Jüdische Geschichten: Moacyr Scliar

Der 1937 in Porto Alegre geborene Moacyr Scliar gilt als die jüdische Stimme Brasiliens. Auch wenn es in dem Land andere AutorInnen jüdischer Abstammung gibt, allen voran Clarice Lispector, die wichtigste brasilianische Autorin im 20. Jahrhundert, steht nur bei Scliar die Auseinandersetzung mit dem Judentum, der jüdischen Geschichte und dem Antisemitismus im Zentrum seines Schreibens.

Moacyr Scliar verfasste zunächst vor allem Kurzgeschichten. Mit dem 1968 erschienenen Band O carnaval dos animais (Karneval der Tiere) wurde er in Brasilien bekannt. Leben konnte er wie fast alle brasilianischen AutorInnen vom Schreiben aber nie, sondern arbeitete immer als Arzt im öffentlichen Gesundheitswesen.

1973 veröffentlichte er seinen ersten Roman O exército de un homensó, der 1987 unter dem Titel „Die Ein-Mann-Armee“ auch auf Deutsch erschien. Als Stalin 1928 den sowjetischen Juden Birobidjan im äußersten Osten Sibirien als autonome Region zuweist, möchte der aus Polen nach Brasilien eingewanderte Jude Mayer Guinzburg in der Nähe von Porto Alegre ein „Novo Birobidjan“ errichten. Da sich seine wenigen menschlichen MitstreiterInnen nach kurzer Zeit zurückziehen, versucht Mayer Guinzburg seinen Traum eines Paradieses auf Erden mit dem Genossen Schwein, der Genossin Ziege und verschiedenen anderen tierischen GenossInnen zu verwirklichen. Ein wunderbar humorvolles Buch über linke Hoffnungen und Illusionen.

In O Centauro no Jardim, unter dem Titel „Der Zentaur im Garten“ 1985 bzw. 1988 in beiden deutschen Staaten erschienen, geht es um das Anderssein. Guedali kommt als Zentaur, halb Mensch halb Pferd, zur Welt. Um ihn vor den Ressentiments der Umwelt zu schützen, versuchen ihn seine Eltern zu verstecken und abzuschirmen. Doch Guedali möchte raus, leben wie die anderen. Dafür unterzieht er sich schließlich einer Operation, die ihn zu einem „normalen Menschen“ macht. Doch er spürt, dass er damit einen Teil seiner Persönlichkeit amputiert hat.

Im dritten übersetzten Roman A Estranha Nação de Rafael Mendes (dt. Das seltsame Volk des Rafael Mendes) taucht der Finanzmakler Rafael Mendes in einer Lebenskrise tief in seine Familiengeschichte ein. Er erfährt, dass er eine Nachfahre von nach 1497 zwangsgetaufen portugiesischen Juden ist, die auf der Flucht vor der Inquistion nach Brasilien gekommen waren. Der großartige Roman erzählt die Geschichte der brasilianischen Juden und berichtet nebenbei, wie Finanzkrisen im Kapitalismus gemacht und gehandhabt werden.

Scliar hat weitere Romane und Erzählungen veröffentlicht, darunter einen über die jüdischen Prostituierten in Brasilien (vgl. S. 12/13 in dieser ila), die aber leider nicht auf Deutsch vorliegen. Auch die drei übersetzten Romane sind derzeit nicht lieferbar, aber über www.zvab.com und www.amazon.de antiquarisch erhältlich.

– Die Ein-Mann-Armee, Übersetzung Karin von Schweder-Schreiner, Edition Weitbrecht, Stuttgart 1987; TB Suhrkamp, Frankfurt/M. 2000
– Der Zentaur im Garten, Übersetzung Karin von Schweder-Schreiner, Hoffmann und Campe, Hamburg 1985 & Volk und Welt, Berlin (DDR) 1988; TB rorroro, Reinbek 1989
– Das seltsame Volk des Rafael Mendes, Übersetzung Kurt Scharf, Edition Weitbrecht, Stuttgart 1989

Unter dem Titel „Humor als Waffe gegen die Verzweiflung“ ist in der ila 178 (Sept. 1994) ein längeres Interview mit Moacyr Scliar erschienen. Im gleichen Heft haben wir auch seine Kurzgeschichte „Das Ohr Van Goghs“ veröffentlicht.