte, gesetzlichen Schutz vor Unternehmerrepressalien und einem neuen Arbeitsministerium gestärkt. Und der IWF weiß bereits, dass er sich zu Neuverhandlungen wird bequemen müssen.
In Anbetracht des geringen ökonomischen Gewichts seiner Wirtschaft wird es jedoch für Uruguay schwieriger als für Argentinien sein, außer Fälligkeitsverschiebungen einen partiellen Schuldenerlass zu erwirken. Im Bereich des Möglichen hingegen liegt es, die gewohnten Auflagen zurückzuweisen. Denn mit der Drosselung der öffentlichen Investition und der Kreditvergabe der staatlichen Banken wäre weder die Produktion anzukurbeln noch das Sozialprogramm der FA durchzuführen. Zum Glück steht ein fortschrittlich regiertes Uruguay den Treuhändern des internationalen Kapitals nicht alleine gegenüber. Als Tabaré im Rathaus von Montevideo dem diplomatischen Korps und internationalen Gästen die Außenpolitik der FA auseinander setzte, waren seine auf lateinamerikanische Gemeinsamkeit und MERCOSUR betonten Ausführungen vom beredten Einverständnis zweier großer Nachbarn flankiert: dem Oberbürgermeister von Buenos Aires, Aníbal Ibarra, in einer Linie mit dem Präsidenten Kirchner, und dem außenpolitischen Berater des brasilianischen Präsidenten Lula, Marco Aurelio García.
Tabaré kritisierte die einseitig auf die USA ausgerichtete Anti-MERCOSUR-Politik des uruguayischen Präsidenten Jorge Batlle. Das war es wohl, was daraufhin Außenminister Opperti dazu veranlasste, Protest gegen die Regierungen der beiden Nachbarländer wegen Einmischung in die uruguayische Wahlkampagne einzulegen. Denn noch kurz vor Toresschluss versuchte die Colorado-Regierung „faits accomplis“ zu schaffen, die die Handlungsfreiheit der neuen Linksregierung einschränken: einen Investitionsvertrag mit den USA, dessen Inhalt vor der Wahl zwar nicht bekannt war, von dem man aber annimmt, er enthalte die seinerzeit von der EU zurückgewiesenen Bedingungen des MAI. Diese befugen die transnationalen Investoren zu unumschränkter Herrschaft über Regierung und Staatsrecht. Damit einher geht die Genehmigung von Freihandelszonen für zwei europäische Zellulosefabriken, zwei Privathäfen, alle mit der Forstwirtschaft verquickt und alle wegen schwerer sozialer und ökologischer Folgen von der Bevölkerung abgelehnt, sowie die Auslagerung von wichtigen Abteilungen der Wasserversorgung, der staatlichen Altersversicherung und der Telekommunikation an private Betreiber. Dies und der Schuldenberg sind das negative Erbe für die neue Regierung. Ein wenig positiver ist, dass der Tiefpunkt der Bankenkrise von 2002 überwunden ist, der Export und das Bruttosozialprodukt gestiegen sind, die Arbeitslosigkeit von über 18 auf 13,6 Prozent gesunken ist. Dabei dürfte es sich freilich zumeist um schlecht bezahlte Arbeitsstellen handeln und um eine wirtschaftliche Besserung, die nur einem kleinen Teil der Gesellschaft zugute kommt.
Die Mehrheit merkt von diesem statistischen Aufschwung kaum etwas. Die Unterernährung der Kinder bleibt erschreckend, Schulen schließen wegen Baufälligkeit, Krankenhäuser schränken die Behandlungen wegen fehlender Medikamente und zu wenig Personal ein, die Versteigerungen verschuldeter landwirtschaftlicher Betriebe und die Räumung unbezahlbar gewordener Wohnungen hält weiter an. Entgegen dem neoliberalen Credo zeigt es sich, dass Wirtschaftswachstum längst nicht mehr Wohlstand für das Gros der Bevölkerung bedeutet. Das Neue an linker Regierungspolitik wird daher zuerst die Kombination von Wachstum mit Umverteilen nach unten sein. Dafür hat sie am 31. Oktober Kredit vom Volk bekommen. Dass dieser eingelöst wird, muss und wird wohl von Beginn an ersichtlich werden.
Verteilung der Listen EP-FA-NM
MPP (Tupamaros) 29,41%
Asamblea Uruguay 17,66%
Sozialisten 14,85%
Vertiente Artiguista 8,92%
Alianza Progresista 8,06%
Democracia Avanzada (KP) 6,15%
Nuevo Espacio 7,70%
26 de Marzo u.a. radikale Linke 3,46%